Gesamtspieldauer

Kurzprosa zum Thema Vater/ Väter

von  Moja

Jedes Mal, wenn sie ihren Vater besucht, ist er ein bisschen geschrumpft. Seine Kopfhaut ist straffer gespannt über dem Schädel, ganz Kontur. Was ihn zusammenhält, nun schärfer umrissen, tritt stechend hart aus seinen Augen hervor: sein Lebenswille. Auf einmal fühlt sie sich neben ihm schwach.

Beim Kaffeetrinken sitzt sie auf dem Platz der Mutter, während er in kontrollierter Pose – einen Karton auf dem Schoß, in der Hand eine CD, einen Daumen auf der Spieldauer – ständig über seine Ordnung redet. Sie merkt, wie sein Blick sie unablässig taxiert. Von den Tiroler Musikanten erzählt er, als wären es seine Verwandten. Sie nickt ihm zu, sie lässt sich nicht anmerken, wie sehr sie sich langweilt. Er ist alt und krank, denkt sie, er soll sich nicht aufregen.

Schon schwindet sie, sitzt da ohne ihre Person. Doch er nimmt sich den nächsten Karton vor, erklärt bei welcher Lautstärke er die Musik abspielt. Sein Lautstärkeregler ist fest eingestellt. Er lobt ihre Musikgeschenke, sie sind akkurat, nie muss er die Einstellung verändern. Und warum muss es sie ärgern, bloß weil er seine Sammlung durchsieht? Nie war es anders zwischen ihnen. Doch ärgert sie, dass auch er sich mit ihr langweilt, wenn er die zweihundert Stück durchgeht. Aber was sie wirklich aufregt, ist, dass er Listen, Reihen und Rechnungen durchsieht und sie zwingen kann, ihm beizustehen, wenn er sich seiner Ordnung versichert. Darüber kann sie nicht mit ihm reden.

Wie viele Male, wie viele Jahre saß sie so trübsinnig neben ihm? Ganz kribblig wird ihr zumute, wenn er versessen Details bemisst, Teilstücke in Einzelheiten zerlegt, um Millimeter korrigiert. Sie sieht ihm an, wie ihn jede Abweichung verstört, auch bereitet das Zerkleinern ihm Lust. Aus der kleinsten Einheit gewinnt er Sicherheit. Erzählt sie von sich, unterbricht er sie. Er hört ihr nicht zu, während er eine CD nach der anderen betrachtet. Auf einen Titel zeigt er, so dass sie sich vorbeugen muss, um selbst nachzusehen, was da steht.

In ihr steigt etwas auf, bedrängt sie. Und wie schräg sein Sessel steht, stets sitzt er von ihr abgewandt. Nie hat er den Sessel auch nur um einen Zentimeter verrückt. Seit Jahrzehnten sitzt er mit dem Hintern drin, der Sessel gibt ihm Halt. Da brütet er hinterhältig, sagt ihre Schwester. Er hat keine Freunde. Er hat für niemanden etwas übrig, für ihn zählen Fakten und Akten. Und was die Akten im Schrank angeht, es sind alles Rechnungen, alte.

Einen tiefen Seufzer stößt er aus, weil eine CD keine Spieldauer aufweist. Penibel errechnet er die Gesamtspielzeit. Auch spürt sie, wie ihr Vater sie immer wieder neu zusammenzählt gleich unbedeutenden Posten, zu einer Nullsumme addiert. Einmal schon war seine Rechnung vollständig, ihre Endsumme bekannt. Sie genügte ihm nicht. Damals verließ sie ihn wortlos.

Wann hörte sie auf in seiner Gegenwart eine Person zu sein? Vor zehn Minuten? Bei ihrem Eintreten? Bereits auf der Fahrt zu ihm? Ihre Gedanken, Gefühle werden zufällig, ziellos irren sie herum. Sie stellt sich vor, wie sie gähnt, ihren Mund aufreißt weit wie ein Wal. CDs schluckt sie, Kartons, die ganze Schrankwand, das Zimmer, alles hinein in den müden Schlund. Ihn spuckt sie aus. Er schmeckt ihr nicht, wie sie so sitzt, ganz ohne sich und ihr die Sonne ins Gesicht scheint, sie blendet. Sie muss jetzt gehen, doch geht sie nicht. Die vorletzte CD hält er ihr vor, zittrig und zwingend. Sie schaut hin, sie lächelt nicht. Gleich ist sie ihn los, sagt sie sich. Sie wird sich nicht bewegen und bewegt sich nicht.

An ein altes Foto erinnert sie sich. Ihr Vater ist noch ein Kind, vor dem Weihnachtsbaum steht er, aufrecht mit klarem Blick. Sein jüngerer Bruder lehnt zart und schmal an der schwangeren Mutter, dünnhäutig sieht er aus. Der Krieg ist im Zimmer, im verdunkelten Fenster, im kummervollen Gesicht der Mutter.

Sie stellt sich ihren Vater als Kind vor. Vom Vater früh verlassen, er hat ihn nie kennengelernt, wendet sich sein Leben mit sieben. Die Mutter heiratet wieder. Der Krieg beginnt. Er ist noch immer sieben, als die Nazis den Stiefvater abholen und die Mutter zum Verhör. Mit der Angst bleibt er allein zurück und dem jüngeren Bruder. Die Angst hält ihn fest, sie ist alles, was er hat. Er darf sie nicht loslassen, damit die Mutter wiederkommt. An diesem Weihnachten 1939 wird er erwachsen.

Aus dem Konzentrationslager schreibt der Stiefvater Briefe an die Mutter und seinen ungeborenen Sohn. Die Briefe überdauern den Krieg. Sie liest die exakte Handschrift seiner Mutter, fein säuberlich abgesteckt, starr gesetzt wie eine Naht. Gezwungenermaßen willigt sie in die Scheidung ein. Sein Halbbruder wird geboren. Er muss nun auf zwei Geschwister aufpassen und auf die Mutter, die Tag und Nacht näht. Die Mutter hat weder Antwort noch Trost für ihn, sie hat Angst. Die Angst ist überall, der Krieg ist die Angst. Da hinein wird noch ein Halbbruder geboren. Ihr Vater ist ein Junge, der einen Erwachsenen spielen muss.

Der Stiefvater kommt nie wieder. Als die Mutter erfährt, wie er nach Kriegsende brutal erschlagen wird, dreht sie durch. Sie geht nicht mehr zur Arbeit, schließt die Kinder ein und verdunkelt die Fenster. Der Krieg bleibt ihr Gefängnis. Jeder Arzt ein Polizist, ein Wiedergänger, so redet sie, trennt eine Schürze auf und näht Puppenkleider daraus. Sie wird in die Irrenanstalt eingewiesen und die Halbbrüder ins Heim.

Darüber kann er nicht mir ihr sprechen. Der kleine Junge in ihm hat nur Bilder im Kopf in seiner gefährlichen Sprachlosigkeit. Bei jedem Klingeln an der Wohnungstür, jedem amtlichen Schreiben, erschrickt ihr Vater noch heute. Die Angst ist eine kleine harte Kapsel tief in ihm drin, sie ist sein Schrittmacher. Wie gefährlich, weil unbeherrschbar, nicht messbar, Gefühle für ihn sind. Wenn er nur alles richtig ordnet, kontrolliert, bis ins Kleinste durchdenkt, kann ihm nichts Schreckliches mehr geschehen. Er hortet und geizt, sortiert, richtet aus, sein ganzes Leben in Zahlen, Zentimetern, unter Zwang.

In diesen Kindheitsjahren muss die Antwort liegen, wer er geworden ist, redet sie sich ein. Und weiß doch nichts. Ruhig sitzt sie da, schaut zu, wie er Seiten umblättert. Es ist wie immer.

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(11.04.20)
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 unangepasste meinte dazu am 11.04.20:
Da kann ich mich nur anschließen!

 Moja antwortete darauf am 12.04.20:
Viele Jahre beschäftigte ich mich mit Familienrecherchen, besonders den Auswirkungen des Krieges auf die nachfolgenden Generationen, so entstand der Text, den ich immer wieder überarbeitete. Habt Dank fürs Lesen und Eure Kommentare!

Herzliche Grüße,
Moja

 AchterZwerg (12.04.20)
In sich perfekt abgerundet - ein Vorteil oder eine Morgengabe (ohne Rückgaberecht) aus dem Universum der Ordnungssuchenden.

:);-)

 Moja schrieb daraufhin am 12.04.20:
Ja, die Sucher und die vermeintliche Ordnung der Ordnung - und was dahinter steckt

Moja dankt & grüßt

 AvaLiam (13.04.20)
Liebe Moja...

...man spürt ganz deutlich, dass dies keine Geschichte aus der Feder eines Tages ist...

Die Worte und ihre Verbindungen sind stimmig mit der beschriebenen Ordnungs"liebe".

Kein Füllstoff. Kein Zuviel.
Und doch nichts was fehlt.

Es liest sich rund nimmt mit - in die Vergangenheit, den Krieg...lässt Ahnen von Kindheit und Werden und Bleiben.

...so perfekt, dass es noch authentisch ist...

Eine ganz tolle "Schilder"ung, plausibel, feinfühlig und lässt noch Raum für eigenes Denken und eigene Erfahrungen.

Meines Erachtens ein 5*-Text.
Hervor ragend.

bewundernde Grüße - Ava

 Moja äußerte darauf am 15.04.20:
Herzlichen Dank für Dein dickes Lob,
da bekomme ich ja rote Ohren
und grüße ganz verlegen zurück!

Moja
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