Monismus - Alleinheit - das Umgreifende

Referat zum Thema Mystik

von  Kleist

Herzlich willkommen bei meinem Vortrag, Ihr Anwesenden, liebe Internet-Gemeinde, liebe Mitlesende. Es geht um Monismus, es geht um Alleinheit, und – damit fange ich an – das Umgreifende.

  Das ist ein Ausdruck von Karl Jaspers, einem deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts (1883-1969). Am Ausgangspunkt stand die Frage „Was ist das Sein an sich“? Jaspers ist darauf gekommen, dass wir in der Betrachtung des Seins oder in der Betrachtung von was auch immer, immer eine Subjekt-Objekt-Spaltung haben. Das heißt: man macht sich als Mensch Gedanken über was auch immer, irgendein Thema, hat dann dieses Thema als Objekt und sich selbst als das Subjekt, das sich Gedanken darüber macht, darauf bezieht, es betrachtet und sich in irgendein Verhältnis dazu setzt.
  Selbst, wenn ich über mich selbst nachdenke, bin ich in dem Moment gleichzeitig das Subjekt, weil ich darüber nachdenke, und das Objekt, weil ich derjenige bin, über den nachgedacht wird. Wir haben hier also immer diese Subjekt-Objekt-Spaltung.
  Und jetzt ist die frage, wie wir das überwinden können, um zum Sein an sich zu kommen. Und da führt Jaspers den Begriff des Umgreifenden ein. Das ist alles Seiende – und zwar nicht in dem Sinn, dass wir es irgendwie betrachten, also zum Objekt machen können - sondern so, dass es keine Grenze mehr gibt zwischen uns und diesem Seienden. Also wir merken schon: da begeben wir uns in den Bereich der Mystik. Das hat Jaspers auch so benannt. Hier noch ein Zitat von Jaspers aus seiner „Einführung in die Philosophie“:

  „Die Grundoperation, mit der wir uns denkend über alles Gedachte hinausschwingen, ist vielleicht nicht schwierig, aber doch so fremdartig, weil sie nicht die Erkenntnis eines neuen Gegenstandes bedeutet, der dann fasslich wird, sondern mit Hilfe des Gedankens eine Verwandlung unseres Seinsbewusstseins bewirken möchte.“

  Also es ist ein anderes Bewusstsein, das wir vom Sein haben, wenn wir in dieses Bewusstsein des Umgreifenden kommen und diese Grenze zwischen Subjekt und Objekt überwinden – als ein Schritt hinein in einem mystischen Bewusstseinszustand.
  Kritisieren könnte man denke ich, ob es reicht, einfach nur in Gedanken diesen Schritt zu vollführen – ob das ausreichend ist, um da wirklich anzukommen. Dass muss letztlich jede_r für sich selbst erfahren – oder eben nicht erfahren.

  Der zweite Denker, auf den ich hier in diesem Zusammenhang komme, ist Husain Ibn Mansur Al-Halladsch (gest. 922), das ist ein persisch-irakischer Mystiker aus dem 9. und 10. Jahrhundert, der zur Tradition der Sufis gehört. Und das Schlagwort, das bei ihm im dem Zusammenhang, den ich besprechen möchte, wichtig ist, lautet Tauhīd. Das ist ein Begriff aus dem Islam und bedeutet eigentlich „die Einheit Gottes“, oder „das Bekenntnis der Einheit Gottes“. Vielleicht kennt Ihr den ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott“ (in Arabisch etwa „Hescheddu el-leh-il-lehe il-Allah“). Das ist genau dieses Tauhid: zu sagen: es gibt nur einen Gott, und Gott ist einer und nur einer – d.h. es gibt neben ihm keinen Gott, und, die Sufis führen das weiter, und sagen: es gibt neben ihm überhaupt nichts. Beziehungsweise: wenn es neben ihm nichts gibt, dann gehört das Nichts eigentlich auch noch zu ihm. Dazu eine Anekdote über Halladsch:

  Abdul Wadud Ibn Said Ibn Abd Al-Ghani sagte: „Ich trat bei Halladsch ein und sagte zu ihm: ‚Gib mir einen Hinweis auf das Einheitsbekenntnis!‘ Er sprach: ‚Das Einheitsbekenntnis liegt außerhalb der Worte, so dass du es aussprechen könntest.‘ Ich sagte: ‚Was bedeutet denn >Es gibt keinen Gott außer Gott<?‘ Er sprach: ‚Ein Wort, mit dem er das gewöhnliche Volk beschäftigt, damit sie nicht mit den wahren Einheitsbekennern vermischt werden. Das ist die Erläuterung des Einheitsbekenntnisses von jenseits des Religionsgesetzes.‘ Dann färbten sich seine Wangen rot und er sprach: ‚Soll ich es dir kurz zusammenfassen?‘ Ich sagte ‚Ja.‘ - Er sprach: ‚Wer behauptet, er erkläre Gott als einen, der hat ihm bereits etwas zugesellt.‘

  Das ist so gemeint, dass wenn ich Gott (z.B im Sinne des Tauhīd als einen) bekenne, schaffe ich in dem Moment eine Trennung zwischen Gott, den ich bekenne, und mir, der Gott bekennt. Also schaffe ich eine Zweiheit – da ist nicht mehr die Eins. Und das bezeichnet Halladsch dann schon als Gotteslästerung. Gotteslästerung, da es im Islam eine schwere Sünde darstellt, irgendetwas (vorzugsweise andere Gottheiten) neben den einzigen Gott zu stellen. Das wird als Shirk oder Beigesellung bezeichnet und ist zum Beispiel ein häufiger Vorwurf an die Christen.
  Wir haben hier also, wie mit der Subjekt-Objekt-Spaltung, die bei Jaspers ins Umgreifende geführt wird, bei Halladsch etwas sehr Ähnliches mit dem Begriff Gott oder Allah.

  Insgesamt geht es mir darum, das mal anhand von diesen beiden Denkern, die es schöner ausdrücken können als ich, zu präsentieren: die Alleinheit als eine Möglichkeit, die Welt oder die Realität zu erleben – und ich würde sagen: es ist genauso wie diese Subjekt-Objekt-Spaltung oder das alltägliche begriffliche Denken, das wir haben, eine legitime Art und Weise die Welt zu betrachten – dieses Einheitsempfinden oder Einheitserleben ist genau so, oder vielleicht noch viel mehr, eine völlig gültige und funktionierende Art, sich in der Realität zu bewegen und sich auf sie zu beziehen. Ich würde sagen: sie ist sogar reiner, wahrer und klarer als das, was wir üblicherweise im Alltag erleben.
 
  Man hat vielleicht erst nur in kurzen Gipfelerfahrungen die Möglichkeit, in dieses Einheitserleben hineinzukommen – vielleicht, indem man einem philosophischen Gedanken folgt, vielleicht in besonderen Momenten in der Natur, in der Liebe oder worin auch immer – aber ich denke, es ist auch möglich, wenn auch vielleicht nicht dauerhaft, sich diese Realitätswahrnehmung als einigermaßen normal zu eigen zu machen. Einerseits vielleicht durch das Philosophieren, indem man sich darauf bezieht, und, wie Jaspers es sagt „aus dem Umgreifenden heraus philosophiert“, es also zum Kern der eigenen Philosophie macht – und dann vielleicht durch Techniken wie Meditation, von der es ja tausend Techniken, Schulen und Abarten gibt, wobei die eine oder andere sicher eine gute Methode darstellt, das Einheitserleben in den Alltag zu integrieren.

  Und als letztes möchte ich noch einen konkreten Nutzen dieser ganzen Sache anmerken: Einheitserleben bringt einem sicherlich eine bereichernde Perspektive auf die Realität, aber ich denke, wo es wirklich von Nutzen sein kann, ist die Konfrontation mit dem Tod und der Angst vor dem Tod. Denn wenn ich mich und die ganze Realität als eins erfahre, und das auch wirklich zum Erleben wird, dann brauche ich nicht mehr in dem Maße Angst davor zu haben, dass dieser kleine Körper, der dieses Ich ausmacht, irgendwann verschwindet – weil ich mich in dem Alleinen gegründet fühle und mich als Manifestation des Alleinen erlebe.

Das ist vielleicht ein gutes Schlusswort. Wir machen gleich noch eine Fragerunde. Wir, das ist der Philosophierendenzirkel, der sich etwa monatlich hier trifft.


Wir haben jetzt eine Frage, die auch gleich kommt. Aber davor gibt es noch etwas zu sagen zu Halladsch: Hier ist ja nur sein Todesdatum angegeben (922 n. Chr.). Er ist in Bagdad wegen Gotteslästerung hingerichtet worden. Er hatte nämlich gesagt: „Ich bin die höchste Wahrheit“, bzw. „Ich bin Gott“ („Ana‘l Haqq“ oder so ähnlich – Haqq bedeutet „höchste Wahrheit“ und ist einer der 99 Namen Gottes). Er hatte das so begründet, dass Gott in dem Moment durch ihn gesprochen und seine eigene Einheit durch ihn bekannt habe.

Dazu haben wir jetzt eine Frage;

H. (Mitglied des Philosophierendenzirkels): Es ist ja nicht nur in diesem Fall bei Halladsch so, dass Menschen von sich sagen „Ich bin Gott“, sondern das trifft man hin und wieder mal in Gesprächen. Und da wäre die Frage: ist das jetzt eine gesunde Einstellung im Sinne des Tauhīd – oder sollte man da eher von einer religiösen Psychose ausgehen?

(Telefonstörung im Video)

Antwort: Ich kann hier keine gelehrten Ausführungen über den Islam darbringen, damit kenne ich mich zu wenig aus. Aber mit psychischer Krankheit und Religion kenne ich mich durch eigene Erfahrung aus, und da muss ich sagen: das ist, wenn ich nur den einen Satz „Ich bin Gott!“ habe, wirklich schwer zu beurteilen: Was steckt dahinten? Ich würde sagen: es kommt darauf an, ob ein Mensch mit dieser Einstellung, mit dieser Sichtweise, diesem Erleben noch gut lebensfähig ist, liebesfähig ist, ob man es schafft, ein liebevolles Verhältnis zu seinen Mitmenschen zu haben, tolerant zu sein, seinen Alltag geregelt zu kriegen – all das entscheidet darüber, ob ich sagen kann: diese Religiosität ermöglicht mir ein gesundes Leben.
  Oder es handelt sich um eine Psychose oder etwas in der Art, wo ich die Religiosität auf die Art lebe, dass ich eben überhaupt nicht mehr lebensfähig bin. Dass ich anderen Menschen schade, mir selbst schade, meinen Alltag nicht mehr hinkriege, dass ich sehr ungesund lebe und in den Moment dieses „Ich bin Gott!“ vielleicht ein Ausdruck von Größenwahn ist.
  Vielleicht können wir da zurückkommen zu Halladsch, der ja auch sagte, Gott spricht durch ihn – und es ist ein inspirierter Moment, der die anderen nicht ausschließt und jedem Anderen zugestehen würde, Gott durch sich sprechen zu lassen. Oder man sagt das eben in einem absoluten Sinne: „Ich bin Gott – und nur ich.“ und habe damit dann die Macht über die Anderen oder eine ganz herausgehobene Position. Und ab so einem Punkt wird es dann wahrscheinlich ziemlich ungesund.


Anmerkung von Kleist:

Dies ist die Transkription eines im Herbst 2017 im Philosophierendenzirkel gehaltenen Kurzreferats. Der Videomitschnitt, auf dem sie basiert, findet sich hier:

https://www.youtube.com/watch?v=OwKU5Qgo2jg

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Kommentare zu diesem Text


 Teichhüpfer (13.01.21)
Auf die Frage nach Gott, Mensch geworden, Mensch sein, die Antwort kann beliebig werden, ich bin ich ..

 Kleist meinte dazu am 17.01.21:
Ich glaube: nicht ganz beliebig - aber doch zumindest sehr vielseitig.

Meister Eckhart sagte mal sinngemäß: "Gott ist in Christus Mensch geworden, damit er in uns allen Mensch werde."

Trotzdem war es letztlich auch die in diesem Text artikulierte Erkenntnis, die mich dann aus dem Christentum hinauskatapultiert hat.

 Teichhüpfer antwortete darauf am 17.01.21:
Es war nach leeren Grab, Chaos. Das konnte nur durch die Gründung des kirchlichen Vereins gestoppt werden. Jeder Versuch, das leere Grab zu widerlegen, ist bei denen gescheitert.

 Kleist schrieb daraufhin am 18.01.21:
Die paulinische Kreuzes- und Auferstehungstheologie betrachte ich trotzdem als eine sehr abenteuerliche.

Oder glaubst Du tatsächlich, dass Jesus auferstanden ist, wie wir alle dereinst auferstehen werden, damit diejenigen, die genau daran glauben, dann zum ewigen Leben auferstehen, alle anderen aber zu ewiger Verdammnis bzw. zur Vernichtung?

 Teichhüpfer äußerte darauf am 18.01.21:
Eben, das Jesus auferstanden ist, das andere nicht.

 Kleist ergänzte dazu am 20.01.21:
Na immerhin.

 LotharAtzert (13.01.21)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 14.01.2021 um 14:04 Uhr wieder zurückgezogen.

 Kleist meinte dazu am 17.01.21:
Da hat anscheinend endlich mal jemand meinen Text verstanden (worauf ich seit Jahren warte) - und dann zieht er seinen Kommentar zurück!

Ich verstehe schon: die esoterische Arroganzfalle - lauert natürlich auch bei mir.

Tashi Delek ebenso.

 loslosch meinte dazu am 17.01.21:
du hast nicht den grund des rückzugs verstanden. ich schon!

 LotharAtzert meinte dazu am 17.01.21:
@ loslosch

Na da bin ich jetzt aber mal neugierig.

 LotharAtzert meinte dazu am 18.01.21:
Gut, dann will ich es selbst sagen:
"Da hat anscheinend endlich mal jemand meinen Text verstanden (worauf ich seit Jahren warte) - und dann zieht er seinen Kommentar zurück! "
- diese Worte könnten genau so von mir sein, geht es mir doch, nicht bloß auf kV, ganz ähnlich. Seit Jahr und Tag poste ich mystisch/spirituelle Texte hier, ohne bemerkenswerte Resonanz - oder, was nicht besser ist, ihr Autor wird verhöhnt ob seiner "merkwürdigen Ansichten" oder, oder … während Blümchendichter sich feiern. Das "worauf ich seit Jahren warte" - man veröffentlicht Perlen (die Säue erspar ich mir) und da stehen sie dann und das war's.

Jetzt war das nur ein Kommentar - ich löschte ihn aber genau deswegen - bedingt durch die Vielzahl vorangehender Frustrationen: es war für mich nicht mehr davon auszugehen, nach Ablauf von ca. 20 Stunden noch eine Antwort zu bekommen und weil ich nicht überall meinen Senf sinnlos hinterlassen möchte … im Nachhinein tut mir diese emotionale Handlung natürlich leid. Aber, Mister Kleist, verzeih' mir, es geschah nur aus dem jetzt hoffentlich verständlicheren Grund und wird nicht wieder vorkommen. Ich mag diesen deinen Text wirklich sehr!

Gruß
Lothar

 Kleist meinte dazu am 20.01.21:
Natürlich verzeihe ich Dir, mein Sohn.

Ego te absolvo a peccatis tuis.

 loslosch (13.01.21)
die augen mancher leser huschen über die überschrift und erfassen allein-heit, wo doch all-ein-heit gemeint ist. während der lektüre dachte ich an den pantheismus. und siehe da, er fehlt!

 hier.

 Kleist meinte dazu am 17.01.21:
Wieso fehlt er? Der Pantheismus ist doch die ganze Zeit eine der Perspektiven, aus denen der Text gelesen werden kann - auch, wenn er nicht explizit genannt wird.

 loslosch meinte dazu am 17.01.21:
natürlich. aber du hieltest einen einführungskurs. da fehlt halt die begrifflichkeit. der link macht es überdeutlich.

 Kleist meinte dazu am 18.01.21:
Das war kein "Einführungskurs". Das war ein Vortrag in einer Philosophiegruppe über ein Thema, das mir wichtig war.

Der Text richtet sich eher an philosophisch vorgebildetes Publikum. Da muss ich nicht jeden Begriff erklären.

... jetzt mal abgesehen davon, dass man die Begriffe heutzutage sehr einfach im Netz nachschlagen kann, wenn man sie nicht kennt.

Antwort geändert am 20.01.2021 um 10:45 Uhr
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