Paßt doch!

Kurzgeschichte zum Thema Konsum

von  Buchstabenkrieger

Passt doch!

Tina bürstet sich durch das feuchte Haar, als ihr Handy summt. Sie hört die Sprachnachricht ab. „Hi Süße. Boah, die haben ja ein scheiß Wetter angesagt und Bernd hat den Wagen. Sorry, aber zu Fuß oder mit dem Rad … zu ungemütlich. Und die Öffentlichen sind mir zu voll. Lass uns das verschieben auf nächste Woche, ja? Bussi!“
Tina stellt sich ans Fenster, beäugt misstrauisch den Himmel. Blaue Wolken. So ein Unsinn. Seufzend tippt sie: „Okay. Wir telefonieren.“
Schade, hat sie sich doch so auf Frühstück und Klönen gefreut. Ein bisschen hungrig ist sie auch schon. Aber sie hat noch nicht mal eine Scheibe Brot im Haus. Ihre Freundin wollte ja alles mitbringen!

Sie schnürt den Morgenmantel fest zu und zieht die Kapuze über. Schlüpft in die Pantoffeln, öffnet die Haustür und fischt die Tageszeitung aus dem Briefkasten. Solange das Haar an der Luft trocknet, kann sie einen Blick hineinwerfen und sich später in aller Ruhe ums Frühstück kümmern.
„Hm“, stutzt sie, als sie eine Benachrichtigungskarte findet. Wir kommen wieder am … Wie morgen? Morgen ist sie nicht da. Und überhaupt war sie die ganze Zeit zu Hause!
Da auf der anderen Straßenseite steht ja der Hermes-Wagen! Wenn sie Glück hat, erreicht sie ihn noch.

Tina schaut sich kurz um. Kein Mensch unterwegs, die Nachbarn auf der Arbeit, die Kinder in der Schule. Was soll’s, wenn sie den Müll ab und an im Morgenmantel vor die Tür bringt, kann sie das eine Mal auch zehn Meter weiter laufen. Hastig überquert sie die Straße, sieht den Fahrer einsteigen und losfahren. Sie ruft und winkt mit der blauen Karte, der Wagen hält einige Häuser weiter wieder an.
Den kriegt sie! Jetzt läuft sie los, verliert einen Pantoffel, winkt erneut und erreicht den Wagen, nachdem der Fahrer wieder eingestiegen ist. Sie klopft an der zugeklebten Rückscheibe, aber der Wagen rollt weiter! Fluchend schmeißt sie den verbliebenden Pantoffel hinterher, streckt beide Zeigefinger in die Luft und folgt dem Wagen auf nackten Sohlen. Ihr Morgenmantel flattert, die Kapuze verrutscht.
Eine Passantin hält ihrem Kind die Augen zu. Aus einem entgegenkommenden Bus starren Leute durch die Scheibe. Tina zieht sich die Kapuze tiefer ins Gesicht.
Puh, denkt sie, als das Auto hundert Meter entfernt vor einer Ampel stoppt, von der sie weiß, dass die Rotphase lang anhält.
Sie kommt immer näher. Nassgeschwitzt und atemlos stellt sie sich schließlich vor dem Wagen und streckt die Hände aus, als wollte sie ihn am Weiterfahren hindern. Ein Fußgänger ist stehen geblieben, zückt sein Handy, filmt. Der Fahrer macht große Augen, hupt, fuchtelt wild herum. Die Scheibenwischer gehen an, Tina rückt die Kapuze gerade und schnürt den Gurt des Morgenmantels zu.
Die Ampel springt auf Grün. Der Fahrer kurbelt an der Scheibe. „Aus dem Weg! Ich hab’s eilig!“
Sie kommt herum und keift: „Das hab ich gemerkt! Deswegen schellen Sie auch nicht an! Verteilen nur Zettel!“
Er beäugt sie von oben nach unten an. „Was wollen Sie eigentlich?“
Sie hält ihm die Karte hin. „Ich will nur mein Paket! Los, her damit!“
Der Fahrer runzelt die Stirn. Als das Hupen hinter ihm schlimmer wird, schaltet er die Warnblinkanlage an, schnappt sich die Karte und steigt aus.
Der Passant mit dem Handy und Tina folgen ihm zur Beifahrerseite, wo er die große Schiebetür öffnet. Während er im Paketstapel nach der richtigen Sendung sucht, dabei jeden Adressaufkleber mit den Angaben auf der Karte abgleicht, hat sich auf dem Bürgersteig eine Menschenmenge versammelt. Der Mann mit dem Handy stellt sich abseits, um alles ins Bild zu bekommen.
Rufe schallen herüber. „Ja, Sauerei! Mir werfen Sie auch nur Zettel in den Briefkasten, obwohl ich den ganzen Tag anwesend bin!“ – „Richtig so! Würde ich mir auch nicht gefallen lassen!“ Dazwischen immer wieder Buh-Rufe und Pfeifen.
Der Hermes-Fahrer steckt den Kopf heraus. „Ist ja gut! Ich suche ja schon!“ Die zwei Autofahrerinnen, die vorher gehupt haben, steigen aus, gesellen sich zu Tina und blicken auf den Stapel. „Da ist bestimmt auch meins bei!“, ruft eine von ihnen. „Hedwig Schlöppel, Günser Straße 20!“
„In der Straße war ich heute noch gar nicht“, hört man den Paketmann gedämpft aus der hinteren Ecke rufen, während er weiter die Aufkleber kontrolliert.
Ein Passant löst sich aus dem Menschengewühl, kommt näher, stellt den Fuß auf die Ladefläche und ruft: „Und wo ist meins? Ich hab heute auch so ne Karte bekommen!“ Ihm gelingt es, sich an den anderen vorbeizuquetschen und ins Auto zu steigen. „Das muss ungefähr so groß sein. Eine Carrerabahn“, sagt er und hält die Hände auseinander.
„Stellen Sie sich hinten an!“, schimpft Tina und reißt dem Mann an der Jacke. Der Fahrer dreht sich um, schaut in mehrere Handys, die auf ihn gerichtet sind. „Jetzt ist aber gut! Verlassen Sie sofort mein Auto!“ Kaum hat er es ausgesprochen, dringen drei weitere Passanten ins Fahrzeuginnere, kippen im Gedränge die Stapel um und wühlen sich auf Knien durch die Sendungen. Kartons werden zerdrückt, hinten scheppert es in einem Paket mit einem Vorsicht zerbrechlich!-Aufkleber.
Mittlerweile ist das Auto umzingelt. Ein älter Herr stellt seinen Rollator ab, humpelt heran und ruft: „Und ich kann jedesmal für meine Frau mit dem Bus zur Paketstation in die Stadt fahren, da wir angeblich nie anzutreffen sind! Zwei Stunden bin ich dafür unterwegs!“ Unentwegt schlägt er mit seinem Gehstock gegen die Karosserie. Drei junge Männer stoßen hinzu. „Ich warte schon seit Monaten auf meine Playstation!“, ruft einer von ihnen und fängt an, am Fahrzeug zu wippen. Die beiden anderen nehmen den Takt auf, zusammen versuchen mittlerweile ein Halbes Dutzend Passanten, das Fahrzeug zum Schaukeln zu bringen. „Aufhören!“, schallt es heraus. „Ihr macht noch mehr Durcheinander! Ich kann meine Carrerabahn sonst nie finden!“
Auf der Gegenspur rollen Autos im Schritttempo vorbei, die Fahrer gaffen neugierig durch die Scheiben. Ein DHL-Transporter hält am Stauende, wendet umständlich auf dem Bürgersteig, Leute springen zur Seite, eine Frau schiebt ihren Kinderwagen weg. „Da ist noch so einer!“, ruft jemand und läuft dem gelben Auto hinterher, das mit quietschenden Reifen die Flucht ergreift. Zwei weitere Männer nehmen ebenfalls die Verfolgung auf, bleiben nach hundert Metern völlig erschöpft stehen und kehren zurück, wo sie Applaus erwartet.
Der Applaus wird frenetisch, als Tina endlich ihr Paket wie eine Trophäe in die Höhe hält und durch das Spalier hochgereckter Arme schreitet. Schulterklopfen, Selfies. Tina genießt das Bad in der Menge.

Langsam trabt sie zurück, dreht sich um, sieht zwei Leute mit Paketen fortlaufen, findet einen Pantoffel. Die Geräuschkulisse nimmt ab; aus der Ferne ist ein Martinshorn zu hören. Sie eilt um die Ecke und stellt sich ganz nah an die Hauswand. Sie will den Morgenmantel schließen und bemerkt, dass sie den Gürtel verloren hat und vergräbt sich unter der Kapuze. Als die Sirenen verstummen, geht sie weiter. Das Paket klemmt sie unter dem Arm, mit der anderen Hand hält sie den Morgenmantel eng zusammen.
Da kommt ihr ein schrecklicher Gedanke: hat sie ihren Hausschlüssel dabei? Panisch tastet sie die beiden Seitentaschen ab.

Zehn Minuten später kauert sich Tina mit der Zeitung auf dem Treppenabsatz ihrer Nachbarin. Ihr hat sie einen Reserveschlüssel anvertraut. Weit kann sie nicht sein, steht doch das Küchenfenster auf kipp.
Nach einer gefühlten halben Stunde hat Tina die Zeitung ausgelesen und legt sie beiseite. Sie friert, die Haare und der Schweiß sind schon getrocknet. Da sieht sie eine gebrechliche Dame mit zwei Einkaufstaschen die Straße hochkommen. Frau Bramscheid! Endlich.

Die Alte schaut verdutzt drein, als Tina ihr zuwinkt, und lässt die Tüten fallen. Äpfel rollen heraus, ein Kohlkopf und Zitronen. Tina geht ihr entgegen und hebt alles auf. „Ich bin’s, Tina, von nebenan.“
„Ach, Sie sind es.“ Frau Bramscheid pustet aus. „Ich hab Sie gar nicht erkannt.“
„Ich trage jetzt Blond“, sagt Tina und wühlt sich durchs Haar. „Der Schlüssel. Ich habe ihn stecken lassen und komme nicht mehr rein.“
„Ja, was machen Sie auch draußen im Bademantel?“
„Eine lange Geschichte. Ich …“, sie schaut sich um, „ich wollte nur die Zeitung reinholen.“
„Stellen Sie die Einkäufe bitte hier im Flur ab!“ Dann sagt die Alte: „Würde es Ihnen was ausmachen, hier im Flur zu warten? Ich komme sofort wieder. Soll ich Ihnen ein Handtuch bringen oder eine heiße Schokolade machen?“
„Danke, geht schon.“
Tina sieht, wie die Alte noch im Mantel und mit Hut durch die Wohnung schwirrt, und hört, wie im Hintergrund Schubladen und Schränke geöffnet und wieder geschlossen werden. „Ich hab ihn gleich. Ich hab ihn gleich“, wiederholt Frau Bramscheid mantraartig.

Nachdem Tina erneut geduscht, die Füße mit Schmerzsalbe eingerieben, sich fertig angezogen und geschminkt hat, überlegt sie, wie sie ihrer Nachbarin zur Wiedergutmachung für die Nachbarschaftshilfe und Umstände eine kleine Freude bereiten kann. Eine Schachtel Pralinen, vielleicht einen Blumenstrauß, ein Schwedenrätsel-Magazin.
Doch da kümmert die sich später drum. Jetzt ist erst mal das Paket dran. Das muss die dicke, teure Kapuzenjacke sein, die sie vorsorglich für kalte, fiese Wintertage bestellt hat.
Beim Öffnen des Kartons reißt sich an einem Falz den Fingernagel ein. Auch das noch! Als hätte der Tag nicht schon gut genug angefangen. Nachdem sie sich den Nagel gefeilt hat, befreit sie die Jacke aus der Tüte; mehrere Papiere und Unterlagen purzeln auf den Boden. Sie probiert das gute Stück an. Verdammt! Die Ärmel sind viel zu lang, die Farbe nicht wie online abgebildet. Geht gar nicht!
Was soll’s? Zurücksenden soll heutzutage so einfach sein. Sie packt die Jacke wieder ordentlich ein, hebt den Papierkram auf, füllt den Retourenzettel aus, legt ihn hinein, umschließt den Karton mit Tesafilm und klebt den Rücksendeaufkleber aufs Paket. Ihr fällt ein, wo sie zuletzt eine Hermes-Paketstation gesehen hat. Nur ein paar Straßen weiter. In der Nähe des Bäckers, wo sie sich direkt ein paar frische Brötchen besorgen kann. Und ein Stück weiter befindet sich ein guter Metzger. Dann zaubert sie sich halt selbst ein schönes Frühstück!

Sie schaut erneut aus dem Fenster, zieht sich eine leichte Strickjacke über die Bluse und steckt das Handy ein. Das Batteriesymbol ist rot – kein Problem, sie ist ja nur ein paar Minuten unterwegs.
Als sie ein paar Minuten später den Kiosk erreicht, stöhnt sie. Die Rollladen sind heruntergelassen und mit Graffiti beschmiert. Nirgendwo Angaben über Öffnungszeiten. Auf dem Handy schaut sie nach der nächsten Paketstation. Knapp sieben Kilometer; eine Gegend, in der sie sich nicht auskennt. Zu Fuß zu weit, die Füße schmerzen sowieso noch. Da ist sie verhungert, bevor sie zu Hause ankommt.
Kurzentschlossen macht sie kehrt und holt ihr Fahrrad aus der Garage, steckt das Handy auf die Halterung am Lenker und das Paket in den Drahtkorb. Für das Auto ist die Strecke wirklich zu kurz. Sie regt sich ja selbst immer auf, wenn die Nachbarn mit ihrem SUV Brötchen holen. Sie startet Google Maps und radelt los.

Das Wetter wird schlechter. Ein Wind weht auf.
Auf halber Strecke, zwischen Maisfeld und Acker, gibt der Handyakku seinen Geist auf. Unbeirrt radelt sie weiter, stößt schließlich auf einen begehbaren Kiosk mit Café, der leider kein Hermes, sondern DHL anbietet.
Mit einem „Hallo“ tritt sie ein und bleibt an der Theke stehen, hinter der ein älterer Mann steht. Er hat seinen Strickpulli in die Cordhose gestopft, darüber trägt er Hosenträger. Ungerührt blättert er eifrig in einer Zeitschrift weiter.
Glücklicherweise kann sie sich noch an die Adresse erinnern. „Wissen Sie, wie ich zur Brunhilde-von-Stein… Steinwehr-Straße 13 b komme?“
„Bitte?“ Erschrocken blickt er auf, klappt das Magazin zu und lässt es unter der Theke verschwinden. „Moment.“ Er nestelt an seinem Hörgerät, für kurze Zeit gibt es ein pfeifendes Geräusch von sich. „Nö, tut mir leid, nie gehört“, antwortet er knapp.
Tina blickt auf die Zeitschriftenauslage. „Sie haben nicht zufälligerweise Karten? Faltpläne?"
Schmunzelt zupft er an den Hosenträgern. „Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, junge Frau. Da hätten Sie fuffzehn Jahre eher kommen müssen.“
„Wissen Sie, mein Handy ist leer und …“
„Warum sagen Sie das nicht gleich?“, empört er sich. Aus dem unteren Regal hinter sich wuchtet er einen Karton auf den Tresen und öffnet den Deckel. Ein Stapel vergilbter und abgegriffener Erotikmagazine kommt zum Vorschein. Der Alte setzt sich die Brille auf. „Das ist die falsche Box.“ Schnell schließt er den Karton, stellt ihn zurück, legt eine alte Wolldecke drüber und kramt eine Kiste hervor, zu Tinas wiederholter Verblüffung randvoll mit Kabeln, Steckern und Adaptern gefüllt.
Er hält ihr ein Kabel nach dem anderen vor die Nase. „USB C, Micro-USB, Lightning? Oder Induktion …?“
Tina holt ihr Handy aus der Tasche.
„Ah, iPhone 11. Induktion. Geben Sie mal her! Möchten Sie solange einen Kaffee?“
Sie reicht ihm das Smartphone und schaut sich um. Drei runde Holztische stehen im kleinen Raum verteilt, wohl zusammengeklaubt aus alten Spelunken. Mit spitzen Fingern zieht sie einen Stuhl hervor, wischt mit dem Ellenbogen über die Sitzfläche und setzt sich an den Rand.
„Schwarz, Zucker, Milch, Süßstoff?“, fragt er und zupft bei jedem Wort an den Hosenträgern. „And’ren Gästen den Platz wegnehmen geht nämlich nich!“, knurrt er.
Sie schaut hinaus. Es hat angefangen zu nieseln. Weit und breit keine Möglichkeit zum Unterstellen. Widerwillig setzt sie sich wieder hin. „Schwarz.“
Als er den Kaffee vor Tina abstellt, knurrt ihr Magen. Er muss es gehört haben, lächelt. „Brötchen? Salami, Käse, Schinken, Mett?“ Er schätzt sie unter seiner Brille ab.
Tina blickt durch das fettige Glas der kleinen Kühltheke und runzelt die Stirn. „Haben Sie auch was Eingepacktes? Solch ein Sandwich wie im Supermarkt zum Beispiel?“
„Nö, nur das!“
„Käse, bitte!“ Wohl das kleinste Übel.
Sie wischt verblasste Lippenstiftreste vom Tassenrand und nippt am Kaffee. Bitter und lauwarm. Der Alte serviert das Brötchen auf einem Pappteller. Hält es dabei mit seinem riesigen vergilbten Daumen fest. „Macht fünf Euro.“
„Wie?“, echauffiert sie sich und kramt Geld aus dem Portemonnaie. Sie schaut hinüber zum Zeitschriftenregal. „Geben Sie mir bitte noch drei von den Rätselheften. Die dicken Sammelbände da!“

Eine Viertelstunde später steigt sie aufs Rad, öffnet Google Maps. Das neue Ziel liegt sechs Minuten entfernt. Das Handydisplay beschlägt; Feuchtigkeit perlt ab. Tina friert, sie knöpft die dünne Jacke bis zum Hals zu.
Die Strecke geht bergauf. Das Käsebrötchen kommt ihr hoch. Es herrscht Gegenwind. Sie rülpst.

Nach zehn Minuten kommt sie an, stellt das Rad ab, holt das Paket aus dem Drahtkorb und betritt das Geschäft. Ein alter Tante-Emma-Laden, Relikt aus vergangenen Zeiten. Holzregale mit Lebensmitteln, Dingen des täglichen Bedarfs; etwas Kleidung, Spielzeug.
„Guten Tag“, sagt die Frau im Strickpullover an der Kasse. Sie nimmt das Paket entgegen, scannt es. Es macht ‚mööp‘.
„Stimmt was nicht?“, fragt Tina. „Versuchen Sie es noch mal!“
Die Frau scannt erneut. Es macht ‚mööp‘.
„Das kann doch wohl nicht wahr sein“, japst Tina. „Geben Sie mal her!“ Sie tritt näher und entreißt der Frau den Scanner. ‚Mööp, mööp‘.
„Heh!“, entrüstet sich die Frau.
„Ist der Scanner vielleicht kaputt?“
„Geben Sie wieder her!“
Tina gibt das Gerät zurück. Die Frau prüft den Batteriestatus, drückt verschiedene Knöpfe, es piept und summt, mehrere Symbole blinken auf. Sie schüttelt den Scanner, haucht über die Leseeinrichtung und wischt mit einem Taschentuch drüber. Diesmal führt sie das Gerät ganz langsam immer näher an das Etikett. ‚Mööp.‘ „Der Code wird nicht erkannt.“
„Das hab ich auch gemerkt! Kann man das manuell machen, ich meine irgendeinen Zettel ausfüllen? In einer Kladde eintragen? So wie früher!“
„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Da …“
„Ja, ja, ich weiß! Vor fuffzig Jahren …“, blafft Tina. „Bestimmt ist der Scanner einfach nur abgestürzt und muss neu gestartet werden!“
Die Frau schaltet das Gerät aus und wieder an. Es fährt nicht mehr hoch.
„Tut mir echt leid. Einen Moment, bitte.“ Die Frau dreht sich um und ruft: „Diethild, komm mal bitte! Und bring dein Werkzeug mit. Der Scanner!“
Ein burschikoses Mädchen, vielleicht dreizehn Jahre alt, kommt aus dem hinterem Raum. Eine kleine Werkzeugkiste in der Hand, Farbkleckse auf der Jeans.
„Meine Tochter kann das“, sagt die Frau mit hochnäsig piepsiger Stimme. „Sie hat jetzt in der Schule Werken.“
„Ich schraube das Device auf und prüfe, ob die Platine richtig sitzt, alle Lötstellen top sind“, erklärt Diethild und grinst dabei frech. „Vielleicht Wackelkontakt, vielleicht sind Fremdkörper drin. Vielleicht auch was Kompliziertes.“
Tina nickt. Diethild schraubt das Gerät auf.
„Darf ich Ihnen solange einen Cappuccino bringen? Geht auf’s Haus“, fragt die Frau.
„Das ist aber nett.“
Während die Frau nach hinten verschwindet, schaltet Diethild den Scanner schon wieder an. „Alles easy. War ein bisschen staubig. Sollte jetzt funktionieren.“
Das Gerät fährt nicht hoch. Diethild schüttelt es, versucht es erneut, schraubt es schließlich auf – und zerlegt das Gerät in seine Einzelteile.
Als die Frau mit zwei Cappuccini zurückkehrt, stößt sie gegen ihre auf dem Boden hockende Tochter. Die Heißgetränke schwappen über, Dietlinde fallen Bauelemente aus den Händen.
„Pass doch auf, Mama! Jetzt hast du alles durcheinander gebracht!“, brüllt Diethild und wühlt durch dutzende Einzelteile.
„Tschuldigung, Dieti.“ Und an Tina gewandt sagt sie: „Ach, jetzt sind sie übergelaufen. Ich mache uns neuen Cappuccino.“
Beim Umdrehen wirft sie einen Blick auf den Karton, der auf der Theke liegt. Vorsichtig stellt sie die Gläser ab, holt ihre Brille hervor, wischt mit dem Taschentuch über die Gläser und begutachtet den Aufkleber. „Moment! Das ist ja nicht Hermes, sondern DHL!“
„Wie bitte? Aber es wurde durch Hermes geliefert!“, empört sich Tina.
„Da wird sicherlich auch ein Rücksendeaufkleber für Hermes dabei gewesen sein.“ Belehrend schaut sie Tina an. „Einige Firmen bieten die Retoure über verschiedene Versender an. So, wie es für den Kunden am bequemsten ist. Kundenservice.“
„Oh“, sagt Tina. Am bequemsten, denkt sie, Kundenservice, – und ihr fällt wieder ein, wie ihr der ganze Papierkram aus dem Paket entgegengesegelt kam.
„Die nächste DHL-Station heißt ‚Café chez Horst‘. Nicht weit von hier. Ein netter, älterer Herr führt den Laden. Er ist nett …“
„Und die übernächste?“, zischt Tina.
Schulterzuckend schaut die Frau sie an. „Die Hauptpost am Hauptbahnhof? Oder auf der Hauptstraße?“
Beim Hinausgehen hört Tina noch die Frau zu ihrer Tochter sagen: „Was heißt das, du kannst es nicht mehr zusammenbauen?“

Der Regen nimmt zu. Ein kalter Wind weht. Sie stellt sich an die Hauswand neben dem Eingang, findet im Internet eine andere DHL-Station, noch vor der Hauptpost am Hauptbahnhof oder auf der Hauptstraße gelegen. Sie fasst sich an die Ohren, kalt und wahrscheinlich auch rot, öffnet wieder die Ladentür. Zwei Köpfe strecken sich hinter der Theke hervor, als Tina hineinruft: „Verkaufen Sie Kopfbedeckungen?“
Zähneknirschend bezahlt sie neunzehn Euro fünfundachtzig für eine farbenfrohe Wollmütze, die zwar warm, aber auch wie selbst gehäkelt aussieht und kein Preisschild aufweist.

Zwanzig Minuten später erkennt sie schon von Weitem das gelbe DHL-Zeichen über der Tür des Zeitschriftenladens. – Puh!
Als sie das Paket aus dem Drahtkorb holt, bemerkt sie, dass eine Klebestelle aufgegangen ist. – Verdammt!
„Guten Tag“, sagt sie und deutet auf das Paket. Im Hintergrund bimmelt noch die Türglocke. „Entschuldigung. Haben Sie Tesa? Können Sie mir das bitte zukleben?“
Die Frau im Hosenanzug verzieht das Gesicht.
Tinas Stimme schwankt. „Ich bezahle es Ihnen auch.“
„Macht vierzig Cent.“
Tinas Kinnlade fällt herunter. Sie bezahlt mit 2- und 1-Cent-Stücken, obwohl sie zwei Zwanziger hat.
„Andere nehmen fünfzig“, bemerkt sie, zählt das Geld akribisch nach und bringt einen Klebestreifen an, gerade groß genug, dass er das Paket zuhält. Keinen Millimeter zu viel! Dann scannt sie das Paket. ‚Mööp!‘ Der Code wird nicht erkannt!
Tina steht da mit verkniffenem Gesicht. „Das darf doch nicht wahr sein! Aber Sie sind doch DPD! Ich meine DHL! Versuchen Sie es noch mal!“
Es macht wieder ‚Mööp‘.
„Auch so ne billige China-Ware? Jetzt sagen Sie mir nicht, im Hinterzimmer wartet ihr Sohn mit seinem Brecheisen!“
„Wie bitte?“ Die Frau streicht über den Aufkleber. ‚Mööp‘. „Tut mir leid. Das Etikett ist aufgeweicht.“
„Kann man den mit einem Fön wieder trocknen?“
„Ja, schon“, überlegt sie, „aber die Striche werden dadurch nicht wieder gerade. Besorgen Sie sich einen neuen Code! Den können Sie ganz einfach am Handy herunterladen.“
„Ja, das geht?“ Erleichtert holt Tina ihr Smartphone hervor. Genug aufgeladen ist es. Jetzt kann nichts mehr schief gehen.
Die Frau rollt die Augen. „Sie laden sich die DHL-App herunter und fordern einen neuen QR-Code an. Den bekommen Sie sofort per Email und ich scann den dann ein.“
Tina öffnet den App-Store auf dem Handy, findet das Programm, drückt auf ‚Laden‘. Das Fortschrittssymbol kommt ins Stocken, die Übertragung droht abzubrechen. Sie geht zum Fenster, schnappt sich auf dem Weg dorthin einen Trittschemel, der vor den hohen Regalen mit den Schreibwaren steht, stellt sich drauf und hält das Smartphone ganz hoch und nah an die Scheibe. „Ah jetzt …“
Die Frau schaut auf die Uhr. „Sehr gut. Wir hätten nämlich gleich Frühstückspause.“
„Verdammt! Jetzt hängt’s! – Will der mein Passwort? – Wie ‚Softwareupdate‘? Ich will kein Update! Warum klappt das nicht?“
„Zeigen Sie mal!“, sagt die Frau, stellt sich neben Tina und schaut hoch. „Hat das Android?“
„Ich hab Induktion.“
„Genug Speicher haben Sie aber?“
„Ist ganz neu. Das Display aber schon ausgetauscht.“
„Ach so, na ja, meins ist alt und von der Telekom und hat auch nur eine Vier-Gigabyte-Flatrate …“
„Es hat geklappt!“, unterbricht Tina. „Installiert!“
„Wunderbar! Auf jeden Fall geben Sie dann jetzt Ihre Kunden- und die Sendungsdaten ein und …“
„Prima!“, faucht Tina und springt vom Schemel.
„Huch!“, erschrickt die Frau.
„Aua!“, stöhnt Tina auf und knickt mit dem Fuß um. Sie presst die Kiefer aufeinander, humpelt zum Ausgang und schlägt die Tür hinter sich zu.
Die Bimmel über der Tür klingelt unaufhörlich.
Alle notwendigen Daten stehen auf der Rechnung, die natürlich zu Hause zusammen mit dem anderen, dem ‚bequemen’ Rücksendeaufkleber auf dem Küchentisch liegt.

Sie schiebt das Fahrrad aus Hör- und Sichtweite der Frau, die ihr mit verschränkten Armen hinterherschimpft und gibt ihre Heimadresse ein. Fünfzehn Kilometer ist sie mittlerweile vom wohligen Zuhause entfernt.
Dunkle Wolken am Himmel. Regen wie Bindfäden. Sie zieht die Mütze noch tiefer ins Gesicht, haucht sich in die Hände und reibt sie gegeneinander. Dann radelt sie los. Hat sie doch zuletzt erst den Muddy, den Women’s Schlammlauf überstanden, – und das sogar mit einer Zerrung im Bein  – was soll ihr da noch geschehen?
In den Bäumen ringsherum knackt es in den Ästen. Autoscheinwerfer von allen Seiten. Klack, klack – Laternenlicht springt an. Eine Katze verzieht sich in einen düsteren Hauseingang. Autos schleichen vorbei, Scheibenwischer kämpfen gegen das Nass an. In der Ferne donnert es.
Auf dem Radweg weicht sie einigen Biotonnen aus, die der Sturm niedergerissen hat, schlittert über feuchtes Laub, hält gerade mal so das Gleichgewicht. Plötzlich schießt direkt neben ihr ein Auto durch eine Pfütze, groß wie ein See. Fontänen schießen empor. Von Wassermassen überspült bleibt das einzig’ Trockene am Körper ihre Unterhose.
Fluchend bleibt sie stehen, lässt die Schultern hängen. Tränen in den Augen. Ihr Handy! Sie holt es hervor, überlegt kurz, jemanden anzurufen, der sie mit dem Auto abholen könnte. Keine Chance! Der Akku ist leer. Trotzig wischt sie die Tränen fort, reißt sich Mütze und Strickjacke vom Körper und stopft das triefende Zeug in den Drahtkorb.
Frau Bramscheids Rätselhefte! Sie hebt sie hoch. Völlig durchnässt Und was ist das? Dieser Horst hat ihr tatsächlich drei identische Ausgaben angedreht. Dann bekommt sie halt Pralinen. Hoffentlich hat sie kein Diabetes. Doch da kümmert die sich später drum.
Jetzt. Ist. Das. Paket. Dran.
Mit ihrem Hausschlüssel stößt sie Löcher in den Karton, als würde sie mit einem Messer auf einen Menschen einstechen, zerfetzt ihn geradezu. Sie zieht die warme Winterjacke an, stülpt die Kapuze über und zurrt die Bänder ganz eng. Die Ärmel baumeln ihr über die kalten Hände. Die falsche Farbe der Jacke in der Düsterheit kaum auszumachen.
Sie schmeißt den Karton oder das, was es mal war, auf den Boden. Stampft immer wieder auf den einzelnen Teile herum, bis sie die Schmerzen im Fuß nicht mehr spürt und nur noch flache Stücke übrig bleiben, die sie über die Bordsteinkante schiebt.
Wo sie wie Papierbötchen in den Fluten des abfließenden Regens mitgerissen und schließlich in Richtung Gully getrieben werden.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Quoth (08.11.21)
Hallo, Buchstabenkrieger, gut zu lesender Text über die Tücken des heutigen Versandalltags.
vergilbten und Düsternis oder Dunkelheit - meine einzigen Stolpersteine! Gruß Quoth

 Buchstabenkrieger meinte dazu am 08.11.21:
Hallo Quoth,

danke fürs Lesen und Kommentieren.

"Düsternis" habe ich korrigiert.

Was ist an "vergilbten" verkehrt? Da stehe ich momentan auf dem Schlauch.

Der Satz lautet: Ein Stapel vergilbter und abgegriffener Erotikmagazine kommt zum Vorschein.
(Gut, vorher hatte ich "Erotikmagazinen", also Plural).

Wäre schön, wenn du mir hier weiterhilfst.

Danke und schönen Abend.
LG, Buchstabenkrieger

 Quoth antwortete darauf am 08.11.21:
"mit seinem riesigen vergilbtem Daumen ..." Das war es, aber dies "vergilbtem", das "vergilbten" hätte heißen müssen, hast Du (leider!) gelöscht. Oder erinnere ich mich falsch? Das andere "vergilbter" ist okay und war kein Stolperstein!

 Buchstabenkrieger schrieb daraufhin am 08.11.21:
Hi Quoth,

ah, das andere vergilbte.

Ja, hatte mittlerweile eine Überarbeitung eingespielt und dies gelöscht.

Da es dir zu gefallen scheint, habe ich es wieder eingebaut.
Passt ja auch sowieso besser, die vergilbten Erotikmagazine und sein vergilbter Daumen, wenn ich drüber nachdenke

LG, Buchstabenkrieger

Antwort geändert am 08.11.2021 um 22:09 Uhr

 linkeln (10.11.21)
Hallo Buchstabenkrieger,
Du musst aufpassen, dass der Text nicht genauso anstrengend wird, wie die retour des Päckchen. Du malst mit deinen Worten zuviel.
Lg
linkeln

 Buchstabenkrieger äußerte darauf am 10.11.21:
Hallo linkeln,

und danke fürs Lesen und Kommentieren.

Ich habe den Text noch mal angepasst.
Einige unwichtigere Stellen sind raus, potentiell lustige ein wenig erweitert.

Wär schön, wenn du Bespiele hättest, wo in deinen Augen mit Worten zu viel gemalt wird.

Danke.
LG, Buchstabenkrieger
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram