Verlassen

Kurzgeschichte zum Thema Sucht

von  Buchstabenkrieger

Günter legte die Muster-Bohrmaschine zurück ins Fach. Handhabung, Funktionen, beigefügtes Zubehör – alles entsprach seinen Vorstellungen. Auch der Preis war günstig.
Er schaute ins Regal, bückte sich, fand aber kein originalverpacktes Gerät. „Entschuldigen Sie!“, rief er einem Verkäufer zu, der am Ende des Gangs entlang schlenderte.
Der Verkäufer blickte sich um, kam langsam näher. „Ja, bitte?“
„Die UPM-600 aus der Werbung. Ist die noch da?“, fragte Günter und winkte mit dem zusammengefalteten Prospekt, den er aus der Jackentasche gezogen hatte.
Als der Verkäufer – Herr Schmalstieg, wie der Brustaufnäher verriet – neben ihm stand, vernahm Günter einen Dunst, der ihn an seinen letzten Kneipenbesuch erinnerte. Schmalstieg schaute ins Regal, schob Kartons beiseite und murmelte die einzelnen Modellbezeichnungen vor sich hin.
„Hm, keine da“, meinte er schließlich. „Ich schreib mir mal eben … die ... die …“
„Modellnummer?“
„… ja, die Nummer auf.“
„U P M Bindestrich sechs null null“, las Günter vom Prospekt ab.
Schmalstieg kramte Notizblock und Bleistift aus der Brusttasche hervor. Er leckte an der Mine und kritzelte etwas aufs Papier.
Günter beäugte das Notierte. Buchstaben, Zahlen und Zeichen, die auch auf der Einkaufsliste seiner Frau stehen könnten oder auf dem Rezept seines Hausarztes. Genauso gut könnte es der Decodierungsschlüssel für die geheime Enigma-Rotorschlüsselmaschine sein.
„Ich gucke nach. Bin gleich wieder da. Warten … Äh, bitte warten Sie hier.“ Dann schritt Schmalstieg zurück zum breiten Hauptgang, und Günter kam es vor, als taumelte der Verkäufer.

An einem Regal mit Farbeimern blieb Schmalstieg stehen und stützte sich ab. Mit dem Ellenbogen stieß er eine kleine Farbdose um, die herunterfiel und auf der Erde entlang rollte. Schmalstieg blies kräftig aus, folgte der Dose und stoppte sie schließlich mit dem Fuß. Er blickte nach vorne, schaute auf die Dose … und kickte sie weg. Günter schüttelte den Kopf. Ihm kam es vor, als bejubelte der Verkäufer ein erzieltes Tor.
Schmalstieg trottete weiter und schlug urplötzlich die Hacken gegeneinander. Günter zog die Augenbrauen hoch, als Schmalstieg die Richtung änderte und in den menschenleeren Bereich schritt, in dem einige Saunen aufgebaut waren. Hölzerne Kabinen in der Größe von Geräteschuppen oder Gartenhäuschen.
Ohne sich umzudrehen, betrat er eine Sauna und schloss die Tür hinter sich.
In Sichtweite blieb Günter stehen und lauschte der Lautsprecherdurchsage, die zwanzig Prozent Rabatt auf alle Blumen und Pflanzen bewarb. Weiter hinten sah er zwei Männer in Monteurkluft – und winkte schnell einem Verkäufer hinterher, der plötzlich mit Tapetenrollen in den Armen aus einem Gang aufgetaucht war, nur um wieder in den nächsten abzutauchen.
Günter trat einige Schritte zur Seite und sah sich um. Anderes Personal in den typischen purpurroten Poloshirts erblickte er nicht.
Dann trat er näher zur Sauna, in deren Dunkelheit und Abgeschiedenheit Schmalstieg sich verkrochen hatte. Es duftete nach würzigem Holz; Günter kam es vor, als hörte er gedämpfte Wellnessmusik im Inneren. Gerade als er aus sicherem Abstand an die Tür klopfen wollte, wurde diese ruckartig aufgestoßen. Erschrocken wich Günter zur Seite.
Mit rotem Gesicht trat Schmalstieg heraus. Kopfschüttelnd schaute er zuerst auf den Notizblock, dann auf Günter, dann wieder auf den Block und nuschelte: „UPM-600?“
„Ja“, antwortete Günter erwartungsvoll.
„Tut … tut mir leid, haben wir nich mehr.“


Ein paar Stunden zuvor

Der Wecker klingelte. Helmut erwachte mit Kopfschmerzen, schaltete den Wecker aus und die kleine Nachtlampe an. Er tastete nach der Blisterpackung, drückte eine Tablette heraus und würgte sie hinunter.
„Du musst mehr Wasser trinken!“, ermahnte ihn seine Frau, die neben ihm im Bett lag. „Hör auf mit diesem Teufelszeug! Meinst du, es wird so besser?“
„Ja, ja, is gut, Gerdi.“
„Du gehst heute zum Arzt!“
„Is grad schlecht, viel zu tun“, murmelte Helmut. „Morgen. Morgen hab ich Rolltag.“
„Morgen, morgen. Das sagst du seit Tagen!“
Gertrud setzte sich an den Bettrand und schlüpfte in die Pantoffeln. „Ist gut. Aber wirklich morgen! Oder willst du deinen Job verlieren?“ Sie stand auf und sagte: „Ich komm mit. Und danach gehen wir noch zum Pfarrer.“
Aus dem Bad hörte Helmut seine Frau rufen: „Es sind noch zwei Croissants übrig. Soll ich sie dir mit Butter und Schinken machen?“
„Danke.“

Als Helmut die Wohnungstür zuschlagen hörte, erhob er sich umständlich aus dem Bett. Im Kopf dröhnte es.
In der Küche holte er eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und trank sie in einem Zug leer. Dann aß er – an die Arbeitsplatte gestützt – die Croissants und wischte sich Mund und Hände am Geschirrhandtuch ab.
Im Schlafzimmer zog er den Pyjama aus und streifte sich die Jeans über, die er am Abend zuvor auf den Stuhl gelegt hatte. Er roch an dem Poloshirt und kramte aus dem Schrank ein frisches heraus.
Sein Magen knurrte. Bevor Helmut das Haus verließ, nahm er noch einen Schluck aus der Weinflasche, die seit Tagen aufgekorkt zwischen den anderen im Wohnzimmerschrank stand. Rotwein, den sie im Herbst von der Mosel mitgebracht und an lauen Abenden auf der Terrasse genossen hatten – zusammen mit Camembert, Weißbrot und Olivenöl. Es schmeckte ihm nicht.

Der Supermarkt lag auf dem Weg zur Arbeit. Helmut schaute auf die Uhr. In einer guten halben Stunde begann seine Schicht. Noch genügend Zeit, um etwas fürs zweite Frühstück einzukaufen.
Er legte eine dicke Salami und Fleischwurst ohne Knoblauch in den Einkaufswagen und zog weiter. Angelockt vom Geruch nach frisch Gebratenem blieb er an dem kleinen Stand stehen, hinter dem eine Frau mit Schürze Würstchen in einer Pfanne zubereitete.
„Möchten Sie probieren? Das sind unsere neuen Bratwürstchen. Mit Käsefüllung oder Chili?“
Helmut schob seinen Einkaufswagen zur Seite, sagte „Gerne. Aber Chili mag ich nicht“ und nahm das Pappschälchen mit einigen Stückchen Würstchen entgegen, das ihm die Frau reichte. Er steckte sich eins in den Mund und sagte schmatzend: „Vorzüglich!“
[ NGK: zu comichaft]„Mit Käse sind nur noch diese beiden Packungen da.“ Die Frau deutete auf die Kühltheke neben sich. „Sind im Angebot.“
„Prima“, sagte Helmut, schlang die restlichen Stücke hinunter, hielt sich die Hand vor dem Mund und stieß leise auf. Dann warf er Schale und Holzgabel in den Abfalleimer und legte die Packungen in den Einkaufswagen.
„Sie können gerne noch ein Stückchen haben“, bot die Frau an.
Helmut lugte in die Pfanne. „Geben … geben Sie mir einfach alle. Wenn Sie keine mehr verkaufen können, dann … dann … brauchen sie auch keinem anderen was zum Probieren geben.“

Auf dem Weg zur Kasse blieb Helmut vor dem Weinregal stehen. Er drehte sich mehrmals um und verstaute die Bratwürstchen zwischen dem 2010er Chardonnay.
Er räumte Salami und Fleischwurst auf das Kassenband, ging in Gedanken mögliche Verstecke in der Verkaufshalle und im Sozialraum durch und nahm sechs kleine Flaschen Jägermeister aus dem Fach der Mitnahme- und Quengelware.


Ein paar Tage später

„Entschuldigung, Entschuldigung“, wiederholte Fritz, nachdem sich Zuschauer wie Perlen an einer Kette von ihren Sitzschalen erhoben und wieder hingesetzt hatten, um ihm das Durchgehen auf dem schmalen Tribünengang zu ermöglichen.
Fritz schaute auf die Eintrittskarte und verglich die aufgedruckte Nummer mit der auf dem Messingschild des Sitzes. Er setzte sich hin, trank einen kleinen Schluck Cola aus dem Becher und schaute auf den leeren Platz neben sich. „Ist der frei?“, fragte er den Zuschauer auf der anderen Seite des leeren Sitzes.
„Ja“, lautete die knappe Antwort.
Fritz legte seinen Seidenschal auf den Sitz und stellte die Cola daneben. Er pustete kräftig aus, öffnete seine Jacke und sagte mehr zu sich selbst: „Puh, eben noch geschafft.“
Während sich die beiden Mannschaften in Reih und Glied auf dem Rasen stellten, beugte sich Fritz zu dem Mann und sagte: „Ich hatte Glück. Mein Kumpel hat keine Karte mehr bekommen. Ausverkauft! Und jetzt sehe ich hier den leeren Platz. Pokal-Finale! Wer lässt denn da seine teure Karte verfallen?“
„Wie … wie bitte?“, fragte der Mann.
Fritz deutete neben sich. „Der freie Platz.“
„Ach so. Der … der gehört zu mir“, antwortete der Mann. „Meine Tochter. Sie hat sich so gefreut. Wir haben seit ihrem zehnten Geburtstag kein Finale verpasst. Und heute …“, der Mann hustete blechern, „heute könnte sogar unser Heimatverein den Pott holen!“
„Darf ich denn fragen, wo Ihre Tochter heute ist?“
Der Mann schnäuzte sich die Nase und fuhr fort: „Sie ist kürzlich verstorben.“
„Oh, das tut mir leid“, sagte Fritz, nahm die Cola und wischte mit dem Schal über den Sitz.
Das Orchester formierte sich auf dem Rasen. „Wollte denn Ihre Frau nicht an ihre Stelle …?“
„Wir haben uns getrennt.“
„Oh. Also meine Kollegen hätten locker zweihundert Euro …“
„Ich wollte die Karte nicht verkaufen!“
Verdutzt schaute Fritz geradeaus aufs Spielfeld. „Aber Verwandte, Freunde oder Bekannte …“, sagte er dann.
[ NGK: zu aufdringlich]Kopfschüttelnd antwortete der Mann: „Nein, leider konnte keiner … keiner heute kommen.“
„Wieso denn, wenn ich fragen darf?“
Das Orchester setzte die Instrumente zur Spielstellung an. Im Stadion wurde es ganz still. Die ersten Zuschauer erhoben sich.
Leise sagte der Mann: „Die sind alle auf der Beerdigung“, und stand auf, als das Orchester die ersten Töne der Nationalhymne spielte.


Anmerkung von Buchstabenkrieger:

Der Versuch, drei meiner (hier schon zuvor einzeln veröffentlichten) grotesken Anekdoten im neuen Gewand einen roten Faden zu geben.
So absurd die einzelnen Szenen auch sein mögen, verbirgt die daraus neu entstandene Geschichte doch ein furchtbares Schicksal.

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Kommentare zu diesem Text

kreativschlachten (29)
(28.05.20)
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 Buchstabenkrieger meinte dazu am 30.05.20:
Danke, kreativschlachten, fürs Lesen, die Bewertungen und die Empfehlung.

Liebe Grüße, Buchstabenkrieger

 Buchstabenkrieger antwortete darauf am 31.05.20:
Hi kreativschlachten,

habe den Text ein wenig geändert, den Tod vorher schon angedeutet ("Pfarrer").

Würde schon gerne wissen, warum du vom Text beeindruckt bist, kreativschlachten, damit meine nächsten ebenso werden

Danke im Voraus und einen schönen Sonntag.
Liebe Grüße, Buchstabenkrieger
kreativschlachten (29) schrieb daraufhin am 05.06.20:
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 Buchstabenkrieger äußerte darauf am 06.06.20:
Danke nochmal für deine Rückmeldung. Hat mir sehr weitergeholfen, kreativschlachten.

Ich habe mittlerweile auch ein wenig die Klischees zurückgeschraubt. Es wird nun weniger "gesoffen", am Ende scheint der Prota sogar trocken zu sein. Und es wird gesagt, dass er die Karte fürs Finale auf keinen Fall verkaufen wollte. Also so, dass er die alte Gewohnheit zu Ehren seiner verstorbenen Tochter aufrecht erhalten will.

Schönes WE.
LG, Buchstabenkrieger
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