Ausgesüßt

Kurzgeschichte zum Thema Liebe und Leid

von  Buchstabenkrieger

Als Tom aufwacht, pocht sein Kopf und ihm überkommt ein unheimliches Gefühl. Er gähnt, reckt und streckt sich und öffnet vorsichtig die Augen. Tageslicht zwängt sich durch die Ritzen des Rollos, er blinzelt. Die andere Betthälfte ist gemacht; seine Kleidung liegt auf dem Boden.
Kaffeeduft strömt ins Schlafzimmer. „Ist noch Kaffee da, Süße?“, ruft er.
„Bleib liegen, ich bring dir einen.“

Jessie kommt herein, stellt eine Tasse auf den Nachtschrank und schaut ihn lächelnd an. „Bitte. Mit Milch und viel Zucker.“
„Danke, Süße.“
„Für dich tue ich doch alles.“
Tom gähnt wieder, reibt sich ans Kinn. „Sag mal, Süße, bin ich gestern hingefallen?“
„Ja“, sagt sie. „Beim Fußballspielen mit den Kindern.“
„Aufs Kinn?“
„Nein, du bist aufs Bein gestürzt. Weißt du das nicht mehr? Du hast dir dabei deine gute Anzugshose aufgerissen. Aber das kann man nähen.“
In seinen Ohren klingt es nicht vorwurfsvoll, eher, als würde sie ihn bemitleiden. Auch hat sie ihm nicht – wie sonst – wegen seines Katers eine Szene gemacht, der ihr nicht entgangen sein durfte. Hat ihn sein Gefühl etwa getäuscht? Er hebt die Bettdecke hoch, untersucht sein Knie. „Wie ist das denn passiert?“
„Na ja, du wolltest zeigen, was du kannst, bist in den Ball reingegrätscht und dabei gestürzt. Danach hast du den Ball über den Zaun geschossen und bist grantig zum Tisch zurückgekommen.“
„Oh“, sagt er verdutzt. „Tut mir leid. Und der Ball?“
„Den hat Holger geholt.“
„Holger? Der Rotschopf?“
„Nein, mein Cousin. Der mit dem Bart.“ Sie verzieht das Gesicht. „Der Rotschopf ist mein Bruder.“
„Ich erinnere mich wieder.“ Er haucht sich in die Hand, riecht seinen Atem. „Hab ich viel getrunken?“, spricht er lieber das leidige Thema an, bevor sie es tut. Flucht nach vorne.
„Na ja … Ich hatte nur Gutes über dich erzählt und gehofft, dass du dich von deiner besten Seite zeigst.“
„Aber habe ich doch. Ich habe mit den Kindern Fußball gespielt.“ Tom beäugt Jessie, die ihre Stirn hochzieht. „Warum bist eigentlich schon fertig angezogen, Süße? Wollten wir uns nicht einen gemütlichen Tag auf der Couch machen?“
„Ich hab’s mir anders überlegt.“ Sagt’s und verlässt das Schlafzimmer, ruft noch „Ich muss mich schminken“ und „Trink in Ruhe deinen Kaffee“ hinterher.
„Dein Vater war’s! Er hat mich verführt.“
„Er hat mit dir nur einen Sekt angestoßen! So wie mit allen anderen. Ich glaube, er mochte dich“, schallt es aus dem Bad, „bis zu diesem Augenblick! Dann fing es an: Du hast dich allein an die Bar gestellt und von allen Flaschen probiert.“
„Ich wollte doch nur was Besonderes aussuchen für dich, für deine Familie.“
„Du hast den Frauen – vor allem den Brautjungfern – nachgegafft und meiner Schwester ins Dekolleté gestarrt!“
„Echt? Dann müssen sie aber auch wert gewesen sein“, sagt er mit dem Anflug eines Lächelns, als sei alles gar nicht so schlimm. „Hab ich auch jemanden auf den Hintern geklatscht?“ Kaum hat er es gesagt, bereut er es schon.
„Hör auf! Hör bloß auf damit! Es war ihr großer Tag! Und du hast alles ruiniert!“
„Ich hab sie nicht angepackt.“
„Wie? Du hast sie abgeknutscht, als sie an der Bar einen Wein bestellt hat.“
„Tut mit leid. Wird sicher nicht mehr vorkommen. Ich verspreche es!“
„Schon gut.“
„Oh, Mann“, murmelt er und atmet tief durch. Er senkt den Kopf, grübelt, wie er das Gespräch ins Positive lenken, alles vergessen machen kann oder ob er besser gar nichts mehr sagen sollte. „Das Essen war geil, ne?“, sagt er schließlich.
„Du musst sehr hungrig gewesen sein.“
„Ich hatte den ganzen Tag vorher nichts gegessen.“
„So? Und deswegen musst du dich am Buffet vordrängeln, alles antatschen, im Stehen alles in dir reinstopfen?“
„Es schmeckte so gut, ich musste doch probieren, was ich dir mitbringen kann.“
„Wie? Mir hast du nichts gebracht! Erbärmlich, wie du auf den Boden geschlabbert und dir die Hände an den Ärmeln abgewischt hast. Einfach erbärmlich.“
„Die Musik …?“, fragt er fast schon ängstlich zurückhaltend.
Plötzlich steht Jessie im Türrahmen. Frisches Rouge, rote Lippen, die Haare frisiert. „Die Musik? Gut, dass du das auch ansprichst. Du hast dem DJ das Mikro weggenommen, dich mit’ner Pulle Schnaps wild auf der Tanzfläche hin- und hergedreht und laut und schief mitgesungen. Du hast sie alle von der Tanzfläche verjagt!“
„Ups.“
„Zum Glück hat mein Schwager eingegriffen.“
„Der mit den langen Haaren?“
„Mein Schwager! Der Bräutigam! Manno!“
„Puh, da sind mir die Pferde durchgegangen. Sorry, aber es ging ja alles noch mal gut aus.“
„So, meinst du? Du hast dich gewehrt, losgerissen, um dich geschlagen. Bis Papa dazukam.“ Ihre Stimme überschlägt sich beinahe.
Er fasst sich ans Kinn. „Ach, dann war er es …?“
„Du bist völlig ausgeflippt! Hast den Gästen die Reste aus den Gläsern getrunken. Dann hat Papa uns ein Taxi bestellt. Zum Glück.“
„Taxi? Aber wir sind doch zu Fuß ... oder?“
„Ja, du wolltest nicht einsteigen. Abgedackelt bist du! Fluchend durch den strömenden Regen!“
„Ich wollte an die frische Luft, einen klaren Kopf …“
„Und ich Doofe dir auch noch hinterher!“, brüllt sie.
„Dafür bin ich dir auch dankbar. Aber ganz ruhig jetzt. Schrei bitte nicht so rum, Sü…“
„Ich bin ruhig! So, wie du drauf warst, hättest du die zwei Kilometer nie nach Hause gefunden, wärst in `nen Graben oder Bach gestürzt. Über Bordsteinkanten bist du ja schon gestolpert und mehrmals auf die Fresse gelegt hast du dich auch.“ Zornig starrt sie ihn an. „Und gekotzt hast du!“
Tom errötet, lächelt verlegen.
Dann glitzern ihre Augen vergnügt. „Zum Glück ist uns das Taxi langsam gefolgt und der nette Fahrer hat dir hoch geholfen, als du vor dem Haus in einer Pfütze alle Viere von dir gestreckt hast.“
„Hat er mich etwa auch …?“
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaut Jessie ihn mit ausdruckslosen Augen an.
Er zupft sich am Haar. „Sorry, Süße. Ich hab die ganze Feier gesprengt. Kommt nicht mehr vor. Wirklich.“
Jessie dreht sich um, verschwindet für einen Moment aus seinem Sichtfeld und steht kurze Zeit später wieder im Türrahmen. Eine Reisetasche in der Hand, einen Rucksack geschultert. „Ja, kommt nicht mehr vor. Da bin ich mir ganz sicher. Wirklich“, sagt sie und verzieht die Lippen zu einem dünnen Lächeln.
Er reibt sich die Nase. „Aber … Süße …“
„Hat sich ausgesüßt. Endgültig. Der Schlüssel hängt am Schlüsselbrett.“
Tom starrt ins Leere, hört sie übers Parkett stöckeln. Die Schritte verstummen. Dann vernimmt er aus dem Flur eine tiefe Männerstimme.
Er zieht die Augenbrauen hoch, setzt sich auf. Wer oder was war das? Ganz sicher nicht das Radio in der Küche oder der Fernseher. Sein Kopf brummt, er macht den Mund mehrmals auf und wieder zu, als er  ein Kichern hört, dann wird die Wohnungstür geöffnet. Hastig steht er auf, knickt ein, sein Knie schmerzt, er macht zwei Schritte, stößt gegen eine leere Bierflasche, die über das Laminat rollt, und taumelt zur Tür, stützt sich an der Zarge ab, lugt um die Ecke und lauscht. Im Korridor brennt Licht; er blinzelt, seine Augen nehmen schemenhaft eine weitere Person wahr.
„Ich sag ja: Komasäufer. Diesmal ist er zu weit gegangen. Boah, ich bin’s so leid. Aber du musstest ihm nicht gleich so’n festen Kinnhaken verpassen. Er hätte auch so gepennt wie’n Stein.“
Die Wohnungstür schlägt zu.
Tom torkelt über den Flur, er kommt zu spät, bleibt an der Wohnzimmertür stehen, wirft einen Blick hinein. Ein Geruch nach Schweiß und Zigarettenqualm steigt ihm in die Nase. In den Ohren beginnt es zu rauschen, er unterdrückt einen Schrei: auf dem Sofa kreuz und quer Wolldecken und Kissen, auf dem Couchtisch zwei Kaffeepötte, eine leere Weinflasche, zwei Gläser, ein Teller, Käsemesser und Käserinde – sein bester, teuerster Wein, sein liebster alter Gouda. Auf dem Boden erblickt er etwas kleines Rotes. Er geht näher. Es ist ihr Spitzenhöschen, das da liegt, das nicht zufällig da so zur Schau liegt. Um ihn herum riecht es nach Leidenschaft und Gier und Körperflüssigkeiten. Er schluckt, fühlt sich auf einmal nüchtern wie drei Tage im Trockenen, aufgedreht wie eine Kiste Cola, niedergeschlagen wie ein ausgeknockter Boxer.
Mit hochrotem Gesicht geht er zum Fenster, blinzelt zwischen den Lamellen auf die Straße. Jessie und ein jüngerer Mann in Jeans, mit Lederjacke und langem Haar, treten aus dem Haus, stolzieren Arm in Arm auf ein Taxi zu.
Alles zieht sich in Tom zusammen. Er wischt sich eine Träne fort, reißt das Rollo beiseite, ballt die Fäuste und hämmert gegen das Glas.
Der Mann öffnet den Kofferraum und Jessie legt ihre Taschen hinein. Während er sich hinters Lenkrad setzt, schaut Jessie herauf und zeigt Tom vergnügt lächelnd einen Stinkefinger.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.01.21)
„Nein, du aufs Bein gestürzt." ?

 Buchstabenkrieger meinte dazu am 19.01.21:
Hallo Dieter,

Danke für dein Adlerauge.

LG, Buchstabenkrieger
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