Vielleicht zeige ich Ruth, was ich geschrieben habe.

Text

von  Willibald

Meine Patentante Ruth Stein (90)

besuche ich, Melanie Stein (16),

fast jeden Freitag nach der Schule

und wir essen zusammen.

Sie schreibt seit ihrer

Jugend Gedichte, die meisten reimen sich nicht.
Sie sagt:
„Oft macht es schon der Zeilenumbruch“ und

„Schreib Momente auf, das macht Spaß.“ 


Die großen Ferien waren gestern zu Ende. 

Und ich probiere es ohne Zeilenumbruch, vielleicht zeige ich  Ruth, 

was ich geschrieben habe. Momente.

Gottseidank setzte sich Natalie heute vormittags  neben mich. Vorletzte Reihe am Fenster. Draußen wogt der Kastanienbaum. Sie spinnt seit drei Monaten auf Ewald, eher ein Doofling, aber verdammt gut aussehend. Bisher ohne Erfolg.

"Du wirst nie erraten, was gestern passiert ist." 

(Drei rosa Einhörner in jeder ihrer Pupillen.)

"Ewald hat dich geküsst."
"Hei! Woher weißt du das?"
"Na, ja."
Sie legte den Arm um mich, sie hat einen Ballettarm. 

Meiner sieht aus wie der eines Bonobos.

Wir hatten vor drei Wochen ausgemacht, in´s Kino zu gehen. 
Das konnte man jetzt vergessen. Dabei hatte ich mich so gefreut, dass er am Donnerstag anläuft: "Das Jahr der ersten Küsse ".  

Man sieht: Gott hat einen  teuflischen Spaß mit mir, oder?

Natürlich könnte ich allein gehen, bin schon groß,  ich weiß,  wie man eine Kinokarte kauft. Aber trotzdem. 

Mal gucken, was die nächste Katastrophe ist.

Die Tür geht auf. "Guten Tag. Ich bin Frau Martens, Ihre Klassenleiterin." 

Wir schauen uns an,  stolz und grinsend. 

"Ja, Sie werden gesiezt ab diesem Schuljahr",  seufzt die Dame in den Raum hinein.

Sie  legt ihre Aktentasche auf den Schreibtisch und liest die Klassenliste vor.  Wer neu dazugekommen ist, wer nicht. Dabei pendelt  die Brille, die an einer Kette vor ihrer Brust hängt, hin und her. Sie guckt jeden kurz an. 

"Melanie Stein," sagt sie. 

"Hier", sage ich. 

Und warte, was jetzt so kommt, wie immer beim Schulanfang.


"Klassensprecherwahl, Schülerausweise, Bücherausgabe, das macht der zweite Klassenleiter, Herr Ginschel." 

Sie setzt die Brille auf.  

"Mein Fach ist Mathematik. Wir haben viel vor."
Noch 39 Minuten.


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(Eigenes Bild)




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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (02.02.22, 18:39)
Ausgerechnet eine Mathematiklehrerin als Übermutter!
Das kann ja nicht gutgehen ...

Noch 37 Minuten
der8

 Willibald meinte dazu am 02.02.22 um 18:50:
Keckernde Grüße und postpubertärer Dank.

 Fridolin antwortete darauf am 05.02.22 um 21:39:
Das kann ja  Ruth nur gefallen haben. Aber was aus dem Film wohl geworden ist, frage ich mich schon. Postpubertär schützt da wenig, der Neugier-Reiz bleibt irgendwie doch; in meinem jetzigen Alter kann ich das  ganz ungeniert zugeben.

 Willibald schrieb daraufhin am 06.02.22 um 10:09:
Melanie hat diesen kleinen, schönen, sehr schönen Film auf DVD gesehen.
:)

 Dieter_Rotmund (29.02.24, 17:11)
"Das Jahr der ersten Küsse "

Ein etwas in die Jahre gekommener Kai-Wessel-Film...
Kam der im Kino?

 Quoth äußerte darauf am 29.02.24 um 19:06:
Weiß ich nicht, habe ihn auch nie gesehen. Was mich verwundert: "Das Jahr der ersten Küsse" ist von 2002, zum Lebensalter Willibalds würden eher Filme wie "Die Halbstarken", "Die Frühreifen" oder "Die seltsame Gräfin" passen. Er hat sich für diesen Film wohl wegen des Titels entschieden.

Schöner Text Willibalds, der mir auch klar macht, warum er meinen Aufsatz  Comics so gern hatte: Wir waren beide in den 50er Jahren jung.

Antwort geändert am 29.02.2024 um 19:07 Uhr
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