Kagar? Kenn ich nicht.

Beschreibung zum Thema Zeitreise

von  diestelzie

Ich erinnere mich noch gut an die ratlosen Gesichter meiner Schulfreundinnen, als ich ihnen erzählte, wo ich meine Sommerferien verbracht hatte.

"Kagar? Noch nie gehört."


Für viele Jahre war das kleine Dorf, zu dem kaum mehr als eine Straße gehört, das Urlaubsdomizil meiner Familie. Wobei die exakte Postanschrift: "1951 Kagar, Bungalowdorf" lautete.

Das ist ein sehr wichtiges Detail, weil das Bungalowdorf, also der eigentliche Urlaub, dort anfing, wo das Dorf Kagar endete. Mitten im Wald und am Ufer des "Großen Zechliner See" der durch einen Kanal mit dem "Kleinen Zechliner See" verbunden ist. Alles in allem zählt man so etwa sechs Seen, die irgendwie miteinander verbunden sind. Manche auch nur durch ein kleines zartes Bächlein.


Im Alter von 18 Monaten war ich zum ersten Mal mit meinen Eltern und meinen drei älteren Schwestern im Bungalow, der den Namen "Pleißenquelle" trug und auch heute noch trägt. Ein Doppelbungalow, für zwei Familien oder für eine Familie mit vielen Kindern. Zum Haus gehörten ein Ruderboot und ein Ruderboot mit Außenbordmotor, das irgendwann gegen ein "richtiges" Motorboot ausgetauscht wurde. Hier im Feriendorf Kagar tat ich meine ersten Schritte. Doch ehe es soweit war, stand uns sechs Personen eine tagesfüllende Bahnfahrt bevor. Um 5:00 Uhr früh stiefelten fünf Menschen zum Bahnhof und schoben dabei abwechselnd den Kinderwagen. Was ziemlich anstrengend gewesen sein muss, weil ich kein Leichtgewicht war. Mit dem Zug ging es dann nonstop nach Oranienburg und von dort weiter nach Rheinsberg. Von hier aus fuhren wir mit dem Taxi. Nicht immer war der Taxifahrer bereit, uns bis ins Feriendorf zu bringen. Das lag nicht daran, dass die geteerten Straßen irgendwann endeten und in Waldwege übergingen, sondern daran, dass deutsche und russische Soldaten in den weitläufigen Waldgebieten ihre Übungen mit scharfer Munition ausführten und manchmal recht nah waren. Die Leute hatten Angst. Wir hörten auch Schüsse und sahen die Tiefflieger über uns. Heute hat sich hier mindestens ein Wolfsrudel angesiedelt.


Im Feriendorf gab es neben den zahlreichen Ferienhäusern sechs Gaststätten, eine Verkaufsstelle für Waren des täglichen Bedarfs, daran angeschlossen eine Schwesternstation, welche Tag und Nacht mit einer Krankenschwester besetzt war; einen Postzeitungskiosk und später auch ein Zeltkino.

Zu den Highlights des Urlaubs zählten zweifellos die Familienausflüge mit dem Motorboot. Nur so kamen wir auch in andere Ortschaften, wie zum Beispiel Flecken Zechlin. Heute umrunde ich einmal im Jahr den See zu Fuß, laufe durch Kagar nach Dorf Zechlin und Zechliner Hütte. Diese Namen können für Ortsunkundige schon mal für ein wenig Verwirrung sorgen, für mich klingen sie nach Heimat.

Für uns Kinder gab es den Wald als großen Spielplatz, den Strand fast vor der Haustür und entspannte und zufriedene Mamas und Papas. So erlebte ich die meisten Sommer meiner Kindheit.


Als ich 13 Jahre alt war und meine Schwestern längst zu alt für Urlaub mit den Eltern, wohnten in der Unterkunft nebenan ein Kollege meines Vaters, dessen Frau und Sohn. Thomas war 14, wir waren zusammen im Kino und mit dem Ruderboot auf dem See. Thomas war in Carmen verknallt und ich in einen der Jungs vom Dorf, die jeden Abend mit ihren Mopeds zum Strand kamen. Auf der Heimfahrt saß ich heulend im Zug.

Für lange Zeit war das das letzte Mal Kagar.


"Das ist nichts, als Korn auf Sand oder Fichten auf Sand..." schrieb Heinrich von Kleist am 20. August 1800 in einem Brief und soll damit die Gegend im heutigen Landkreis Ostprignitz Ruppin gemeint haben.

Die Sehnsucht nach "Nichts" trieb mich 40 Jahre später wieder an diesen Ort. Das Bungalowdorf ist längst Geschichte, Ruinen im Wald als Zeitzeugen geben ein Gefühl der Verbundenheit, das aber eher traurig stimmt. Der See ist geblieben. 


 






Anmerkung von diestelzie:

Fortsetzung folgt...

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (02.06.22, 09:30)
Welche Filme hat der/die Protagonist(in) im Zeltkino gesehen?

 diestelzie meinte dazu am 02.06.22 um 19:21:
Es war definitiv ein Louis de Funes Film. Ich denke, es war die Begegnung mit den Außerirdischen.

Danke auch für deine Empfehlung.
Liebe Grüße
Kerstin

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 03.06.22 um 09:19:
Ahhhhh, Le gendarme et les extra-terrestres von 1979! Und dann dabei noch im Ferien-Lager im Ferien-Zelt, dieses Erlebnis hätte ich auch gerne gehabt...

 diestelzie schrieb daraufhin am 03.06.22 um 21:13:
Nee du, ich war nie in einem Ferienlager. Das war ein Feriendorf, also komplett anders, mit Eltern und so 😀.

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 04.06.22 um 08:59:
Der Text macht einen ganz anderen Eindruck. Einen literarisch besseren, es macht ihn zu einer besserern Fiktion, also alles prima.

 Graeculus (02.06.22, 10:10)
Landschaft, Erinnerungen, Kindheit, Familie - da kommt zusammen, was einen prägt. Sanft-wehmütig beschrieben.

 diestelzie ergänzte dazu am 02.06.22 um 19:25:
Vielen Dank.
Es sind überwiegend schöne Erinnerungen und deswegen wird dieser Ort für mich auch immer ein schöner Ort sein.

Danke auch für deine Empfehlung.
Liebe Grüße
Kerstin

 lugarex (02.06.22, 10:46)
Als falscher Trost: ich bin schon in das Alter herangereift, wenn man immer oder keine Ferien mehr hat. So kann ich in süsser Melancholie träumen und erinnern...lG luga

 diestelzie meinte dazu am 02.06.22 um 19:27:
Erinnerungen sind wichtig. Es sollte allerdings auch noch Platz für Zukunftspläne geben.

Liebe Grüße
Kerstin

 tueichler (02.06.22, 11:54)
... so schön nostalgisch ...

😎

 diestelzie meinte dazu am 02.06.22 um 19:29:
Ich bin echt froh, dass du nicht "ostalgisch" geschrieben hast. Dieses Wort mag ich nämlich nicht :) .

Danke auch für deine Empfehlung.
Liebe Grüße
Kerstin

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 03.06.22 um 09:22:
Ich glaube nicht, dass die FDJ Zugriff auf westlich-dekandente Filme hatte bzw. diese den Jungpionieren im großen roten Komsomolzenzelt gezeigt hätte!

 diestelzie meinte dazu am 03.06.22 um 21:15:
Und ich glaube, du bist einfach im falschen Teil von Deutschland aufgewachsen, Dieter 😉.
wa Bash (47)
(02.06.22, 18:05)
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 diestelzie meinte dazu am 02.06.22 um 19:34:
Ja, es gab viele Familien, die diese Art Urlaub gemacht haben. Freut mich, dass uns anscheinend etwas verbindet :) .

Danke, auch für deine Empfehlung.
Liebe Grüße
Kerstin
wa Bash (47) meinte dazu am 02.06.22 um 22:23:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 AchterZwerg (03.06.22, 06:38)
Streckenweise hört es sich wie ein Urlaub in der Ukraine an, liebe Kerstin.
Gut, dass niemandem etwas passiert ist und deine Erinnerungen so weitergegeben werden können, incl. der Fontane-Spuren. :)

 diestelzie meinte dazu am 03.06.22 um 21:24:
Wir wurden beschützt damals. Die Sowjetunion war unser großer Bruder, heute heißen sie Russen und sind unser Feind 🤔. Jetzt sag mir noch einer, dass diese Welt nicht komplett verrückt ist!
Ich fühle mich übrigens im Wald noch immer sehr wohl und im Urlaub sollte auch irgendwo bissel Wasser sein 😊. Alles andere ist Unsinn 😉.
Danke, du Liebe, auch für deine Empfehlung. 

Liebe Grüße 
Kerstin

 Moja (03.06.22, 17:58)
Auch ich fahre immer wieder an die Orte meiner Kindheit, liebe Kerstin, so ähnlich wie bei dir beschrieben, wir paddelten auch durch Flüsse und Seen; Erinnerungen tauchen auf, die ich vergessen glaubte. Am meistens beschäftigen mich nun die Veränderungen, die das Gekannte überlagern, Verschwinden setzt ein, bald komme ich dort nicht mehr vor. Schöne Wehmut, deshalb gefällt mir deine Zeitreise so gut!

Lieben Gruß,
Moja

 diestelzie meinte dazu am 04.06.22 um 07:20:
Ja, die Welt verändert sich, liebe Moja. Aber wenn man genau hinschaut, ist doch noch einiges von damals da. Die Seen und Flüsse sehe ich heute auch mit anderen Augen. Ich weiß ihr Dasein auf jeden Fall mehr zu schätzen als damals. Mit dem Wald ist es genauso .

Danke, auch für deine Empfehlung. 
Liebe Grüße 
Kerstin
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