Wenn die Füße weh tun, wenn die Socken nicht helfen wollen, dann liegt es an den Knochen, dann musst du zum Arzt, sage ich mir. Zum Orthopäden, der richtet die Gelenke wieder her. Aber zu wem? Das letzte Mal war ich vor Jahrzehnten bei einem Knochendoktor, weil mein Fuß eingeschlafen war und nicht wieder aufwachte ... aber ehe ich mich hier im Labyrinth meiner Erinnerungen hoffnungslos verirre: Mein Knochen-und-Gelenkdoktor von damals praktiziert nicht mehr. Ich suche im Internet nach einem Fußspezialisten, und solche gibt es! Ich finde einen Arzt, er ist der richtige für mich, das schicke ich voraus. Dr. Pieczykolan betreibt eine riesige Praxis mit mehreren Behandlungsräumen, die in einem Halbkreis angelegt sind. Der Patient wird an der Rezeption zunächst ins Wartezimmer geschickt, wo er sich allein befindet, nach einer Weile aufgerufen und einem der Behandlungsräume zugewiesen, wo er wieder wartet. Schon jetzt ist der vereinbarte Termin deutlich überschritten, und es kommt noch einmal eine unbestimmbare Zeit des Wartens hinzu. Ich spüre, eigentlich weiß ich es schon: eine Stunde ist hier die kleinste Zeiteinheit. Ich sitze auf dem Stuhl und sehe mich um: Eine Behandlungsliege, fahrbare Geräte, die ich wahrscheinlich noch kennenlernen werde, darunter ein Sonograph. Auf dem Bildschirm eines Computers lese ich meinen Namen. Hier hat alles seine Ordnung, nur die Zeit fällt hier aus der Rolle, denke ich. Und ahne schon, die Zeit bereitet das Wunder vor, das Wunder, wenn der Doktor die Tür öffnet und die Erlösung naht. Ich schlage die „Dubliners“ von James Joyce auf, lese und lese, die Zeit vergeht, ohne dass ich es merke, und so entsteht die seltsam-labile Situation, dass das Erscheinen des Arztes, das ich eben noch wie die Erlösung herbeigesehnt habe, nun eine Störung darstellen würde. Entweder kommt der Arzt zu spät oder er kommt zu früh. Wie kann es da eine Mitte geben zwischen diesen beiden Polen, es sei denn es geschieht ein Wunder. Und so kommt es tatsächlich – Dr. Pieczykolan öffnet sacht die Tür, tappt langsam und fast unhörbar herein, und so finde ich die geheimnisvolle Lücke zwischen Erschrecken und Freude, und das ist das erste Wunder, das mir hier geschieht. Freundlich begrüßt er mich, ein schon älterer, sehr stattlicher Herr, mit leicht polnischem Akzent, freundlich, ruhig, sanft – und das zweite Wunder geschieht: die Unterbrechung der Zeitlosigkeit verschwindet wieder. Das Da-Sein des Arztes verschluckt die Zeit, als verschluckte sie sich selbst. Er wendet sich mir zu, hört mich an, befühlt meinen Fuß, sieht hinein mit dem Ultraschallgerät ... findet keine Erklärung für meine Schmerzen, keine Erlösung.
Aber das ist erst der Anfang der Zeitlosigkeit ... es folgen Röntgenaufnahmen, die auch nichts ergeben, bis das MRT einen klaren Hinweis gibt auf eine Nervenreizung ... Piezcykolan wendet seinen mächtigen Schädel mir zu, aus schalkhaft-gütigen Augen sieht er mich an und sagt:
„Rucke di guh, rucke di guh!
Blut ist im Schuh:
Der Schuh ist zu klein,
da fühlt der Fuß sich nicht daheim!“
Einige Tage später sitze ich wieder im Wartezimmer, dann in der Zeitlosigkeit des Behandlungsraums, ich schlage mein Buch auf, diesmal die „Ficciones“ von Jorge Luis Borges, und genieße die unendliche Warteschleife des Möbiusbands ...
Dann betritt Dr. Pieczykolan den Raum. Ich lege mich auf die Liege. Mein Fuß wird vereist. Der Schmerz ist immer zweifellos. Aber er kann gemildert werden. Der Doktor zieht die Spritze auf, die erste von fünf Hyaluronspritzen pro Woche ... Ich denke an eine Erzählung Kafkas – die Liege ist das Bett, das MRT der Zeichner, die Egge ist die Spritze, die Pieczykolan jetzt ansetzt. Ich fühle, wie während der Exekution das Bett zittert in winzigen, sehr schnellen Zuckungen seitlich und auf und ab, peinlich genau abgestimmt auf die Bewegungen der Egge. Kein Schmerz. Ich gehe ganz auf in meiner Einbildung ... Die Nadel schreibt sich ein in das Gelenk. Man kann aber nicht sehen, wie sich die Inschrift vollzieht, im Labyrinth der einander vielfach kreuzenden Nervenlinien ...
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ – „Ja ... ja“, sage ich, „ich war ganz woanders ... ich dachte die ganze Zeit an eine Erzählung von Kafka ...“
Eine Woche danach erhalte ich die zweite Spritze. „Und?“, frage ich, „wie lautet Ihr Urteil?“ – Pieczykolan lächelt: „Seien Sie gerecht, übertreiben Sie nicht Ihre Träumereien – und nun werden Sie gesund!“
Er muss Kafka gelesen haben – parbleu!
14.10.2022