Andres Großvater aus der Waffen-SS

Kurzgeschichte

von  Koreapeitsche

Wie mein Vater mir vor einiger Zeit erzählte, war Andres Grossvater in der Waffen-SS. Ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll. Der Mann sieht so harmlos aus, bis auf die Tatsache, dass ihm der linke Arm fehlt. Er grüßt immer höflich und nett, trägt eine Brille und ist stets anständig gekleidet. Seine Frau starb vor ein paar Jahren, sie war kurz vor ihrem Tod bereits ganz erblindet. Er führte sie am Arm untergehakt.
Andres Opa sah damals regelmäßig bei uns beim Fussball zu, wenn wir am Sonntagmorgen mit der A-Jugend spielten. Für den Fall dass es regnete hatte er immer einen Regenschirm dabei. Als ich von seiner Vergangenheit erfuhr, hatte ich Bedenken: ob er Leute umgebracht hat, und ob auch die anderen Großväter, mit denen er auf dem Sportplatz stand, in der SS waren. Ich fragte Andre nie nach der Vergangenheit seines Großvaters. Ich hatte Angst, das könnte unsere Freundschaft zerstören. Andre ist auch nach wie vor mein Freund, na ja, sagen wir mal mein Kumpel. Nur bereitet mir der Gedanke Angst, dass bei uns jemand durch den Ort läuft, der eventuell so einige Morde auf dem Konto hat, denn, das wissen wir ja alle, die SS und besonders die Waffen-SS waren eine kriminelle Vereinigung, ausgebildete Mörder, die sich auch an der Zivilbevölkerung vergriffen haben, auch an Frauen und Kindern. Die Historiker streiten sich mittlerweile nur darüber, ob die Wehrmacht sich ebenfalls an der Ermordung der Zivilbevölkerung beteiligt hat, was ja für die SS zweifelsohne bewiesen ist. Ich sehe jetzt vieles mit anderen Augen und frage mich manchmal, ob ich den Alten nicht einfach mal zur Rede stellen sollte. Aber, wer weiss, was passiert. Vielleicht entpuppen sich viele der Älteren als Altnazis, und es könnte sogar zu einer negativen Stimmung in unserer doch so harmonischen Nachbarschaft kommen. Vielleicht hat er ja niemals jemanden getötet und ist ein ganz korrekter Mann, der wie so viele einfach in die Sache hineingeraten ist. Vielleicht hat er ja einfach immer nur in die Luft geschossen, wenns ums Erschießen ging. Diese ganzen Massenmorde im Nazi-Reich sind einfach unfassbar. Es ist schier unglaublich, dass solche Killings damals vor gut sechzig Jahren auf der Tagesordnung standen. Nicht jeder kann so ein eiskalter Mörder gewesen sein, oder vielleicht doch? Mein Großvater war "nur" bei der Wehrmacht. Im Gegensatz zu Andres Grossvater, der sogar "Offizier in der SS" war, ist mein Grossvater nur Obergefreiter in der Wehrmacht geblieben mit zwei Streifen auf dem Ärmel. Ich fragte meinen Großvater Willy einmal, ob er jemanden erschossen hätte. Er verneinte eindeutig. Das wird wohl stimmen, aber nicht jeder Großvater kann diese Frage verneinen, denn es sind im zweiten Weltkrieg 55 Millionen Menschen umgekommen.

Mein Vater sagte, dass der Greis sich den Arm wohl selbst abgeschossen oder abgeschnitten hat, damit die Tätowierung der Blutgruppe, die ihn als SS-Mann identifiziert hätte, nicht mehr gefunden werden konnte. Das sollte ihn vor einer befürchtete Hinrichtung retten.

Ich erfuhr auch, dass Andres Großvater in Litauen stationiert war. Als ich eines Tages eine Litauerin in Berlin kennenlernte, hatte ich Angst, ihr diese Geschichte zu erzählen. Denn es kommen ja immer wieder Geschichten heraus, dass alte SS-Leute wiedererkannt werden und für Massaker und Massenmorde zur Rechenschaft gezogen werden. Ich befürchtete Konsequenzen und schwieg zu diesem Thema. Die Freundschaft zu der Frau aus Litauen litt darunter, denn ich fühlte mich nicht frei, über alles mit ihr zu sprechen. Wir trafen uns schließlich nicht mehr. Den alten SS- Mann sah ich später noch einmal. Ich grüßte ihn nicht. Insgeheim wünschte ich ihm, dass er bald sterben würde, damit dieses lebende Stück negative Erinnerung endlich aufhört zu existieren und nicht mehr durch unsere Nachbarschaft zu geistert.

Ich bekomme jedes Mal einen Schreck, wenn ich Rentner sehe, die so ähnlich wie Andres Opa aussehen, und davon gibt es viele. Ich schaue blitzschnell in Richtung linker Arm, ob dieser fehlt, denn ich habe Angst, ihn wiederzutreffen, da ich nicht weiß, wie ich mich verhalten soll, ob ich ihn grüßen soll, ignorieren oder verfluchen.

Ich erzählte auch meinem Freund Jan auf einer Party von dem ehemaligen SS- Schergen, davon, wie wir den Schergen mit seiner Frau am Kanal trafen, dass er sich nach dem Tod seiner Frau eine 40-jährige nahm, dass er früher bei Jugendfußball zuschaute, umringt von mrhtrtrm Leuten seines Jahrgangs.

Als wir ihn am Kanal trafen, lebte seine Frau noch. Ich machte gerade mit meinen Eltern einen Spaziergang. Er stand uns gegenüber, hatte den zusammengeklappten Regenschirm in der hand. Jetzt bewegte er den Schirm in Richtung des kaputten Arms. Er schaute nach links. Es sah so aus, als hätte er vergessen, dass ihm der linke Arm fehlt. Er schüttelte den Kopf mit einem fluchähnlichen stimmlosen Kehlkopfgeräusch. Schließlich nahm er den Schirm, klemmte ihn unter den Armstumpf, nahm sich ein Taschentuch aus der Hosentasche und schneutzte sich die Nase. Meine Eltern unterhielten sich kurz mit ihm und seiner erblindeten Frau. Er erzählte, dass sie demnächst goldene Hochzeit hätten und Announcen „bis runter nach Frankfurt“ inserieren wollen. Meine Mutter freute sich mit beiden zu sprechen. Ich stand daneben und fühlte mich wie ein kleiner Schuljunge. Bevor sie weitergingen, erzählte er, dass Andre zum Glück noch seinen Schweißschein gemacht hätte. Er sagte auch, dass die ganzen Abwasserrohre in Deutschland aus dem Dritten Reich stammen und demnächst ausgetauscht werden müssten, da sie alle defekt waren.

Jan vermutete, dass die Jugendfußballspiele damals eventuell für Alt-Nazi- Treffen hergehalten haben könnten, dass man nicht wissen könne, ob die sich wirklich für den Jugendfußball interessierten, oder ob die irgendetwas aushecken wollten. Jedenfalls hatten die Typen um Andres Opa herum rein gar nichts mit unserer damaligen Mannschaft zu tun. Sie waren wohl nur deshalb anwesend, da sie dort Andres Großvater treffen wollten. Wir spielten zu der Zeit recht rohen Fußball, und waren bald in der ganzen Spielklasse berühmtberüchtigt für unser unfaires Spiel. Wir stiegen schließlich in dieser Saison als Vorletzter ab, weit abgeschlagen vom rettenden drittletzten Platz, hinter uns nur noch Brunsbüttel.

Später traf ich Andre auf einer After-Work-Party in der Innenstadt. Wir tranken ein Bier zusammen und unterhielten uns. Irgendwann fragte ich „Sag mal, stimmt es, dass dein Großvater Offizier in der Waffen-SS war?“ Er wusste nichts davon: „Keine Ahnung,“ sagte er.

Später sah ich den Weltkriegsrentner mehrmals in der Einkaufstraße. Einmal hatte er die Bild-Zeitung unter seinen Armstumpf geklemmt.
Ich stand auch einmal an der Kasse hinter ihm. Er schien alles trotz seiner Kriegsversehrung gut zu meistern.

Später sah ich Andres Großvater mit seiner Lebensgefährtin. Es störte mich nicht, dass die Frau nur wenige Jahre Älter war als ich, er aber fast doppelt so alt wie sie. Ich war nach wie vor Single. Er war nur eine kurze Zeit seit dem Tod seiner Ehefrau alleine.

Mein Vater sagte mir damals, nachdem wir ihn bei einem Spaziergang am Nord- Ostsee-Kanal trafen, dass er Leutnant bei der Waffen-SS war. Ich fand das verherrlichend von meinem Vater, wie er das so ausdrückte. Das schien den alten SS-Schergen das anrüchige zu nehmen, dass durch die primitiv-brutal klingenden Rangbezeichnungen der SS erzeugt wurde, und durch das Wissen um das menschenverachtende Handeln dieser Verbrecher noch verstärkt wurde. Später las ich in einem Buch über den Holocaust, dass der Massenmörder Eichmann Obersturmbannführer war. In Klammern stand dahinter Oberleutnant. Daraus schloss ich, dass Andres Großvater Sturmbannführer gewesen sein muss, auch wenn mir das niemand bisher bestätigen konnte. Das bedeutet, dass der sich in der Hierarchie nur einen Dienstgrad unter Adolf Eichmann befand.

Später hatte ich mit meinen Eltern Probleme. Es gab häufig Streit mit meinem Vater, der schon immer einen sehr harten Erziehungsstil mir gegenüber an den Tag legte. Mein Schwager, der Ehemann meiner Schwester war Hauptkommissar bei der Kieler Polizei. Von Jahr zu Jahr verstand ich mich schlechter mit Ihnen und mit meinen Eltern. Immer, wenn meine Mutter gereizt war, hielt ich ihr provozierend vor: „Du hast wohl wieder mit dem alten Paulsen gesprochen!“ und meinte damit Andres Großvater. Ursprünglich war meine Mutter mit der Tochter von dem Alten gut befreundet, die zugleich Andres Mutter ist. Ich lernte Andre beim Spielen bereits lange vor unserer Einschulung kennen. Der Streit mit meinen Eltern ging sogar so weit, dass ich meinen Eltern verbot, mit dem ehemaligen SS-Mann zu sprechen, da ich wirklich Angst hatte, er könnte ein Massenmörder sein.

Als ich schließlich mein Studium abschloss, war ich für eine Weile auf Sozialhilfe angewiesen. Wir hatten in unserem Stadtteil extra ein kleines Sozialamt. Davor standen häufig düstere Gestalten, die bereits morgens die ersten alkoholischen Getränke zu sich nahmen.

Eines Tages stand auch der alte Paulsen hier, doch er war dort ganz alleine, als würde er dort Spalier stehen, und schaute hinauf zur gegenüberliegenden Kirchturmuhr.
Das beunruhigte mich ein wenig. Später bekam ich auf dem Sozialamt Ärger, da ich mich von einem der Mitarbeiter schlecht behandelt fühlte. Meine Nerven waren stets besonders angekratzt, da ich auf dem Weg ins Sozialamt jedes Mal an den alten Paulsen denken musste, und manchmal sogar vermutete, dass er dass Böse verkörpert, weil er an Massenmord beteiligt gewesen sein könnte, ein Verbrechen, das nie verjährt. Als ich schließlich las, das es in Litauen, wo er laut meinem Vater stationiert gewesen sein soll, ganz verheerende
Mordexzesse gegeben hat, brach bei mir eine Art Panik aus: „Wohnt in unserer Nachbarschaft ein Massenmörder?“

Mein Schwager hielt sich derweil aus all dem heraus. Ich bin mir aber sicher, dass die Problematik an ihn weitergetragen wurde, zumal ich meinen Eltern dieses Kontaktverbot nahegelegt hatte.
Es gab weiter Streit in unserer Familie, bis meine Mutter schließlich damit drohte, mich von einem Amtsarzt zwangsuntersuchen und endmündigen zu lassen. Ich dachte, das kann doch nicht sein, da wohnt bei uns in der Nachbarschaft ein vermeidlicher Massenmörder vollkommen unbehelligt, und ich, der sich darüber beschwert, dass meine Eltern sich mit ihm unterhalten, werde unter Druck gesetzt und soll für krank erklärt werden.

Und vor allen Dingen: was sollte aus meiner Freundschaft zu Andre werden? Was passiert, wenn ich den alten Mann einfach anzeigen würde? Könnte ich Andre danach jemals wieder in die Augen sehen? Es war ein einziges Drama.
Mein Geisteszustand ließ langsam wirklich zu wünschen übrig: immer wenn ich einen Kaffeebecher mit abgebrochenem Henkel sah, kam mir die Bruchstelle wie ein Armstumpf vor und ich musste an Andres Großvater denken. Bei fast jedem Buch, dass ich über das Dritte Reich las, musste ich wieder an Andres Großvater denken, und ich bekam Angst, ihn auf einem der unzähligen Fotos wiederzuerkennen.

Doch die Geschichte sollte uns alle bald einholen. Es war vielen Leuten bekannt, dass sich in unserem Stadtteil mehrere Arbeitslager befanden, wahrscheinlich drei an der Zahl. Jetzt vermuteten einige, dass sich bei uns sogar ein Massengrab befinden könnte. Wahrscheinlich liegt es unter dem Sportplatz neben den ehemaligen Baracken. Ich hörte in einem Gespräch auf dem Fußballplatz einen der Älteren zynisch sagen: „Hier findest du noch ein paar Moorleichen.“ Andres Opa weiß bestimmt Bescheid. Inzwischen ist Andres Großvater sicher tot. Mein Großvater auch. Der hätte das bestimmt ebenso gewusst. Die steckten doch alle unter einer Decke. 



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