Der Karate-Europameister
Kurzgeschichte zum Thema Sport
von Koreapeitsche
Der Karate-Europameister
Es war einmal ein Karate-Meister, der zwar etwas kleiner gebaut war als die meisten seiner Kontrahenten, der jedoch kräftig und gewandt war und wirklich alle wichtigen Techniken beherrschte, und dazu die Karate-Bezeichnungen aus dem Effeff (lat.: ex forma, ex functione) kannte, sowohl auf Deutsch als auch auf Japanisch, diese obendrein umsetzen, vorführen und anwenden konnte. Der Kampfsportler war ein rechtschaffender Mann, der seinen Gegenüber aufrichtig und offen in die Augen schauen konnte und durch sein freundliches Lächeln stets Zuversicht auszustrahlen vermochte. Er trainierte eine mittelgroße Trainingsgruppe, nahm regelmäßig an Wettkämpfen teil und trainierte gezielt für Meisterschaften. Bald hatte er mehrmals die Deutsche Meisterschaft in seiner Fachdisziplin gewonnen. Diese Fachdisziplin war das Präsentieren verschiedener Karateformen, auch Kata genannt. Im Karatezweikampf, Japanisch Kumite, erzielte er sehr gute Ergebnisse, auch wenn es in dieser Disziplin nie zu einem Meistertitel reichte. Schließlich krönte er seine Karriere mit dem Titel des Senioren-Europameisters. Er feierte den Erfolg mit seinen engsten Vertrauten, und der Alkohol floss in Strömen, besonders der Whiskey. Jetzt zog er sich vom Wettkampfsport zurück, trainierte in seiner Dojo genannten Trainingshalle weiterhin auf höchstem Niveau, sodass er seinen Ruf als erstklassischer und beständiger Karateka weiter bestätigte. Doch mit der Zeit bekam er Hüftprobleme, sodass eine Hüft-OP unausweichlich war. Er war inzwischen 60 Jahre alt. Als obendrein ein Nierenstein lokalisiert wurde, sollten zwei OPs innerhalb weniger Wochen anstehen. Inklusive der Erholungsphase würde das bedeuten, dass er für eine längere Zeit kein Karate mehr trainieren konnte. Allerdings spielte im Hintergrund der Wettkampfgedanke immer noch eine wichtige Rolle, obwohl er gar keine Wettkämpfe mehr bestritt. Deshalb wollte er arrangieren, dass beide OPs, sowohl die Hüft- als auch die Nierenstein-OP am selben Tag direkt nacheinander stattfinden sollten. Das wäre allerdings ein hoher organisatorischer Aufwand. Immerhin wären Chirurgen zweier unterschiedlicher Disziplinen an den jeweiligen OPs beteiligt, und jede Klinik hatte ein eigenständiges OP-Management. Ansonsten hätte er nach der ersten Operation und einer gewissen Genesungszeit erst den zweiten Eingriff haben können, und es war nicht absehbar, wie viel Zeit zwischen beiden Terminen vergehen würde und ob es zusätzliche Verzögerungen gab. Das alles wollte der Karate-Mann vermeiden. Er wollte den Operationstag so schnell wie möglich hinter sich bringen, um nach einer Genesungszeit sofort wieder ins Training einsteigen zu können. Schließlich trug er diesen Wunsch in der Klinik vor. Der behandelnde Arzt kam dem Ansinnen des Patienten nach, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben. Doch die Zusammenlegung der Termine barg Risiken. Der Sportler war physisch sehr fit, da er bis zur OP immer noch hart trainierte, jedoch teils unter Schmerzen. Kurz vor dem Krankenhaustermin machte er mit seiner Freundin Urlaub auf Fuerteventura.
Er war gewappnet. Allerdings hatte die Doppel-OP Konsequenzen für die zu verabreichende Anästhesie. Das Anästhetikum musste angepasst werden. Es musste halt länger wirken und für zwei aufeinanderfolgende Operationen eine Vollnarkose erzeugen, oder es müsste in kurzem zeitlichen Abstand eine zweite Narkose erfolgen.
Als er sich zum OP-Termin in der Chirurgischen Klinik einfand, war er sich sicher, in wenigen Wochen wieder am Karate-Training teilnehmen und dies wie gewohnt leiten zu können. Noch unter Narkose würde er einen unterirdischen Gang in die Urologische Klinik gebracht. Doch es gab im weiteren Verlauf Komplikationen, deren Ursachen nicht bekannt sind. Die Dosis des Anästhetikums muss falsch berechnet oder falsch verabreicht worden sein, sodass es zu einem Anästhesieunfall kam und der Sportler einen Schlaganfall erlitt. Zwar wurden sowohl die Hüft-OP als auch die Nierenstein-OP durchgeführt, doch nach dem Erwachen aus der Narkose war irgendetwas anders. Den Ärzten wurde schnell klar, dass es Komplikationen gegeben haben musste. Nach ein paar medizinischen Tests war absehbar, dass der Sportler das Anästhetikum nicht vertragen hatte, was zu dem Schlaganfall führte. Als der Karateka schließlich aus der Klinik entlassen wurde, war er deutlich geschwächt. Seine Stimme wirkte zerbrechlich und monoton. Er magerte in den folgenden Wochen und Monaten immer stärker ab, wurde vergesslich und war nicht mehr der Alte. Dennoch stieg er wieder ins Training ein, leitete wieder seine zwei Trainingsgruppen und versuchte die Vereinsgeschäfte wieder aufzunehmen. Doch er konnte das hohe Niveau als Karate-Meister aus Zeiten vor der OP nicht mehr erreichen. Die Teilnehmer der Karategruppe waren verunsichert, weil der Trainer sich so stark verändert hatte. Er war nicht mehr so dominant und kompromisslos wie früher, wirkte weniger reaktionsstark und nicht mehr so schlagfertig in der Interaktion mit den Trainingsteilnehmern. Einige Abläufe erschienen schwerfällig und unkoordiniert. Er wirkte erschöpft und ausgelaugt, vergaß schlichtweg Abläufe, die er gerade eben noch erklärt und vorgeführt hatte oder brachte sie durcheinander. Als den Teilnehmern die Verhaltensänderungen bewusst wurden, waren sie verzweifelt und fast panisch.
Bis auf den heutigen Tag konnte nicht geklärt werden, wer oder was genau für diesen Anästhesieunfall verantwortlich war. Hatte der Anästhesist oder die Anästhesistin die Dosis falsch berechnet? War es ein Stückweit der Übermut des Karate-Athleten, der trotz des Alters von 60 Jahren die Ärzte bat, beide OPs direkt nacheinander abzuhandeln. War ihm nicht bewusst, dass er kein junger Vollprofi war, bei dem es um Zeit und Geld und Höchstleistungen ging? War der Wunsch zu groß, möglichst schnell wieder Leistung zu bringen? Oder war es nichts anderes als ein Unfall, eine verhängnisvolle Verkettung ungünstiger Umstände? Da drängt sich der Denksatz des Lateinlehrers auf: Sport ist Mord.