Erster Besuch beim Psychotherapeuten

Der Platz vor dem Haus mit der psychotherapeutischen Praxis wirkt in seiner Leere wie ein schwach ausgeleuchteter Sportplatz in einer verlassenen Ortschaft. Paul schleppt all seine leidvollen Erfahrungen mit seiner Frau die Treppen in den dritten Stock hinauf und drückt zögerlich den Klingelknopf mit dem Namensschild:

Dr. Erwin Fischer – Psychologische Praxis

Nach dem Summen des Türöffners betritt er einen kleinen Flur, in dem ihm ein schmalbrüstiger älterer Mann entgegen kommt und die Hand schüttelt. Nachdem sie sich in dem kleinen Behandlungszimmer gesetzt haben, fragt Dr. Fischer:
„Wo brennt es und was kann ich für Sie tun?“
„Ach Herr Doktor, wenn ich meinen leidigen Tagesresten nachts entfliehen möchte, lege ich mich neben meine schlafende Frau und starre die Decke an. Sie müssen wissen, dass ich Rückenschläfer bin und schnarche, wenn ich endlich meine Traumwelt betreten habe. Christine ist immer sauer und weckt mich. Ich drehe ihr dann die Kehrseite zu und versuche einzuschlafen. Das klappt aber fast nie und dann simuliere ich zunächst das Schlafen, damit sie endlich aufhört mit mir rumzumeckern.“

Dr. Fischer weiß aus Erfahrung, dass ein sozialer Konsens mit seinen Klienten eine Analyse erträglicher machen kann. Letztendlich gilt dieser dann als geheilt, wenn er seine fachliche Deutung der Probleme angenommen hat. In dem Sinne wird er vorgehen. Nach einer kleinen Pause fährt er fort:
„Kehren Sie doch ihrer Frau mal ihre Vorderseite zu und schauen ihr liebevoll in die Augen, geben ihr einen Kuss und wünschen schöne Träume.“
„Ach Herr Doktor, das habe ich schon versucht, doch da ist sie sofort misstrauisch und bringt Laute hervor, die hart und jäh sind wie plötzlicher Steinschlag.“
„Mir scheint, dass Ihnen dann keine andere Wahl bleibt als dem Grenzen zu setzen. Zum Beispiel könnten Sie sich ihr eigenes Reservat schaffen und in getrennten Betten oder gar Zimmern schlafen.“
„Ist das nicht so etwas wie eine aufgegebene Liebe und besteht dann nicht die Gefahr einer endgültigen Trennung?“
„Das kann schon sein. Wer den alten Bund aufkündigt ist versucht das Geschehen der zurückliegenden Jahre zu löschen und die Welt mit der Lüge zu betreten, dass jetzt das Leben neu anfängt. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein, wenn Sie sich für eine Trennung entscheiden. Gehen Sie in sich, ob Sie das wirklich wollen. Es gibt immer Alternativen.“

Dr. Fischer wusste, dass er diesen neuen Klienten erst mal an der Angel hatte, freute sich über die vielen zu schreibenden Honorarrechnungen, stand auf und sagte abschließend:
„Kommen Sie wieder, wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben.“

Nach etwas Small-Talk erhob sich Paul, wurde zur Ausgangstür begleitet und dort mit dem Spruch “Kopf hoch“ und einem warmen Händedruck verabschiedet.