Kein Halt // Im Dorf

Innerer Monolog zum Thema Vergänglichkeit

von  mrakkkk

Es ist ein langsames Dahintreiben. Kein schneller Fall, wie man vielleicht erwarten könnte.

Langsam über die Brücke gehend, die zum Dorf führt, betrachtet er die dunkel aufziehenden Wolken. Ein kleiner Ort, der höchste Punkt weithin sichtbar der Kirchturm, größere Fabrikanlagen, deren Produkte sogar weltweit exportieren sollen, liegen außerhalb in einem eigens angelegten Industriegebiet. 


Er hatte hier nicht viel zu erwarten, es würde wohl ein weiterer Besuch seiner alten Heimat werden, bei dem es wohl bei einem kurzen Aufenthalt bleiben würde. Es gab hier nichts mehr für ihn zu tun. Alles, was er hätte tun können, lag in der Vergangenheit, hätte längst getan werden müssen, ja, einiges hätte verhindert werden können, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. War er nicht gewesen, hatte er nicht getan, aus den verschiedensten Gründen.

Er fragte sich, ob er sich vielleicht erklären sollte. Er hatte irgendwann Kafkas Werke gelesen. Der war auch über eine Brücke in ein Dorf gegangen, Schnee hatte gelegen. Hatte man ihn angeklagt? Nein, das war ein anderes Werk. Er hatte aber jedenfalls in einer schier endlosen Geschichte beschrieben, wie der Protagonist versucht hatte, sich für ein unbekanntes Verbrechen zu rechtfertigen. Verhaftet hatte man ihn und doch auch wieder nicht verhaftet, denn er sollte seinem Tagewerke weiterhin nachgehen. Am Ende starb er.

Die Hauptstraße geht er entlang, vorbei am Haus, das einst von Süden kommend das erste Haus gewesen war. Hier hatte sein Urgroßmutter gelebt. Ein langes, arbeitsreiches Leben war es gewesen. So nahe am Rhein, vielleicht gute 15 Kilometer und doch war ihm in Erinnerung, dass sie über ihre Eltern gesagt hatte, diese seien gestorben, ohne den Fluss jemals gesehen zu haben. Einfache Bauern, ein paar Stück Vieh, wie man hier sagt, Gemüse und Fleisch für den Eigenbedarf, von der Hand in den Mund, eine Vergangenheit, die er nie erlebt hatte. Zu seiner Zeit hier hatten nach und nach die vielen Kleinbauern einer nach dem anderen ihr Gewerbe aufgegeben. Warum um alles in der Welt hing er so sehr an einer Vergangenheit, die er selbst nicht kannte? Er romantisierte sie, schmückte sie sich aus, sah glückliche Bauern bei der Brotzeit auf dem Felde und auch am Küchentisch saß ein jeder an seinem Platz, drei Generationen beisammen, Brot und hausgemachte Wurst auf dem Tisch, von der Arbeit am Abend ermüdete Männer und Frauen, eine kleine Welt, übersichtlich, vorhersehbar. Wie er wusste, von so manchem nur zu ertragen mit dem selbstgebrannten Schnaps, der tagein- tagaus in rauhen Mengen konsumiert wurde.


Hier gab es niemanden mehr, dem er hätte erklären können, warum er fortgegangen war.



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

Agnete (66)
(14.03.23, 22:53)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram