Herbstlied

Gedicht

von  Quoth

Hat nicht der Herbst mich selbst
ergrauend überwältigt
und rüttelt mit aller Gewalt
an meines Körpers Bau?
Doch ist, o Schreck, mein Herz
noch jung und dumm geblieben,
erschöpft sich in Systolen,
hat nichts, ja nichts gelernt und
verlor aufs Neue sich.
Frauenschönheit, grausamste
Waffe der Mutter Natur,
wie hast du mich verwundet!

Kann ich sie anders anschaun
als aufblickend? Nein, und das
obgleich sie kleiner ist als ich,
eine so starke Persönlichkeit,
leidlächelnd, eine Verliererin,
die doch immer gewinnt,
ach, Athene, lass
dein Ulyss mich sein,
würdig deiner Gnade.
Frauenschönheit, grausamste
Waffe der Mutter Natur,
wie hast du mich verwundet!

Wie verbinden sich Anstand,
Würde und Anmut in ihr,
gar nicht zu reden von Tugend
und von Bescheidenheit,
obgleich über Herden von Vieh,
über Massen von Land sie gebietet,
Demeters Fruchtbarkeit
ist ihren Händen zu eigen,
die ich zu küssen nicht wage.
Frauenschönheit, grausamste
Waffe der Mutter Natur,
wie hast du mich verwundet!

Liebreiz der klagenden Witwe,
die Adonis verlor -
wie hat er dieser Frau
vorziehn können die Jagd,
die ihn, den Schönsten, erschlug?
Überheblich und lächerlich wär’s,
träumte verliebter Greis
an seine Stelle sich.
Ach, ich wälz mich im Staub
vor der Entzückenden.
Frauenschönheit, grausamste
Waffe der Mutter Natur,
wie hast du mich verwundet!

Und säh ich sie, die Schönste
der Schönen im Bade,
gleich wüchse mir auf der Stirn
ein veritables Geweih,
und mir wär’s ein Genuss,
zerrissen mich wie Aktäon
ihre wütendsten Rüden,
denn sie zu sehen, es lässt
pling! zerspringen mein Herz.
Frauenschönheit, grausamste
Waffe der Mutter Natur,
wie hast du mich verwundet!




Anmerkung von Quoth:

Pate stand der Minnesänger Ulrich von Winterstetten (etwa 1225-1280). Auf ihn kam ich, weil Martin Selge, älterer Bruder des Schauspielers Edgar Selge, dessen Erinnerungsbuch "Hast du uns endlich gefunden" ich hier im Forum besprochen habe, ihn erforscht und übersetzt hat.

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Kommentare zu diesem Text


 Tula (10.10.23, 21:06)
Hallo Quoth
Nicht modern, aber ein bemerkenswerter Text.


gleich wüchse mir auf der Stirn
ein veritables Geweih

Das wünsche ich eigentlich niemandem, der wirklich von Herzen verliebt ist  ;)

LG
Tula

 Quoth meinte dazu am 11.10.23 um 09:25:
Ich habe versucht, mich in die masochistisch-charmante Gefühlswelt des Minnesängers einzufühlen. Sie ist übrigens der von Petrarca sehr nahe, der rund 100 Jahre später die Sonettform dafür popularisierte.
Winterstettens Lieder bestehen aus fünf neunzeiligen Strophen, deren erste sich mit Natur und Jahreszeit befasst, die anderen vier preisen die "Herrin" (frouwe von fro, der Herr) und beklagen ihre Grausamkeit. Jede Strophe wird mit einem dreizeiligen Kehrreim abgeschlossen.
Die Fülle der Reime ist so groß, dass ich gar nicht erst versucht habe, sie nachzuahmen.
Danke für Empfehlung mit Kommentar, lieber Tula. Quoth

Antwort geändert am 11.10.2023 um 09:25 Uhr

Antwort geändert am 11.10.2023 um 10:35 Uhr

Antwort geändert am 11.10.2023 um 17:56 Uhr

 Beislschmidt antwortete darauf am 15.10.23 um 14:02:
Gerade hab ich mich auch im Staub gewälzt. So viel Demeter, samt veritablem Geweih haben mich doch geschockt.
Beislgrüße

 Quoth schrieb daraufhin am 16.10.23 um 21:38:
Stimmt, es fehlt nur noch die Zwergenwiese! Danke für Empfehlung mit Kommentar!
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