Abschied nehmen

Prosagedicht

von  Redux

Wir müssen Abschied nehmen
von dem warmen Mutterbauch.
Der Zeit zuvor.
Und wir sagen dem Leben Hallo,
sieben oder vierzig oder achtundachtzig Jahre lang.

Wir nehmen Abschied von der Luft,
die wir eingeatmet haben.
Und atmen wieder ein und aus.
Nehmen Abschied von den Augenblicken,
die sich verflüchtigen am Rande der Troposphäre.

Wir nehmen Abschied
vom Schnuller und vom Schaukelpferd.
Von Opa und Oma und Papa und Mama.
Von einem Abend in Mittelschweden
und einem See mit unbewegten Wasserspiegel.

Und wir sagen Hallo
zu einem neuen Himmel
und einer sich stets verändernden Erde.
Zu Gras, das wächst.
Zu Regen in Pfützen, der verdunstet.
Zu Blüten, die in Frühlingsnächten aufbrechen
und nach Tagen und Wochen braun und gelb verfallen.

Wir nehmen Stoffe und wir geben sie wieder her.

Wir nehmen immer wieder Abschied
von Stunden und von Tagen und von Jahren.
Und nehmen neue Zeiten in uns auf.
Wir nehmen Abschied von den Augenblicken,
die dahinhuschen in einem quirligen Strudel
der Vergessenheit.

Und wir nehmen Abschied
von Bildern und Träumen und Wünschen,
damit sie weiterleben
in anderen Bildern,
in anderen Träumen
und in anderen Wünschen.

Wir nehmen Abschied
von den Stunden der Nacht und des Schlafs,
wenn wir morgens um sechs die Augen aufschlagen,
damit neue Stunden des neuen Tages kommen.

Wir sagen Hallo zum Leben,
zu der uns geschenkten Zeit.
Und noch bevor wir mit ihr stillstehen,
ist alles vorbei.

Wir sind.
Immer sind wir.
Vom ersten Augenblick bis zum letzten Augenblick.
Sind wir.
Aber das sind ist nicht zu fassen.
Das Sind steht niemals still.
Das Sind ist flüchtig.
Das Sind ist Fluss.
Das Sind ist immer plus oder minus.

Das Dazwischen muss das Paradies sein.
Oder Gott.
Oder die Ewigkeit.
Nicht messbar.
Verschlossen.

Manchmal möchte ich die Zeit zerschneiden.
Eine klaffende Wunde zwischen Vergangenheit und Zukunft reißen.
Dem Sind einen glühenden Kuss geben
und Abschied nehmen vom Abschied nehmen.

 



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Kommentare zu diesem Text


 diestelzie (27.10.23, 17:19)
Der Herbst zeigt uns immer die Vergänglichkeit. (In wunderschönen Farben)Wir nehmen Abschied vom Sommer und das tun wir nicht gern. Es wird uns in dieser Zeit recht melancholisch ums Herz. 
Trotzdem möchte ich noch nicht Abschied nehmen vom Abschied nehmen, denn dann kommt auch nix Neues mehr, worauf ich neugierig sein kann. 

Liebe Grüße 
Kerstin

 Redux meinte dazu am 29.10.23 um 12:41:
Guter Gedanke, liebe Kerstin.
Ich weiß, was du sagen willst.

LG Herbert

 Aron Manfeld (27.10.23, 19:11)
Dieses Gedicht wirkt so beruhigend, lieber Herbert, dass ich es mir als Einschlafhilfe ausgedruckt habe.

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 27.10.23 um 19:13:
Du bist schon wieder ein Herzerl.😂😂😂

 Redux schrieb daraufhin am 29.10.23 um 12:42:
Danke euch.
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