Wäre ich ein Tellerwäscher in New York in den zwanzigern des letzten Jahrhunderts

Prosagedicht

von  Redux

Wäre ich ein Tellerwäscher in New York
in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts,
würde ich vielleicht abends am Hafen
am Rande des Atlantiks sitzen,
mit meinen Augen,
in denen sich das Rot des Firmaments spiegelt,
zum fernen Europa blicken.

Und vielleicht würde meine große Liebe auf mich warten,
nur wenige Straßenzüge entfernt,
in der dritten Etage eines Hauses.
Und vielleicht würde sie frisches Obst bereiten
und duftende Kerzen anzünden,
für mich, ihre große Liebe.
...
Und wenn wir spät abends,
das Tuch der Nacht im dunklen,
sternendurchzogenen Raum über uns,
auf einem Balkon stünden,
würde vielleicht Enrico Caruso aus einem alten Grammophon erklingen.
Und draußen im Hafen hörten wir
die Schiffssirenen, die Rufe und Lieder der Arbeiter,
wäre ich ein Tellerwäscher in New York…

es würde mich treffen das Elend und der Jammer,
das Glück und die Schönheit des Lebens
wie in jedem anderen Sein.

Ich hätte eine Vergangenheit
und vielleicht eine Zukunft,
vielleicht aber auch nicht mehr
und vielleicht auch nicht weniger,
vielleicht aber auch nicht,
aber diesen Abend hätte ich
mit einem Nachthimmel unerreichbarer Sterne
und unerreichbarer Unendlichkeit,
mit dem Atem eines mich liebenden Menschen,
mit Küssen und der Zauberkraft
des ewigen Augenblicks,
mit den Schiffssirenen,
den Stimmen der Nacht,
den Liedern Carusos
in diesem einen Sein.

Wäre ich ein Tellerwäscher in New York gewesen
in den zwanziger Jahren,
lägen ich und dieser Abend,
Obst und Kerzen und der Hafen,
der Sternenhimmel und die Küsse
einer schönen Frau
im Vergessenen
eines ewigen Augenblicks.

 

Ja, das würde ich gerne glauben und erleben.

 



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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (12.10.23, 19:22)
Die Träume gehen auch am Schotterteich, dennoch, wieder wunderschöne Gedanken, sehe dich vor mir, mit Hose und Hosenträgern und Käppi. Ganz hübsch mit Brillatine😍

 Redux meinte dazu am 12.10.23 um 19:27:
Danke. Das Käppi wäre ein Muss: siehe Profilbild...siehe wallendes Haar...

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 12.10.23 um 19:30:
Haha!

 Redux schrieb daraufhin am 12.10.23 um 19:41:
Das ist nicht zum Lachen.
Im Ernst: mir egal. Mein Opa war mit 35 fast kahl....

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 12.10.23 um 19:51:
Dir steht das sowieso!

 Redux ergänzte dazu am 12.10.23 um 19:53:
Ich weiß...
Naja...ich hatte mit 20 nackenlange Haare...wirklich....der Zeit geschuldet

 AchterZwerg (13.10.23, 17:11)
Herr Bert,

hier ergänzen sich Traum und weitergegebene Erinnerungen zu einer Utopie, die so nie stattgefunden hat! 8-)

Sehr apart!

 Redux meinte dazu am 13.10.23 um 18:40:
Du hast es genau erkannt. Ein wenig sentimentale Träumerei...weil es so schön ist...
Danke Zwerglein

 Quoth (25.10.23, 18:21)
Nostalgie at its best ... Verklärung, vielleicht auch Versüßlichung einer durchaus auch harten Welt. Was mich irritiert, ist das Abendrot beim Blick nach Europa, also nach Osten. Vielleicht ein Verfremdungseffekt? "Leser, glaub mir nicht alles!" Gruß Quoth

 Redux meinte dazu am 25.10.23 um 18:28:
Danke vorab...hmmm...ich bin jetzt ein wenig am rudern, aber du hast, glaube ich, recht: es ist das Morgenrot...
Denkfehler, ??

 Quoth meinte dazu am 28.10.23 um 19:15:
Auch in New York geht die Sonne im Westen unter ... Aber sie über Europa untergehen zu sehen gefiel Dir besser (weil es mit Europa ja bachab ging). Künstlerische Freiheit!
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