Prinzessin sein

Text

von  Lilo

Meine Mutter hat so dünnes Haar, dass es ihre Ohren nie ganz bedeckte, nie hat sie einen Pferdeschwanz getragen oder geflochtene Zöpfe, nicht mal als Grundschulmädchen. Es bereitete ihr Unbehagen, mich zu frisieren. Ich spürte ihre Anspannung im Nacken, wenn sie mich kämmte, unsanft und unnahbar, mit fahrigen Bewegungen. Als wäre ihr mein langes Haar fremder als ich ihr vertraut. Wir waren beide froh, wenn wir es hinter uns gebracht hatten. Es war sinnlos, mir die anspruchsvolleren Frisuren zu wünschen, die ich bei anderen Mädchen sah: französische Zöpfe, Kränze, Affenschaukeln. Sie brachte es gerade so zu einem Pferdeschwanz. Trotzdem glaubte ich ihr, wenn sie mir sagte, dass sie meine Naturkrause mochte. Sie sah sie ja gerne an. Sie wusste bloß nichts damit anzufangen. Ich nahm das hin und bedauerte es nur heimlich, dass mir damit einen Genuss verwehrte. Als Komplizin im Schönmachen war sie nicht zu gebrauchen. Das war zu schlucken. Später stellte ich einigermaßen überrascht fest, wie gerne manche Mädchen andere frisierten. Ich selbst lernte es nie, ob aus motorischer Unbegabtheit oder vielleicht aus dem irren Trotz heraus, das, was ich selbst nicht erfahren hatte, nicht geben zu können. Ich verstand mich nur auf mein eigenes Haar. Und jetzt auf Ennos, das fast wie mein eigenes war, fester und dichter zwar, aber mit derselben Neigung, zu verknoten und zu verfilzen.

 

Enno hatte keine Geduld für seine Haare. Er kämmte sie nicht, band sie nur zum Pferdeschwanz und ließ die Nester am Hinterkopf sein, sodass sie sich zu riesigen Filzklumpen zusammenwuchsen. Am Abend, bevor er zurück in die Klinik musste, kämmte ich sie ihm mit einem groben Kamm aus. Langsam löste ich einzelne Strähnen aus dem Klumpen, den Kamm senkrecht haltend, dann nahm ich mir die Spitzen vor und arbeitete mich so von unten nach oben, bis es möglich war, sie vom Ansatz bis zu den Spitzen durchzukämmen, ohne stecken zu bleiben. Ein paar kleinere besonders feste Knoten riss ich vorsichtig heraus. Es dauerte über eine Stunde. Ich spürte, wie er innerlich zappelte. Aber ich hatte eine merkwürdige Ruhe in mir. Als ich fertig war, küsste er mich auf beide Augenlider, die Nasenspitze und den Mund und sagte: „heute war ich Prinzessin“.


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