Geburtstag

Text

von  Lilo

Es ist noch nicht einmal Mittag und gut die Hälfte der Menschen, mit deren Glückwünschen ich gerechnet hatte, haben schon angerufen. Die andere Hälfte wird abends anrufen. Das ist keine Überraschung. Die Anrufe sind ihrem Alltag angepasst. Sie finden in sogenannten Zeitfenstern statt. Die es auch sonst gibt. Ein paar Minuten, vielleicht insgesamt eine Stunde am Tag, in die alles gepackt wird, was von der alltäglichen Routine abweicht. Trotzdem gibt es jedes Jahr Überraschungen. Jemandem fährt ein unvorhergesehenes Ereignis in den Alltag wie ein Auto in einen Obststand am Wochenmarkt. In nur einer Sekunde zerspringt die überschaubare Ordnung, die Äpfel von Aprikosen von Avocados trennt, in ein Durcheinander. Der Mensch findet sich nicht darin zurecht. Vielleicht wird ihm die Willkür seiner Ordnung für in einem kurzen, besinnungslosen Moment bewusst. Dann macht er sich an die Widerherstellung der Ordnung. Die Aprikosen sind zermatscht, ein paar Äpfel weggerollt. So ein Apfel ist der Geburtstagsanruf. Ich wundere mich über die ausbleibenden Anrufe, ich an sie gewöhnt bin. Es enttäuscht mich nicht. Irgendeinen Grund wird es geben. Wahrscheinlich einen Grund, der nichts mit mir zu tun hat. Und wenn doch – um so besser. Es gibt auch die umgekehrte Überraschung. Jemand, mit dem ich mich auseinandergelebt glaube, erinnert sich plötzlich oder entschließt sich spontan zu einem Lebenszeichen. Im Grunde sind das die einzigen Anrufe, über die ich mich freue. Darin geht es nicht um mich, sondern um die Freundschaft selbst. Es sind die einzigen ehrlichen Gespräche, bei denen ich ehrliche Freude empfinde und mich auf die Frage „wie geht es dir?“ nicht in Lügen winde, um die Fragenden nicht zu enttäuschen.


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