Papa ist Paul ist Arbeit ist Abwesenheit

Text

von  Lilo

Ennos Schwester sagte Mutti, aber Enno sagte Mama. Mama und Papa. Er sagte das mit einem Nachdruck, den ich nicht kannte. Er sagte nicht: das sind sie für mich und das bleiben sie für mich. Aber so klang es. Er stand vor mir, in seiner Unterhose und irgendeine Gewissheit ging von ihm aus. „Ich sage Mama und Paul“, meinte ich. Enno lachte, ich blieb ernst. Das Wort Papa habe ich verloren. Nicht das Wort. Die Ansprache. Ich habe es nie wieder sagen können. Von allen Wörtern, die ich als Kind noch unbefangen aussprach, einfach so, ist mir Papa das fremdeste. Aus meinem Mund wäre es eine Lüge. Der Mann, den ich früher einmal Papa nannte, war zu Paul geworden, eine Metamorphose, die nicht rückgängig zu machen war; Paul war Paul, kein Fitzelchen Papa steckte in Paul. Aber viel Arbeit. Steckte in Paul. Es war diese ganze Arbeit, die Papa in Paul verwandelt hatte.

 

In meiner Gruppentherapie erzählte ich, dass ich verliebt sei, aber nichts erzählte ich vom Kokain und vom Alkohol. Ich wusste, dass ich mir damit jede Mitfreude verwirken würde. Sie würden unsere Beziehung problematisieren, denn ganzen Enno problematisieren, ihn auf die Eigenschaft süchtig reduzieren und alles, was zwischen uns ist, pathologisieren. Sie würden behaupten: die Sucht. Um die Sucht an sich würde es nicht gehen, sondern um die Drogen an sich, die sie Sucht nennen würden. Wäre Enno arbeitssüchtig wie Paul oder sportsüchtig wie Bruder, das wäre akzeptabel. Gesellschaftlich. Was zählt, ist die gesellschaftliche Funktionstüchtigkeit. Die macht einen Mann. Aber ich habe so meine Erfahrungen mit funktionstüchtigen Männern: sie sind abwesend. Und bleiben es. Um der Funktionstüchtigkeit willen. Und wenn sie einmal da sind, haben sie den Kopf mit Arbeit voll und hören nicht zu. Kein Fünkchen Stolz habe ich in mir, wenn ich an Pauls berufliche Erfolge denke oder an Bruders Muskeln. Nur das Häufchen Asche, die ihre Abwesenheit in meiner Brust hinterlassen hat.

Enno war da. Selbst in der Klinik war er noch da. Bei mir.



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