Haushalte

Text

von  Lilo

Wir hingen aneinander wie verwaiste Geschwister. Bis zu diesem Sommertag im Juli, an dem es sich eingenieselt hatte. Er hätte ein Fest werden sollen. Zurück blieb das trübe Dunkel des Sees. Unmerkliche Wellenbewegungen. Die feinen Nadelstiche auf der Wasseroberfläche. Ich konnte nicht bis zum Grund schauen. Roch nur Schlack und Wunderbaum. Verwesung und künstliche Frische liegen manchmal nahe beieinander. Zurück blieb Vickis Erbrochenes auf einer Böschung. Welche unter uns die Stillste war, ist schwer zu sagen. Anja war die mit der größten Hoffnung. Vicki ging auf ihrem Laufsteg wie auf Watte. Sie hatte sich dorthin nur verirrt. Was hätte sie tun sollen, als weiterzulaufen, geradeaus zu schauen und sich die Blitze wegzudenken? Da war das Feixen und da war die Bewunderung. Gleichzeitig. Vermischt. Und das Raunen. Vicki war immer von einem Raunen umgeben. Es blieb ihr nichts übrig als den Körper weiterlaufen zu lassen und sich selbst darin zu verflüchtigen. Anja lief mit in ihrem Licht. Fast ähnelten sich die beiden. Die Stupsnäschen und die vollen Lippen. Braune und blonde Löckchen. Es waren die Körper, die den Unterschied machten. Was für Vicki ein Glaskäfig war, schien Anja als Horizont. Ich war der Wechselbalg unter uns dreien. Ich ging wie unter Wasser. Gegen einen Widerstand, den ich hinnahm. Die Stimmen der anderen klangen dumpf und nie zu mir durch. Ich wunderte mich, dass sie mich in ihren Bund aufgenommen hatten. Ich hatte nicht darum gebeten, aber ich nahm es als Auszeichnung. Für etwas, dass ich nicht war und nicht getan hatte. Anja ging auf den Himmel zu. Sie kribbelte gegen die Gegenwart an. Die Seufzigkeit der Mutter. Die Schunkeligkeit des Vaters. Ob sie ihn im Schlaf geschlagen hätten, er habe am ganzen Körper blaue Flecken, lachte er am Morgen, nachdem er die Treppe hinuntergefallen war. Tagsüber war er in der Fabrik, während die Mutter schlief. Nachts war sie im Klinikum, während der Vater trank. Sie nahm jede Nachtschicht, die sie kriegen konnte. Der Bruder stotterte. Zu Mittag aß Anja Zuckerbrot, das zwischen den Zähnen knirschte. Vickis Zimmer trug keine Züge von ihr selbst. Sie hatte ein Regal voller Mädchenbücher, die sie nicht las. Und ein Foto eines kleinen, lachenden Mädchens auf einer Wiese. Das Mädchen sah aus wie sie, aber es war ihre Mutter. Der Vater fuhr BMW. Wir nannten ihn Oberst Harti. Die Mutter hängte morgens die Bettdecken über die Balkonbrüstung. Ein geschnitzter Balkon aus dunklem Holz wie in den Alpen. das Ferienhaus von Raffas Vater am See war sonnengelb und geräumig. Vickis Mutter war sichtlich beeindruckt, als sie uns aussteigen ließ und in die Stadt zurückfuhr.


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