Wahrheit

Gedicht

von  Janna



In einem Dorf am Rand der Zeit

gibt es zu jeder Stunde Streit.

Die Menschen dort sind sehr gehässig;

ein jeder will mit Wahrheit glänzen

und nur die eigne Stirn bekränzen.

So grollt und motzt man unablässig.


Ist eine Kuh beinah krepiert

und wurde dann vom Herrn kuriert,

lässt er kein andres Mittel gelten.

Hat einer einen Stein gefunden,

und glaubt, er heile alle Wunden

gibt jeder Zweifel Grund zum Schelten.


Das amüsiert den blinden Alten,

den alle für befremdlich halten.

Er lauscht dem schrillen Wutgeschrei

und kann ein Lächeln nicht verkneifen,

weil diese Menschen nichts begreifen.

Dann stockt die Phrasendrescherei.


Warum er grinse, fragt ein Mann

und ob er Antwort geben kann,

auf jene immer gleiche Frage,

wer nun die Wahrheit wirklich spricht.

„Wer ist im Recht? Wer ist es nicht?

Die Frage plagt uns alle Tage!“


Der Alte meint: „Die Wahrheit kennt,

wer wahrhaft sie beim Namen nennt.

Ein jeder von euch richtet schlecht,

weil ihr im Grunde gar nichts wisst

und euer Blick verschleiert ist!

Und doch: Ein jeder ist im Recht!


Kommt nächste Woche in mein Haus

und sucht euch eure Wahrheit aus!“

Die Dörfler murren laut herum:

„Der Alte spinnt und ist verschroben,

Hat ein paar Maß zu viel gehoben!“

Die Antwort finden sie schlicht dumm.


Die Neugier treibt jedoch voran;

man steht vor seiner Hütte an.

Er führt sie in ein dunkles Zelt

und spricht: „Nun tastet euch heran,

so gut man das hier eben kann.

Ich hoffe, dass der Groschen fällt!“


Die Dorfbewohner tasten stumm

am unsichtbaren Stück herum.

Sie spüren, was sich spüren lässt

und jeder hat die Illusion,

die Wahrheit winke ihm als Lohn.

An dieser Weisheit hält man fest.


Nach einer Weile sagt der Alte:

„Bevor ich jetzt die Lampen schalte,

erzählt mir: was habt ihr gesehen?“

Ein Bursche ruft: „Es ist ein Schwert!“

Ein anderer: „Das ist verkehrt!

Ich sah dort eine Säule stehen!“


„Was ich genau erkundet habe,

ist eine Schlange!“ schreit ein Knabe.

„Ein Fächer wars, das ist ganz klar!“

Schon waren sie, wie stets im Streit.

Der Alte ruft: „Seid ihr bereit?

Ich will euch zeigen, was es war!


Ihr habt, wie immer, alle Recht

und doch ist euer Urteil schlecht!

Die Wahrheit habt ihr zwar benannt,

mit euren Sinnen das erfasst,

was in das eigne Denken passt.

Ihr habt sie nur zum Teil erkannt!“


Die Wahrheit ist – ein Elefant.

























Anmerkung von Janna:

Nach einer Geschichte von Roland Kübler. "Wahrheit ist unteilbar"
aus dem Buch "Wieviele Farben hat die Sehnsucht"

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Kommentare zu diesem Text


 Didi.Costaire (15.03.24, 08:07)
Kluge Verse, Janna,

sehr lesenswert.

Liebe Grüße, 
Dirk

 Janna meinte dazu am 17.03.24 um 10:29:
Das freut mich, lieber Dirk. Vielen Dank und liebe Grüße

Janna

 Quoth antwortete darauf am 17.03.24 um 10:56:
Ich stimme zu. 
Aber wer ist der "Herr" in der zweiten Strophe?

 Janna schrieb daraufhin am 01.04.24 um 16:38:
Hallo Quoth, der Herr des Hauses oder der Herr des Hofes, auf dem die Kuh lebt.
Danke für die Zustimmung und Ostergrüße

Janna

 plotzn (16.03.24, 15:57)
Liebe Janna,

sehr schön verdichtet! Dieses Buch besaß ich auch mal. Es ist bestimmt schon dreißig Jahre her, dass ich es gelesen habe. Jetzt kommt die Erinnerung daran wieder hoch.

Danke!
Stefan

 Janna äußerte darauf am 17.03.24 um 10:31:
Lieber Stefan, ich habe es auch schon lange nicht mehr gelesen. Da gab es noch eine Geschichte, die mir sehr gut gefiel, nämlich die von der Steineiche, der man mutwillig einen Stein ins Baumherz gestoßen hatte und die dann trotzdem einen Weg fand, neu auszutreiben. 

Vielen Dank und liebe Grüße

Janna
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