Wurzel aus 150986449

Prosagedicht

von  Redux

Jeder hat seine Anekdoten.
Seine Erlebnisse, die er immer wieder erzählt,
als wenn das Leben eine lustige Kette
skurriler oder bedeutsamer Perlen sei.

Meistens werde ich dabei sonderbar traurig
oder versinke in ein bodenloses Meer der Gedanken.

Jeder hat so seine Anekdoten.
Der Bäcker. Der Hausmeister. Der Friseur.
Der Professor. Der Schreiner. Der Schauspieler.
Der Jäger. Der Angler. Der Schürzenjäger.

Meistens klingt es altmodisch oder schrullig.
Oder altklug. Oder gar nicht witzig.
Oder peinlich.
Oder für alle anderen langweilig und unbedeutend.
Meistens kann nur derjenige, der sie zum Besten gibt,
damit etwas anfangen.
Anekdoten!!!
Der Fußballer. Der Bestatter. Die Köchin.
Der Maler.
Oder der Schornsteinfeger.

Die drei albernen Anekdoten des Schornsteinfegers:

A: da steht er frühmorgens auf dem Dach,
unten auf der Straße sein Drahtesel
samt blitzender und frisch eingeölter Kehrbesen,
aber auch die ungeheuerlich pflichtbewussten Müllmänner,
die alles, was auch nur annähernd nach Sperrmüll aussieht,
in die gefräßige Klappe ihres Müllwagens befördern

da steht er schreiend im tosenden frühmorgendlichen Verkehr
ganz alleine auf einem Dachfirst,
ohne Fahrrad und ohne Kehrbesen…

B: oder dieser eine Märzmorgen ( warm und hell und neu)
und der türkische Gastarbeiter und seine Frau,
die in der Frühlingssonne vor dem alten Zechenhaus
ihr Frühstück mit ihm teilen: Fladenbrot
und Schafskäse und Oliven und schwarzen Tee…
und für fünfzehn oder zwanzig Minuten lang
sich und ihm und Zechenhaus und alles drum herum
in ein winziges und wunderbares Bildchen pressen,
das in seiner Geschichte immer weiter besteht.

C: oder Frau S. und ihr Mann, beide so über 70,
und nach jedem Besuch denkt er: so oder ähnlich
glücklich möchte ich sein, so möchte ich mich mit meiner
Frau über 70 verstehen, so oder ähnlich fit möchte ich sein
und so möchte ich dem Leben gegenüber stehen über 70,
so möchte ich noch lachen und so möchte ich allem, was noch
kommen mag, gegenüber stehen, mit diesem über 70-jährigen
Lachen, mit dieser Gelassenheit und dieser Freude

aber dann eines Tages kippt er einfach um und ist tot,
kurz über 70, und sie ist alleine, und als er sie mal wieder besucht,
blickt er in fassungslose Augen, in ertrinkende Augen,
die man nicht trösten kann, die wund sind vom Schmerz,
und er als Fremder kann nichts machen, er kann reden
und Trost spenden und ermuntern, aber er kann doch nur
alles versuchen, denn es versinkt in Frau S, über 70

und beim nächsten Besuch erfährt er, dass sie sich einen Strick nahm,
weil sie nicht ertragen konnte, so alleine über 80 zu werden…


Die drei albernen Anekdoten des Schornsteinfegers.

Was soll das Ganze?


Ich meine, in diesem Dreieck ist was.
Zwischen Sperrmüll, Oliven und Frau S. muss was sein.
So irgendwie, wenn man dieses Dreieck aufnimmt,
müsste auf der Rückseite etwas zu lesen sein.
Albern?
Ja klar, albern.
Aber ich meine, wenn man die Wurzel
aus 1509866449 suchte,
dann müsste auf der Rückseite 38857 zu lesen sein
und man sagt sich: ach ja oder ach klar, sicher…
Oder man schaut sich dieses Dreieck an
und lacht sich kaputt oder weint wie man als kleines Kind geweint hat
oder man versinkt in Erinnerungen.
Oder man ist plötzlich Hauptakteur
in allen zauberhaften und erbärmlichen Geschichten
dieses hoffnungsvollen gottverdammten Etwas...
ja oder man sagt, was man schon immer wusste:
so ist es, schön beschissen
oder beschissen schön,
zum Totlachen beschissen schön.



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Kommentare zu diesem Text


 Kardamom (30.05.24, 06:31)
Anekdoten sprechen für sich, wenn sie gut sind, kann man sie als Gleichnis einsetzen. 
Ich vernahm wie jmd. in einer Situation in der ein anderer versuchte ihn über die Hecke zu ziehen, jenem die Anekdote über jmd. erzählte, der anderen in den Hintern trat.

 diestelzie (01.06.24, 17:02)
Zwischen Sperrmüll, Oliven und Frau S. muss was sein.
Du siehst es, wenn du genau hin schaust. Es ist wirklich nicht sehr spektakulär oder irgendwie auffällig. Es ist auch nicht groß und nennt sich Leben ;)


Liebe Grüße 
Kerstin ☀️

 Agnetia (04.06.24, 20:32)
Anekdoten werden so gern erzählt, weil sie ein Stück von einem selbst zeigen. :D lG von Agnete
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