Milla

Erzählung zum Thema Menschen

von  niemand


Kommt es, oder kommt es nicht? Wir Kinder stellten uns diese Frage immer, wenn am Ende der Straße das Paketauto sichtbar wurde. Meistens kam es nicht, jedenfalls nicht zu uns, dennoch machte uns die Erwartung, dass es vielleicht doch, einen ziemlichen Spaß. Und wenn es dann vor unserem Haus hielt, war das in etwa wie Ostern und Weihnachten an einem Tag. Das Paket roch nach einer anderen Welt, meistens nach Nüssen und Schokolade, manchmal aber auch nach einer Mischung aus beidem, mit dem zusätzlichen Hauch von Persil. „Hat wieder irgendein Neidhammel das Waschmittelpäckchen aufgerissen“ schimpfte meine Mutter und wusste genau, das es nur ein Pole sein konnte. Na, ja, nachweisen konnte man eh nichts, also fegte sie die Persil-Kügelchen sorgfältig zusammen, man konnte ja schließlich alles brauchen. Für uns Kinder gab es danach ein paar Nüsse und einen Riegel Schokolade. Der Rest wurde versteckt und nach und nach aufgeteilt.

„Hat Milla mal wieder was geschickt?“ Die Frage meines Vaters gehörte dazu und man merkte immer, dass er nicht gerne etwas annahm, nicht von der Verwandtschaft. Warum, darüber sprach er nicht, doch man spürten eine gewisse Spannung in seinen Worten. Beschäftigt mit der Schokolade und den Nüssen ist unser Spüren dann wohl ziemlich schnell verflogen.


Tante Milla war für uns so etwas wie eine gute Fee, aus einem fernen, nach Persil und Schokolade

duftenden Land.Tante Milla schien reich zu sein, dachten wir, denn wer kein Geld besitzt, der kann auch nichts verschenken. Und Tante Milla verschenkte. Auch ihre anderen Geschwister bekamen in regelmäßigen Abständen Päckchen. Zwei davon maulten ständig. Mal passte das nicht, was sie schickte, dann wiederum war dies nicht angenehm und immer beschwerten sie sich bei meiner Mutter über den Mangel an diesem und jenem. Meine Mutter maulte nie. Sie mochte ihre Schwester und war über jedes der Päckchen froh und dankbar.


Mit der Zeit entwickelten die Geschwister von Milla so etwas wie das Recht etwas einfordern zu dürfen. Sie schickten Briefe, in denen alles was sie gerne hätten aufgelistet wurde. Man verlangte inzwischen nicht nur Lebensmittel, sondern bald auch Kleidung uns Schuhe. Und Milla schickte meistens. Manchmal hörte ich meine Mutter, wie sie verwundert darüber sprach, wie Milla das alles bewerkstelligt. Meine Mutter forderte nie, sie bat nicht mal um etwas. Was kam, wurde dankbar angenommen.


Dann kam die Zeit in der meine Eltern und wir Kinder in den Westen ausreisen durften. Mein Glücksgefühl war überwältigend. Im Kopf den Reichtum von Tante Milla, malte ich mir wohl so etwas wie den Einzug ins Paradies aus. Jetzt wird es alles geben, was es bis heute nicht gab, dachte ich und verfiel in einen Art Rausch des Zukünftigen, aus dem ich allerdings ziemlich bald aufwachen sollte. Knapp nach Ankunft, wurde mir nach und nach klar, dass ich wohl im falschen Land gelandet bin. Ein Bisschen mehr war es schon, als das was wir bis jetzt hatten, aber halt nur ein Bisschen. Aber da war noch Tante Milla, dachte ich und vielleicht konnte sie uns ein wenig von ihrem Reichtum abgeben. Ganz sicher war sie dazu bereit.


Heute fahren wir zur Tante, sprach meine Mutter, die ihre Schwester viele, viele Jahre nicht mehr gesehen hat. Meine Mutter suchte ein Geschenk aus, doch ich dachte nur: Warum schenkt man jemandem etwas der doch reich ist und alles selber kaufen kann. Aber ich sagte nichts. Mit meiner Mutter könnte man es sich schnell verderben. Also fuhren wir zur Tante.


Auf der Zugfahrt spukte in mir immer nur der Satz „Milla und Villa“, denn sicher wohnte meine Tante in einem solchen großen und prächtigen Haus. Dann standen wir vor einem kleinen Häuschen, welches in etwa vier Mietwohnungen beherbergte. In einer dieser Wohnungen wohnte sie, die reiche Tante. Aber warum in einer so kleinen Wohnung, welche auch noch ziemlich schlicht und beengt eingerichtet war? Mein kindliches Weltbild bekam einen Sprung.


Tante Milla war sehr liebenswert und wir bekamen Kaffee und Kuchen. Ich stopfte mir ein ganzes Stück fast auf einmal in den Mund, der sich vor lauter Enttäuschung gar nicht schließen lassen wollte. Ich kaute und schluckte nicht nur den Kuchen, sondern auch meine Enttäuschung herunter.

Mutter und Tante unterhielten sich lange, als Tante Milla plötzlich zu Uhr blickte und fast erschrocken „ich muss jetzt aber weg“ rief. Als die Tante fort war, fragte ich meine Mutter, was das jetzt zu bedeuten hat und wo die Tante so plötzlich hin musste? Meine Mutter sah mich an und antwortete: Milla geht putzen. Sie hat mehrere Putzstellen, die heutige in einer Arztpraxis. Warum geht sie denn putzen, Mama, fragte ich ein wenig ungläubig, sie schickt doch den Verwandten immer so schöne Pakete? Eben darum, mein Kind, sprach Mutter und blickte in Richtung Uhr.


Als wir etwas älter wurden, mein Bruder und ich, besuchten wir die Tante regelmäßig, kauften für sie ein, bezahlten alles, versuchten ihr mit dem und jenem eine Freude zu machen. Eine Sache ist uns besonders gut gelungen. Milla wünschte sich schon lange eine Wohnzimmer-Stehlampe. Ihre alte war potthässlich und wir konnten ihr Licht kaum noch ertragen. Milla hätte solch ein Geschenk nie angenommen, deshalb fuhren wir beide auch alleine los. Wir liefen den ganzen Tag in Stuttgart herum, nur um eine Lampe zu finden, die in Millas Stube passte.


Es rührt mich heute noch an, wenn ich daran denke, wie Milla stundenlang vor dieser Lampe saß, sie fortdauernd an- und ausmachte und ein „Jetzt habe ich aber eine wirklich schöne Lampe“ flüsterte. Von all den Verwandten, welche Milla mit ihren Paketen versorgte, kam über Jahre noch nicht mal ein Geburtstagsglückwunsch, keine Weihnachtskarte, kein Ostergruß. Die Kuh war gemolken, also warum noch danken?


Ich fand das zum Kotzen, aber Milla, Gott hab sie inzwischen selig, hätte immer einen Grund gefunden, eine Ausrede parat gehabt dieser Mischpoche zu verzeihen.



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Kommentare zu diesem Text


 Aron Manfeld (17.08.24, 18:47)
Da bleibt der Leserschaft nur zu wünschen, Dein Glücksgefühl möge anhalten, meine Liebe.

 niemand meinte dazu am 17.08.24 um 19:02:
Haste was eingeworfen, Aron? Würde mich nicht wundern.
Na, dann gute Verdauung!
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