Blätterregen 9

Erzählung

von  minze

Sie hat ein blaues Shirt im Batik Look an, erst eine schwarze feste Hose mit Bund, als ich sie ihr wechsle, weil sie nass geworden ist, eine blaue leichte Hose. Sie sagt, dass bei der blauen der Gummibund längst geändert werden müsse. Das hat Mama früher auch oft gemacht, Gummibänder genäht. Scheinbar haben so oft Hosen wieder gepasst, es war ein gängiges Vorgehen in meiner Kindheit, ich selbst habe mich noch nie vor dieser Aufgabe gesehen, auch wenn ich jetzt acht Jahre Mutter bin.


Die Freiwillige, die kurz ins Zimmer kommt, erzählt, dass sie aus Indonesien komme, sie hat die Einlagen von Oma schnell im Stehen gewechselt, sie steht vor ihr und ich sehe, wie stabil Oma auf einmal ist, dass sie auch keine starke Kraft aufwenden muss beim Wechsel, dass sie selbst die Hose hoch und runter zieht, sich zum Teil nur fest hält. Den Namen der Pflegerin bekomme ich nicht mit, aber ihre feierliche Absprache, dass wenn Oma wieder nach Hause komme, die junge Frau es sein soll, die Oma am Morgen richtet.


Ich sehe, kurz bevor wir zum Speisesaal gehen, dass sie nass ist, hinten an der Hose. Noch im Mai hätte ich es nicht erwähnt, jetzt ist sie so fit und strahlt, sie ist wieder diese Frau. Sie ist zurück gekommen, mit einer Wucht und einem Willen. Vielleicht war es auch ein Trugschluss zu meinen, sie hätte diesen Verlust an Willen, die Abgabe des Lebensmutes, erst gezeigt, als sie die erste Corona Erkrankung durchlief. Ein Trugschluss, dass dies das erste Mal in ihrem Leben so gewesen sei. Vielleicht war hier ein Fenster offen, das miteinander zu erleben. Bei allem, was sie erlebt hat und wie ich zu ihr stand, wie ich als Kind bis junge Frau zu ihr stand, war ich da erst selbst eine Mutter und Erwachsene geworden. Wir waren wie in ein Verhältnis und in andere Umstände gerutscht, in eine Möglichkeit des Abschiedes, des Klagens, aber auch in die Möglichkeit, das anzusprechen, voerst. Oder nur ich, nur ich hab es so sehen können. Seitdem habe ich immer wieder mit Abstand auf sie geschaut, wenn es ihrer Meinung nach vorbei war oder sein sollte, habe das als eine Haltung, einen Moment unter den anderen gesehen.

Jetzt sehe ich sie, sehe uns in den verschiedenen Momenten, denen der Stärke und des Willens und denen der Schwäche und Aufgebens. Sie stehen nebeneinander, nicht einander stellvertretend.


Es wird mir besser vorstellbar, wie sie wirklich war.


Heute ist es anders als vor dreieinhalb Monaten. Da haben wir uns behandelt, als gingen wir auseinander. Nach dem Infarkt und den Stürzen war sie in das Pflegeheim eingezogen und ihr Körper hat sich so verändert, dass er wie eine ganz späte Version, wie als letztes Exemplar wirkte. Was mich auch immer irritierte: damit zusammen, mit der Vitalität und dem Willen, als dem Körper innewohnend immer der Blick, die Heftigkeit oder Verschwommenheit, das lose Streifen, das unbedingte noch einmal Fixieren oder Kämpfen um Schlaf, Wachheit, Kraft. Sie war mit Beuteln ausgestattet und hat an diesem Tag den ersten Besuch mit Rollstuhl in den Speisesaal unternommen. Ich vergesse fast, dass sie nur mit einer Hand, so halbwegs, essen konnte. Meine Mutter bewertete es schon als Meilenstein, aber ich habe sie so müde und vorbei gesehen, auch mit ihrem Ankommen im Heim. Es sieht viel besser aus, als das von Mémé in Nordfrankreich. Alles, was ich in Frankreich sehe, vielleicht auch was die Alten angeht, ist schäbiger. Ich habe, ähnlich wie bei den Besuchen bei Mémé, alle Kraft, alles Gespräch und Fragen aus mir selbst nehmen müssen, als Angebot, Handlauf für einen Austausch zwischen uns, ich wollte aus der Müdigkeit und dem Nichtssagenkönnen einen gemeinsamen Moment machen, neben dem, wie ich sie liebe auch etwas sagen, was ihr vermittelt, wo wir stehen, sie fragt nichts Kritisches zu Yann, ich erzähle einfach nur von den Kindern.

Es gelingt, irgendwann gehe ich und sie ist auch dankbar, sie will mich auch umarmen, sie will auch noch da sein, aber vor allem will sie schlafen.


Heute bin ich neugierig, weil sie wieder läuft, weil sie sich wieder wäscht und mehrmals täglich mit Rollator unterwegs ist. Ich bin neugierig, aber sie übermannt mich mit ihrer Kraft, ich kann gar nicht viel sagen, bin auch noch lädiert von der Autobahn, dem Stau und der ersten Arbeitswoche nach dem Sommerurlaub, da sitzt sie in vierfacher Version von noch ein paar Wochen, sie ist so energisch, als würde sie direkt vom Heimzimmer in die Küche und wieder mit mir Zwiebelkuchen, Schupfnudeln machen oder Maultaschen, was macht man dann rein, ohne Fleisch? Es klopft manchmal, aber die Pflegerinnen gehen, als sie mich sehen, bis auf die Letzte, bei der Oma bestimmt, dass sie mir auch einen Kaffee richten soll, Oma sagt, sie mögen mich alle so. Sie wird ihnen fehlen. Die Freiwillige ist eine von vielen, die Oma zum Kaffee bei sich zu Hause einlädt. Als die sie Oma nach ihrer Adresse fragt, glaube ich, sie wird es ernsthaft vorhaben, zu kommen. Und es wundert mich nicht, weil sie beide so ernst sind mit dem, was sei einander sagen, wie sie sich einspielen mit wer was macht, es ist ein ernsthaftes Teamwork, die Freiwillige will etwas lernen und will freiwillig helfen und Oma zeigt ihr mal herzlich, mal sehr bestimmt, was zu machen ist, verspricht ihr besseren Kuchen und besseren Kaffee und hilft selbst immer mehr mit, es geht ihnen beiden gut von der Hand. Oma merkt sich, welche Ausbildungsberufe für die Frau in Frage kommen. Mir sagt sie nur, vielleicht würde sie Bäckerin, meine Oma sagt: oder das mit Hörgeräten, sie haben sich schon mehr darüber unterhalten.


Als wir zum Kaffee gehen, schmeckt er richtig, im Mai habe ich einen getrunken, von dem Oma sagte, er sei wie alle hier koffeinfrei. Entweder haben die Angestellten einen anderen gemacht, nur heute, oder Oma und ich täuschen uns, ich im Geschmack, er ist kräftigend, wenn, ist die Milch mittelmäßig. Es sitzen ihre zwei Tischnachbarinnen bei uns, Oma stellt die Dinge aus meinem Leben vor, die vor allem einprägend sind, mein Job, mein Sohn, später auch, wo wir wohnen. Frau Madrullek kommentiert manchmal, erzählt auch von sich, Helga, die Oma schon lange kennt, stellt suggestive Fragen, die sie selbst mitbeantwortet, immer mit einer unausweichlichen Traurigkeit in ihren Augen ja, dafür ist man auch dankbar, ja, das ist auch viel wert. Ja, da freut man sich als Mutter. Ich werde dem nicht widersprechen, keinem Mantra, weil ich nicht sagen kann, wie diese Traurigkeit sich noch anders äußert, als in ihren Augen, sie spricht ja, aber was sie sagt, versucht ein Gegenstück zu ihrer ganzen Körperhaltung, eine frühere Gewissheit und Ruhe auszugeben, das rühre ich nicht an. Oma ist euphorisch, sie plant mit Helga schon den Besuch in die spätere Andacht, deswegen muss ich nicht rumdrucksen, wann ich auch wieder los muss. Ich stehe noch auf, ich sage immer wieder lustige und freche Dinge, weil es sich anbietet in der Runde, über Frauen. Ich teste Helga doch an, aber sie geht nicht mit.


Sie selbst wird einmal heller, bei allem, was zum Heim zu sagen ist, auch zum Kuchen, den meine Oma meistens ablehnt, sagt sie: bald nicht mehr, bald bist du weg.



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (08.09.24, 10:52)
Das ist, mit Abstand, der großartigste, berührendste Text. Ich bin sehr ergriffen. Selbst den Kaffee habe ich mitgeschmeckt. Ganz große LITERATUR.

 minze meinte dazu am 08.09.24 um 20:22:
danke - ich freue mich sehr, wenn der Text so sinnlich erlebbar ist! na und große Literatur eh, hehe.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram