Innerer Friede

Anekdote zum Thema Annäherung

von  Klemm

Nach ihrer Trennung verharrten meine Eltern jahrzehntelang in ihrem Konflikt. Meine Mutter litt unter einer Scham, für eine jüngere Frau verlassen worden zu sein, mein Vater litt unter einer Schuld, die Familie verlassen zu haben. Sie hörten nicht auf, sich gegenseitig für die Trennung zu beschuldigen. Sobald sie auf das Thema zu sprechen kamen, fingen sie an, sich wie verrückt im Kreis um sich selbst zu drehen und wollten von uns Kindern bestätigt werden. Für uns war das grauenhaft: die einseitigen Bilder, die sie voneinander zeichneten, waren nicht stimmig und ungerecht. Wir hatten Mitgefühl mit beiden, dass sie sich so schlecht fühlten; und dieses Mitgefühl war vielleicht das grauenhafteste aller Gefühle; denn, darin waren sie sich wieder einig: wir Kinder sollten keinesfalls irgendwelche Spuren von Leid zeigen, das hätte sie beide erst recht in ihre jeweiligen Abgründe gestürzt. Solange wir funktionierten, blieben sie einigermaßen stabil und auf diese Stabilität waren wir angewiesen. Also spielten wir die Kinder, die sie brauchten, bis wir endlich volljährig wurden und ausziehen konnten. Wir wussten früh, dass wir uns niemals als Opfer fühlen wollten und niemals als Täter. Unsere Eltern hatten sich ganz auffressen lassen davon, eine Rolle war so schlimm wie die andere. Unsere Aufgabe war es, das Scheitern unserer Eltern an sich selbst zu akzeptieren, es nicht auf uns zu beziehen und es in die Liebe und Dankbarkeit zu integrieren, die wir eben auch für sie empfanden und zu der wir allen Grund hatten. Wir haben ihre Stärken immer zu schätzen gewusst: denn bei aller Grausamkeit im Umgang miteinander und trotz des impliziten Funktionsgebots nach ihrer Trennung, waren sie als Eltern sehr liebevoll, einfühlsam, freiheitsschenkend und verlässlich. Widersprüchlichkeiten sind dem Menschen inhärent.


Als wir uns schon lange damit abgefunden hatten, dass sie den Konflikt nicht würden lösen können und wir nichts tun konnten, als sie darin versauern zu lassen, ging meine Mutter in Pension. Innerhalb eines Jahres machte sie mit über 65 ganz ohne das Zutun anderer tatsächlich noch einen riesigen Entwicklungsschritt. Sie schloss Frieden mit der Trennung und ihrem davon geprägten Lebenslauf. Seitdem äußerte sie kein schlechtes Wort mehr über meinen Vater, der sich weiter im Kreise drehte.


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Kommentare zu diesem Text


 Nanna (20.10.24, 13:37)
Sehr gut beschrieben. Wir als Kinder hätten uns die Scheidung unserer Eltern gewünscht. Es war zweitweise nicht mehr auszuhalten. Du hilfst mir, das Ganze mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.
LG Nanna

 Klemm meinte dazu am 20.10.24 um 13:51:
Ja, ich habe Freunde, deren familiäre Situation der deinen glich und sie als sehr quälend empfunden haben. Tatsächlich ging es mir ganz ähnlich wie dir jetzt, als sie davon erzählt haben :)

 Saira (20.10.24, 13:37)
Moin Klemm,
 
deine Anekdote verdeutlicht, wie tief verwurzelte Konflikte zwischen Elternteilen nicht nur deren Leben, sondern auch das ihrer Kinder beeinflussen können. Die Scham und Schuld, die deine Eltern empfunden haben, sind in meinen Augen nur allzu menschliche Emotionen, die oft in Trennungen und Konflikten zum Vorschein kommen. Es ist bemerkenswert, wie du und deine Geschwister in dieser schwierigen Situation entschieden habt, nicht in die Rollen von Opfern oder Tätern zu schlüpfen.
 
Die Entwicklung deiner Mutter nach ihrer Pensionierung zeigt, dass es nie zu spät ist, Frieden mit der eigenen Vergangenheit zu schließen. Dies spricht für die Kraft der persönlichen Entwicklung und die Möglichkeit, auch im Alter noch bedeutende Veränderungen zu erleben.
 
LG Saira

 Nanna antwortete darauf am 20.10.24 um 14:03:
"Es ist bemerkenswert, wie du und deine Geschwister in dieser schwierigen Situation entschieden habt, nicht in die Rollen von Opfern oder Tätern zu schlüpfen."

Ja, davor habe ich auch großen Respekt. :)
LG Nanna

Antwort geändert am 20.10.2024 um 14:03 Uhr

 Klemm schrieb daraufhin am 20.10.24 um 14:08:
Hm, beide Rollen waren einfach beide enorm abschreckend in ihrer Gefangenheit und das Festhalten an Groll und Verteidigung destruktiv und hemmend. Streben nicht die meisten jungen Menschen nach einer Befreiung aus Enge und Hemmung?

Ja, ich war wirklich freudig überrascht, dass es in diesem Alter tatsächlich noch möglich ist, so einen Schritt zu tun. Das gibt Hoffnung.

 Mondscheinsonate (20.10.24, 19:53)
Absolut großartig durchgearbeiteter Text mit dem Inhalt, der uns fast alle betroffen hat.

 Klemm äußerte darauf am 21.10.24 um 02:16:
Ja, ich denke viele Menschen sind auf die eine oder andere Weise von solchen Geschichten betroffen.

 Graeculus (20.10.24, 23:02)
Also spielten wir die Kinder, die sie brauchten, bis wir endlich volljährig wurden und ausziehen konnten.

Das ist so traurig!

 Klemm ergänzte dazu am 21.10.24 um 02:21:
Ja, aus der Sicht eines Erwachsenen. Für Kinder in der Lage ist es eine Art für das eigene Wohlergehen zu sorgen, in dem sie für das Wohlergehen der Erwachsenen sorgen.

 ran (21.10.24, 13:33)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 23.10.2024 um 11:01 Uhr wieder zurückgezogen.
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