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1971

Text

von  Quoth

Ein feuchtfröhlicher Silvesterabend war es gewesen in der großen Villa, die mein Freund Horand von der üppigen Mitgift seiner Frau in der Nähe von Krefeld gekauft hatte. Es waren auch ein paar Nachbarn dabei gewesen, Freunde hatte er dort noch nicht, und freute sich, mit mir in der Küche ein paar Worte über Else wechseln zu können, die wir beide angebetet hatten, aber sie hatte von uns nichts wissen wollen. Horand hatte sich mit ihrer Freundin Sina getröstet, die noch den Vorzug hatte, Tochter eines steinreichen Versicherungsmaklers zu sein. Ich fand sie etwas trocken, doch als sie mir gestand, dass sie an Migräne leide, hatte ich sie in mein Herz geschlossen, für Frauen mit Migräne habe ich immer eine Schwäche gehabt, habe auch mal gelesen, dass sie meist besonders klug seien.

Nun gut, jetzt saß ich im Zug nach Basel. In Düsseldorf war ich umgestiegen und setzte mich in ein leeres Abteil. Freute ich mich darauf, nach Zürich zurückzukehren, wo ich einen Job als Korrespondent in der altehrwürdigen Rentenanstalt (heute Swiss Life) gefunden hatte? Ich verdiente dort das Doppelte von dem, was ich in Düsseldorf bei der Victoria verdient hatte – aber das Leben in der Schweiz war auch alles andere als billig, und um der Ausbeutung durch raffgierige Schlummermütter zu entgehen – so nennt man in Zürich Zimmervermieterinnen, meist Witwen mit Hund – war ich im Hotel Sternen am Zürichsee in ein Dachbodenkämmerchen gezogen, das mir die Wirtin für 120 Fränkli im Monat dauerhaft überlassen hatte. Dort hauste ich mehr recht als schlecht, aus einer Psychogruppe, in die ich durch die Adresse geraten war, die ein Kommilitone mir fürsorglich mitgegeben hatte, war ich, nachdem ich für kurze Zeit zum umworbenen Star aufgestiegen war – denn ich konnte Träume deuten, weil ich Freud gelesen hatte – rausgeworfen worden, als sie mitbekamen, dass ich nicht nur Soldat, sondern Reserveoffizier bei der Bundeswehr gewesen war – und diese Psychogruppe huldigte einem besinnungslosen Pazifismus. In Köln wurde die Tür meines Abteils aufgerissen, in dem ich so ruhig und gemütlich meinen Gedanken hatte nachhängen können, und eine Gruppe quietschvergnügter Weiber drängte herein, besetzte mehr als die fünf freien Plätze, indem sie einander auf den Schoß nahmen, Sektflaschen zückten und sich anzuheitern begannen, wobei sie lachten, schrien und mich als das Nichts behandelten, das ich ja war. Als sie dann auch noch zu rauchen begannen – damals gab es noch Raucher- und Nichtraucherabteile - ergriff ich die Flucht und verdanke alles, was sich im Kommenden ereignete und entwickelte, einem Verein juchzender und qualmender Keglerinnen und weiß nicht, ob ich ihnen dafür dankbar oder immerdar gram sein soll.

Bevor ich mich aber daranmache, diesen für den weiteren Verlauf meines Lebens so bedeutsamen Schicksalsknoten aufzudröseln, ein paar Worte zu dem, der Ihnen davon berichtet. Stellen Sie sich ein großes schlichtes weißes Gutshaus im Norden Deutschlands vor, im Englischen würde man es Mansion nennen, dort sitze ich in der linken Einliegerwohnung am Computer und tippe Erinnerungen in die Tastatur meines Computers. Mein Blick geht in einen Park hinaus, der überwiegend aus wuchtigen Eschen und Walnussbäumen besteht und überragt wird von einer riesigen Blutbuche. Wir wohnen hier nicht als Gutsherren, sondern sind deren Mieter in einer geräumigen Einliegerwohnung im Hochparterre, und mit unseren Vermietern verbindet uns ein ausgewogenes freundschaftliches Desinteresse, das es aber auch zuließ, dass ich ihnen die Kassetten der BBC-Serie „Downton Abbey“ auslieh, die sie mit so großem Vergnügen schauten, dass ihre Kinder aufbegehrten, weil sie lieber Fußball oder Seifenoper schauen wollten.

Wir, das bin ich – noch derselbe wie der, der damals nach Zürich zurückfuhr? So ganz löscht oder wechselt das Altern die Identität nicht aus – und meine Frau, die in der Küche gerade aus eingefrorenen Früchten, die wir selbst pflückten, Brombeermarmelade kocht. Ein bedrückender Schatten liegt über meinem Leben, seit bei meiner lieben großen Tochter in Köln im Sommer ein inoperabler, kaum behandelbarer Krebs festgestellt wurde, und der Schmerz, sie zu verlieren, wird noch potenziert dadurch, dass sie ein zweieinhalbjähriges Töchterchen hat, meine Enkelin. Dass mir das in meinem hohen Alter noch beschieden ist, lässt mich mit dem Schicksal hadern, aber Ursula, die als Mitarbeiterin eines ambulanten Hospizdienstes den Umgang mit dem Tod gewohnt ist, hält mich aufrecht. Das drohende Ableben meiner Tochter ist sicherlich auch ein Grund, mich meiner Vergangenheit zuzuwenden, wie sie es getan hat, als sie ein Familienhörbuch für ihr Töchterchen erstellte, denn es besteht die Gefahr, dass sie stirbt, bevor das Erinnerungsvermögen der jetzt Zweieinhalbjährigen einsetzt.

Ich machte mich also auf die Suche nach einem ruhigeren Abteil und fand eines, in dem zwar ein junges Paar mit Baby war, aber das Baby schlief, und außerdem war noch eine Dame etwa meines Alters in dem Abteil, die gerade ihren großen Samsonite Koffer ins Gepäcknetz empor wuchtete, wobei der Vater des Babys sie unterstützte. „Ist hier noch frei?“, fragte ich und erhielt eine nicht nur bejahende Antwort, sondern, wenn ich mich recht erinnere, sagte sie: „Aber selbstverständlich!“ Habe ich ihretwegen die Suche nach einem leereren Abteil aufgegeben? Ich weiß es nicht. Jedenfalls hatte ich bald Gelegenheit, meine Wahl zu bereuen, denn das Baby fing an zu schreien, und als alles „Non piangere, tesoro!“ nichts half, legte die Mutter es an und still war‘s. Es entwickelte sich ein Gespräch, an dem ich allerdings nicht beteiligt war, denn ich konnte kein Italienisch, aber die mitreisende Dame sprach es perfekt, wie mir schien, auch sehr schnell, und als ich sie später fragte, ob sie Italienerin oder Deutsche sei, erwiderte sie geschmeichelt, sie sei Deutsche, habe aber für ihre Ausbildung sieben Jahre in Rom gelebt und dort das Italienische notgedrungen lernen müssen. Sie habe am Istituto del Restauro das Handwerk des Restaurierens erlernt, und blitzartig hatte ich die Eingebung zu sagen, dann sei sie ja die ideale Führerin für einen Besuch des Zürcher Kunsthauses. Sie schüttelte lachend den schmalen Kopf mit den schrägstehen blaugrauen Katzenaugen: „Ich würde Sie nur auf Mängel, auf Craquelés und nachgedunkelte Firnisse aufmerksam machen, sicherlich auch auf schlechte Restaurierungen, und das ist es sicherlich nicht, was Sie im Kunsthaus erleben wollen!“ Ich beteuerte, ganz im Gegenteil würde gerade dieser besondere Aspekt mir sehr gut gefallen, da ich auch schon gelegentlich zum Pinsel gegriffen und mir autodidaktisch die handwerklichen Grundlagen der Malerei angeeignet hätte, so bevorzugte ich Tempera und miede Ölfarben. Das Baby wachte auf, sein Gebrüll war markerschütternd, seine Windel musste gewechselt werden, und auch dabei vermochte die Mitreisende das italienische Paar mit Rat und Tat zu unterstützen, und während mich der Geruch auf den Flur trieb, schien er ihr nichts auszumachen, ich verfluchte das Baby, weil es unser sich gut entwickelndes Gespräch so brutal unterbrochen hatte, aber wir nahmen den Dialog, gemeinsam in Basel umsteigend, wieder auf, und in Zürich verabschiedete sich die Dame, eine Düsseldorferin, wie ich inzwischen wusste, indem sie mir ihre Karte anbot, um sie für einen Kunsthausbesuch in ihrer Begleitung mal anzurufen. Ich nahm sie mit dem gebotenen Zögern im Empfang. Ach, hätte ich ihre Annahme doch verweigert, wieviel Kummer wäre mir – und ihr! -  erspart geblieben! Aber so ist es nun einmal: Die Frauen werfen die Angel aus – und wir ahnungslosen Männer beißen an!



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Kommentare zu diesem Text


 Fridolin (02.12.24, 18:44)
...macht neugierig auf die Fortsetzung.

 Quoth meinte dazu am 08.12.24 um 14:55:
Habe ich mit "Ganymed" geschrieben. Danke!

 Lluviagata (08.12.24, 08:11)
Verehrter Quoth,

ein grandioser Spannungsbogen in Deinem unnachahmlichen Schreibstil - ich bin mehr als gespannt, wie es weiter geht. 

Liebe Grüße
Llu ♥

 Quoth antwortete darauf am 08.12.24 um 14:57:
Danke, liebe Lluviagata.
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