Gedanken über die Einsamkeit

Anordnung

von  Quoth

Ist Einsamkeit von Vorteil oder von Nachteil? Für den Kreativen ist sie gut, er sucht sie und verzweifelt, wenn er sie nicht hat (Kafka), denn in der Einsamkeit begegnet er Gott oder sich selbst (was fast dasselbe ist). Wer diese Fähigkeit zum Selbstgespräch oder Gebet (was fast dasselbe ist) nicht hat, wird die Einsamkeit zu vermeiden suchen, aber es kann ihm passieren, dass er sich unter lauter Fremden, Freunden und/oder Verwandten plötzlich noch einsamer fühlt als zuvor.

Henry David Thoreau wollte im Wald einsam sein, baute sich eine Blockhütte auf dem Grundstück seines Freundes Ralph Waldo Emerson – und genoss seine Einsamkeit.

Einsam sein zu können, ist auch eine Kunst. Die bewundere ich an meinem Bruder und meinem Sohn, die unter Einsamkeit nicht leiden, sondern sich selbst genug sind. Wer an ihre Tür kommt, um ihnen mitleidig die Einsamkeit zu vertreiben, wird höflich abgewimmelt. Ich hingegen wechsle vom einen Lager in das andere und zurück. Ich bin gern unter Menschen, wenn ich mit ihnen über anderes als Autos und das Wetter reden kann, aber ich bin auch gerne allein und hänge Gedanken und Erinnerungen nach.

Womit sich der freudig Einsame nie beschäftigt: Mit Gedanken an den eigenen Tod. Allenfalls entwirft er Märchenwelten, in denen er allen Toten, die er geliebt hat oder verehrt, wieder begegnet. Unter ihnen fühlt er sich nicht nur nicht allein, sondern glücklich.

In einem Buch von Sven Hedin fand ich den illustrierten Bericht von einem tibetischen Lama, der sich einmauern ließ, um konsequent einsam sein zu können. Nur durch ein winziges Loch erhielt er regelmäßig Brot und zu trinken. Ich fand das einerseits bizarr und fernliegend, aber anderseits auch mutig und tröstlich.

Wo sagt Rousseau, er könne auch in der Bastille glücklich sein? Seine Aussage hat sicherlich dazu beigetragen, dass sie gestürmt wurde.

Viele unglücklich Einsame sind einfach nur Jammerlappen.

Schopenhauers Vergleich der Menschen mit Stachelschweinen: In der Kälte rücken sie zusammen, um sich aneinander zu wärmen, aber dann pieksen sie einander, rücken auseinander – und dann frieren sie. Eine der treffendsten Metaphern über die menschliche Gesellschaft.



 


Anmerkung von Quoth:

Sorge derjenige, der‘s vermag, dass er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe, aber lass ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, dass er sein ganzes Glück darauf baue. Man muss ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann.
Michel de Montaigne: Über die Einsamkeit, übersetzt von Christoph Bode

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (11.12.24, 17:49)
Schopenhauer plädiert in seiner berühmten Stachelschwein-Parabel für einen mittleren Abstand, den er die Stachelschweine "Höflichkeit und gute Sitte" nennen läßt.

Das mit dem Einmauern, das ja auch in christlicher Tradition vorkommt, ist mir zu extrem. Es fehlt dann die geistige Anregung durch andere. Da müßten dann in der Zelle wenigstens genügend Bücher vorhanden sein - nicht nur die Bibel.

 Graeculus meinte dazu am 11.12.24 um 19:47:
Mir fällt noch das schöne Gedicht "Der Einsame" von Wilhelm Busch ein:

Wer einsam ist, der hat es gut,
Weil keiner da, der ihm was tut.
Ihn stört in seinem Lustrevier
Kein Tier, kein Mensch und kein Klavier,
Und niemand gibt ihm weise Lehren,
Die gut gemeint und bös zu hören.
Der Welt entronnen, geht er still
In Filzpantoffeln, wann er will.
Sogar im Schlafrock wandelt er
Bequem den ganzen Tag umher.
Er kennt kein weibliches Verbot,
Drum raucht und dampft er wie ein Schlot.
Geschützt vor fremden Späherblicken,
Kann er sich selbst die Hose flicken.
Liebt er Musik, so darf er flöten
Um angenehm die Zeit zu töten,
Und laut und kräftig darf er prusten,
Und ohne Rücksicht darf er husten,
Und allgemach vergißt man seiner.
Nur allerhöchstens fragt mal einer:
Was, lebt er noch? Ei Schwerenot,
Ich dachte längst, er wäre tot.
Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen,
Läßt sich das Glück nicht schöner malen.
Worauf denn auch der Satz beruht:
Wer einsam ist, der hat es gut.

Auch so kann man es sehen. Ist wohl Geschmackssache ... oder eine Frage der Prioritäten, die man in seinem Leben setzt.

 Mondscheinsonate (11.12.24, 19:10)
Meine eigenen Gedanken... Ich weiß nicht, Menschen, die sich zurückziehen, sind nicht einsam, sondern aktiv (gewünscht) alleine.
Einsamsein ist ein Zustand, den Menschen haben, die nicht Alleinesein können.

 LotharAtzert antwortete darauf am 11.12.24 um 22:10:
So ist es, das ist exakt auf den Punkt gebracht. 8-)

 FrankReich schrieb daraufhin am 11.12.24 um 23:03:
Rückzug kann genausogut auch Flucht bedeuten, von freiem Willen somit keine Rede sein, und ein Mensch kann durchaus auch in Gesellschaft einsam sein, d. h. bspw., dass er sich dabei verloren oder abgegrenzt fühlt; der will oft sogar allein sein, weil er nämlich sowieso schon einsam ist und vll. ist das sogar seine Chance, durch Reflektion Anschluss zu finden. 
Die Kehrseite der Medaille ist die, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, auf Dauer verkümmern die meisten Menschen ohne soziale Kontakte, egal wie stark ihr Hang zum Alleinsein einmal gewesen sein mag.
Es gibt also nicht nur schwarz und weiß, sondern neben grau auch noch die gesamte farbliche Palette.
Für mich ist nämlich nur der wirklich einsam, der die Vielfalt seiner gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten nicht erkennt, geschweige denn nutzen kann und daher aus seinem (im)mobilen Schneckenhaus nicht (mehr) herauskommt.

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 12.12.24 um 07:57:
Auch, in dem Fall haben wir beide Recht. Beispiel hier, Holzhütte, das ist bewusst.

 LotharAtzert ergänzte dazu am 12.12.24 um 10:02:
Frank - Der sich zurückziehende Mensch (ich rede von mir und eben nicht als Sprachrohr für sich Zurückziehende) ist ein Einzelner, das Soziale hingegen findet in der Menge statt, vor der er (meistens aus guten Gründen) ja gerade flüchtet.
Darüber kannst Du gern eine Abhandlung schreiben, solange ich sie nicht lesen muß.

 FrankReich meinte dazu am 14.12.24 um 16:07:
@Mss
Einsamkeit ist nicht der Zustand, nicht allein sein zu können, sondern das Gefühl, allein (gelassen worden) zu sein, mit anderen Worten kann der Umstand, nicht alleinsein sein zu können, auch andere Ursachen haben als die Einsamkeit, ad hoc hätte ich da noch Langeweile anzubieten.

 FrankReich (11.12.24, 21:38)
Was mir an Deinem Essay fehlt, ist die Unterscheidung zwischen Einsamkeit, Alleinsein und Alleinsamkeit, denn einsam kann auch der sich fühlen, der nicht (mit sich) alleine ist, meist dadurch, dass er sich selbst nicht versteht oder unverstanden fühlt, während das Alleinsein nicht immer auf selbst gewählte Isolation zurückgeführt werden kann, wohingegen die Alleinsamkeit zwar von der Assoziation her auf Selbstgenügsamkeit verweist, jedoch in seiner Definition von der Betonung der Silben abhängt. 😂
Dass einsame Menschen vorwiegend Jammerlappen sind, halte ich für überzogen, denn natürlich kann ich einen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist, als Jammergestalt bezeichnen, das hilft ihm allerdings ebensowenig weiter, wie es sein Seelenleben beschreibt, zumal diese Art der Einsamkeit zumeist sogar auf Fremdverschuldung beruht (bspw. beim Kuckuckskindopfer).
Nicht zuletzt kann auch ein Mensch in Gesellschaft alleine sein (mit sich, also nicht allein gelassen) wenn er es denn versteht, sich seelisch abzugrenzen und das dementsprechend toleriert wird (ausdrücklich: in Ruhe gelassen werden). 😎
Mir ginge es allerdings auch gar nicht darum, diese Zustände nur zu erläutern, sondern auch um den praktischen Umgang mit ihnen, was z. B. auf getrennte Haushalte eines Paares, Psychotherapie, etc. hinausläuft, also durch Lösungen, die Du zumindest aber theoretisch durch die Schopenhauersche Stachelschweinmetapher anschneidest. 👋😉👍

 Quoth meinte dazu am 12.12.24 um 11:34:
Ausgelöst wurde mein Beitrag auch durch Meldungen der Medien, jeder zweite kenne das Gefühl von Einsamkeit usw.
Sollte nicht jeder zweite darüber froh sein? Diese ausschließlich negative Besetzung des Wortes Einsamkeit hat mich auch zu der Jammerlappenzeile veranlasst.

 FrankReich meinte dazu am 12.12.24 um 13:07:
Da der Begriff ja nun wirklich zumeist negativ konnotiert ist, halte ich es schon für angebracht, zu Alternativen greifen zu können, leider scheint die deutsche Sprache immer dort ziemlich unflexibel zu sein, wo es um Gefühlswelten geht.

 FrankReich meinte dazu am 12.12.24 um 13:07:
🤔

Antwort geändert am 12.12.2024 um 13:08 Uhr

 Quoth meinte dazu am 12.12.24 um 20:59:
In einer Rundfunksendung heute Abend höre ich, dass Einsamkeit als Leiden, ja, vielleicht als Krankheit einzuschätzen sei! Was für eine Verirrung! Sie ist das höchste Glück - nicht umsonst bieten Klöster ihre Zellen an, um die Nutzer zu sich selbst als Menschen zurückzuführen!

Die einzige negative Einsamkeit, über die es sich zu reden lohnt, ist die aufgezwungene während der Pandemie. Wird sie auch ohne Pandemie gelegentlich aufgezwungen? Ja, im Knast. Aber in dem sitzt man (meistens) nicht ohne Grund.

Antwort geändert am 12.12.2024 um 21:12 Uhr

 FrankReich meinte dazu am 14.12.24 um 15:45:
Um sich über die Einsamkeit besser im Klaren zu werden, müssten wir beide natürlich über die gleiche Definition des Begriffes verfügen:

Für mich bedeutet Einsamkeit ein persönlich empfundenes Gefühl, das ähnlich wie Langeweile kein freiwillig gewählter Zustand ist, sondern durch das Fehlen von Zufriedenheit ausgelöst wird, ergo ein emotionales Manko darstellt, unter dem bestimmt nicht wenige Menschen leiden und das sich für einige sogar sicher bis zur Krankheit auswachsen kann. 👋🤓

 AchterZwerg (12.12.24, 06:57)
Ich kann Kafka nur zustimmen!

Es wird immer schwieriger, Pausen von all den Menschen einzulegen, die uns täglich belagern.
Trotz oder gerade wegen der Digitalisierung. ;)

 Mondscheinsonate meinte dazu am 12.12.24 um 07:57:
Richtig.

 Quoth meinte dazu am 12.12.24 um 20:56:
Danke! sagt Kafka :ninja:

 Lorolex (12.12.24, 14:21)
Hallo Quoth,
hätte der Schöpfer (ich liebe ihn einfach) gewollt, dass wir einsam sind, hätte er keine Tiere erschaffen! Und auch er selbst gesellt sich IMMER (auch wenn man eigentlich mal alleine sein will) zu einem hin, man muss nur daran glauben, irgendwann wird man es wissen! Ich möchte sogar sagen, als sein Sohn rief:"Herr, wieso hast Du mich verlassen?" Da war er nicht allein, sein Glaube hat ihn verlassen, nicht Gott!

Kommentar geändert am 12.12.2024 um 14:21 Uhr

 Quoth meinte dazu am 12.12.24 um 20:54:
Die Gnostiker und die Kabbalisten glauben an den göttlichen Funken im Menschen, gefällt mir.

Antwort geändert am 12.12.2024 um 21:12 Uhr

 Klemm (12.12.24, 17:27)
Einsam bist du sehr alleine
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit
aus Kleines Solo von Erich Kästner

 frieden (15.12.24, 06:57)
Zwei Anmerkungen:

1.
Bindung ist Überleben, wenn ein Mensch zur Welt kommt. Alleinsein ist keine Option.

2.1
Mit dem Wertequadrat von Friedemann Schulz von Thun gelingt es oft, Lösungen zu finden.
Alleinsein und Bindung sind eben Schwestertugenden und nur deren Übertreibungen sind zu vermeiden, indem die Schwestertugenden in Balance gebracht werden.

2.2 
Perplexity gibt dazu folgende Hinweise:

Wertequadrat für Alleinsein, Einsamkeit und Gemeinsamkeit (das war meine Frage an die KI):

Positive Werte:

  1. Autonomie (Alleinsein)

  2. Verbundenheit (Gemeinsamkeit)
Übertreibungen (Unwerte):

  1. Isolation (übertriebenes Alleinsein)

  2. Abhängigkeit (übertriebene Gemeinsamkeit)
In diesem Wertequadrat stehen Autonomie und Verbundenheit als positive Werte in einer dynamischen Balance zueinander. Beide Werte sind wichtig für ein erfülltes Leben, aber in ihrer Übertreibung können sie problematisch werden.



2.3
Bis auf den Begriff "Unwerte", der nicht passt, eigentlich eine Darstellung, die für mich gelten kann: Es gilt Isolation und Abhängigkeit zu verhindern, indem ich die jeweils entgegengesetzte Tugend in mein Leben lasse.
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