Schon wenige Wochen später befand ich mich in einer Umgebung, in der ich meine Zunge hüten musste: Menschen von Einfluss und Reichtum, ein weltberühmter Pianist, eine Gastgeberin, die in ihren Kellerräumen darüber nachdachte, welches Bild sie als piece of conversation an die Wand hängen sollte, wenn Verleger, Autoren und berühmte Denker mit ihren Gattinnen eingeladen waren: Diesen Hodler, jenen Böcklin, oder gar einen Stich von Urs Graf? Und das alles waren keine Reproduktionen, wir sie zu Hause an der Wand hängen hatten, sondern Originale, eine Welt tat sich vor mir auf, für die mir die Begriffe und Maßstäbe fehlten, und ging ich mit meiner Freundin, der Restauratorin Norma, nach Hause in die Titlisstraße, versank ich dort in der im Umbau befindlichen Villa, die sie bewohnte, in eine fast zu bereitwillig, ja, fast gelangweilt zur Verfügung gestellte Sinnlichkeit.
Und warum musste ich meine Zunge hüten? Zwei Jahre zuvor hatte ich zu denen gehört, die in Köln die Auslieferung der verhassten Bildzeitung behinderten, nachdem ein von ihr aufgehetzter Lehrling Rudi Dutschke niedergeschossen hatte. „Besser kein Wort davon,“ hatte Norma mir empfohlen, ich hatte das Gefühl, wie weiland Ganymed von einem Adler in ungeahnte Höhen emporgetragen zu werden, und Zeus sah aus wie Schah Reza Pahlavi und hatte eine Tochter von so umwerfendem Liebreiz und so seidener Klugheit, dass auch Normas fast zu große Bereitwilligkeit, mir Freuden des Bettes zu bereiten, mich nicht davon abhalten konnte, mich hoffnungslos in sie zu verlieben.
Warum hoffnungslos? Zu meinem Geburtstag bekam ich ein ebenso kleines wie bedeutsames Geschenk von der Familie, in die es mich durch Normas Freundschaft mit Meret verschlagen hatte: Eine runde Metalldose, die mit magnetischer Kraft ein halbes Hundert stählerner Büroklammern in sich beherbergte und an sich band. „Hast du begriffen, was diese Gabe bedeutet?“ Ich schlug die Augen nieder, ich hatte es begriffen, mich erinnert, dass Gabe auf englisch gift heißt, und zerriss das Gedicht, das ich auf und für Meret geschrieben hatte, in tausend Stücke.
Waren die neuen Menschen, in deren Kreis ich verkehrte, nicht sogar verwandt mit jenem Alfred Escher, dessen ehernes Standbild vorm Bahnhof sich erhob? Er hatte die moderne Schweiz aufgebaut und auch die Firma gegründet, in der ich ein namenloser Korrespondent war – es gibt keinen Adel mehr in der Schweiz, aber etwas Vergleichbares: Ein altüberliefertes Großbürgertum von fast unumschränkten Privilegien.
Und weil ich, angeregt von der body art, ein Stück schreiben wollte, in dem der Held sich selbst mit der Pest infiziert und ausstellt, griff Merets Freund, der sich anschickte, Regisseur zu werden, nach dieser Idee, aber zunächst einmal wurde ich weitergereicht an den Familienonkel, der am Genfersee residierte, und durchforstete für ihn ein paar Bücher und Quellen über einen Schweizer Kardinal in der Zwinglizeit, der fast Papst geworden wäre, erledigte das zu seiner Zufriedenheit und kam so in den Genuss, eine Hand zu drücken, die auch schon Rilkes, Hofmannsthals, Charlie Chaplins und Hitlers Hand gedrückt hatte.