Rhabarber

Glosse zum Thema Arroganz

von  Klemm

„Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,        
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,        
So hab’ ich dich schon unbedingt -“          
                                (Goethe: Faust I, V. 1851-55)


So legte es Goethe einst dem Teufel selbst in den Mund. Bei Hitler klang es später so:


„Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend. Am liebsten ließe ich sie nur das lernen, was sie ihrem Spieltriebe folgend sich freiwillig aneignen. Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen."


Nichts hat sich seitdem geändert. Wer dem Lügengeist gehorcht, fühlt sich Vernunft und Wissenschaft nicht nur dergestalt überlegen, dass er meint, auf jegliche Argumentationslogik verzichten zu können; er verachtet in seinen von Pathos triefenden Äußerungen nicht nur Logos und Ethos, er verlacht Gebildete als Eingebildete. Freilich bleibt der Antiintellektuelle eine Erklärung, warum nun gerade Ungebildete der Einbildung erhaben sein sollten, schuldig. Praktisch, dass eine Erklärung so unerwünscht ist wie die Aufklärung als solches, denn diese ist die Wurzel allen Übels, Gemeinheit schlechthin. Dient doch die Aufklärung keinem anderen Anliegen als die vitalen Kräfte des mutigen Antiintellektuellen zu unterdrücken, seinen Wald- und Wiesenverstand anzuzweifeln, seine Urteile als Voruteile zu entlarven und so weiter.


Frei vom einengenden, beschwerenden Intellektualismus schwingt sich der Antiintellektuelle auf, über den Menschen, auf, auf hinauf in die Vogelperspektive, wo das Schicksal herrscht, dem er sich stolz gefügt hat.


Wer braucht schon Mündigkeit, wenn Gehorsam Flügel verleiht?


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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (05.12.24, 17:32)
Was Wissenschaft für viele so unangenehm macht:
Wissenschaften sind nicht demokratisch, sondern aristokratisch organisiert. 
Kann man es sich anders überhaupt wünschen? Selbst Feyerabend ging nicht so weit, wissenschaftliche Fragen durch Abstimmung statt durch Argumente entscheiden zu wollen.

 Klemm meinte dazu am 05.12.24 um 19:30:
Es scheint mir sehr menschenfreundlich, dass du davon ausgehst, Antiintellektuelle hätten ein Interesse daran, sich mit wissenschaftlichen Fragen zumindest in Form von Abstimmung zu beschäftigen. Ich beobachte bei den Antiintellektuellen kein Erkenntnisinteresse, sondern bloßes Machtinteresse. Wissenschaftliche Forschungsergebnisse, die der Durchsetzung ihrer autoritären Ideologie/Religion hinderlich sind, werden beliebig geleugnet oder angeführt oder entstellt und verdreht. Für Anhänger des Autoritarismus ist es vielleicht einfach besonders unangenehm, eine Autorität anzuerkennen, die nicht einfach blinden Gehorsam verlangt, sondern Auseinandersetzung erfordert. Da lande ich dann wieder bei den von Kant angegebenen Gründen: Faulheit und Feigheit.

 Graeculus antwortete darauf am 05.12.24 um 20:31:
Vielleicht überschätzt ich dieses Interesse, sich ohne Kenntnisse mit wissenschaftlichen Fragen zu befassen. Aber sehen wir nicht gerade bei kV das eine oder andere Beispiel dafür? (Namen brauche ich sicher nicht zu nennen, wenn Du das Geschehen hier verfolgst.)
Das andere gibt es klarerweise auch: Wissenschaft überhaupt für irrelevant gegenüber der eigenen Weltanschauung bzw. Religion zu erklären, d.h. auf ein höheres Wissen zu pochen.

Wissenschaft ist anstrengend und führt zu überraschenden, manchmal unliebsamen Ergebissen. Insofern spielen auch Kants Faulheit und Feigheit eine Rolle.

 Klemm schrieb daraufhin am 05.12.24 um 21:59:
Ich würde es anders formulieren: Es gibt hier Menschen, die Antworten niederschreiben, die den Frage nicht gerecht werden, da sie wissenschaftliche Erkenntnisse, die es dazu bereits gibt, ignorieren. Werden sie darauf hingewiesen, gehen sie von ignorieren zu leugnen bzw. widersprechen über. Das deute ich so, dass ihnen um die Frage, also Erkenntnisgewinn, gar nicht geht, sondern um die Antwort. Ihre Antwort sowie das Beharren auf ihrer Antwort erfüllen für sie einen Zweck, der außerhalb der Frage steht. Passend dazu halte ich die Antworten in den meisten Fällen für ideologisch (auch was als Metaphysik daherkommt, ist oft nur Ideologie mit Lametta). Die Ideologie wird mehr oder weniger offensichtlich zur Aufrechterhaltung der eigenen Identität gebraucht. Gemein ist diesen Menschen ein autoritärer Stil, der den vorgegebenen Ethos unglaubwürdig macht.

 S4SCH4 äußerte darauf am 06.12.24 um 18:35:
Was die Mündigkeit betrifft, Wissenschaft und ihre Vernunft kann eine Basis sein, allgemein ist es ja anerkannt, aber es ist kein muss. Ich zitiere im Folgenden einen übersetzten Artikel über K.Popper ( link): 

"Erstens haben Wissenschaftler laut Popper nie das Recht, an die Wahrheit der Beobachtungsaussagen zu glauben, die sie akzeptieren . Wissenschaftler wenden bestimmte Verfahren an, um Daten zu akzeptieren, von denen sie hoffen, dass sie dazu führen, dass sie überwiegend wahre Aussagen akzeptieren, aber eine Hoffnung ist kein Grund."
 

Auch ist nach Popper so, dass Wissenschaft (also ihre Modelle und Theorien) immer auch widerlegt werden müssen. Im Prinzip jedenfalls.  

Das viele Antworten die Identität wahren, sie zeigen, mit ihr wuchern ist schon normal. Was erwartest du? 
Der autoritäre Stil scheint immer in der Nähe jener Antwortkaliber. Doch von einem H. und einem T. sind sie weit entfernt. 

Ob es nun Arroganz ist, Ungebildetheit oder Verliebtheit in eigene Ideen. Ich denke der Verfasser darf auch immer im Hinterkopf haben, dass wir hier in einem Literaturforum sind. 

Abschließend die nachfolgenden Zeilen zum oben (im Thementext) zitierten Faust: 1856-1859
"Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,
Der ungebändigt immer vorwärts dringt,
Und dessen übereiltes Streben
Der Erde Freuden überspringt."
Der Mephi im Faust ist ja nicht nur Widersacher, sondern spielt ja eine ganz eigene, individuelle Rolle für die Identität des Faust.

Also, man darf gerne erfahren wo die Leute herkommen, was für einen Background haben sie, usw. Dann klappts auch.

 Klemm ergänzte dazu am 06.12.24 um 18:42:
Nun, Sascha, ist es ja leider (nicht zufällig) gerade so, dass die Betroffenen nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen, nein, sie lehnen das Konzept der Falsifizierbarkeit ab, den Kern von Poppers Wissenschaftstheorie.

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 20:16:
Poppers Konzept der Falsifizierbarkeit ist von seinem Kollegen Imre Lakatos an der London School of Economics einer, wie ich meine, vernichtenden Kritik unterzogen worden: "Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme" (1970).
Es wäre etwas viel verlangt, hier Lakatos' Argumente wiederzugeben; das Ergebnis ist jedenfalls, daß wissenschaftliche Theorien weder verifiziert noch falsifiziert werden können.
Dies führt bei Lakatos interessanterweise nicht zu einer Gleichsetzung von Wissenschaft und Hokuspokus, sondern zu einem anderen Kriterium für Wissenschaftlichkeit.

(Soweit Lakatos. Ich erinnere mich noch gut an die anarchistische Erkenntnistheorie, die Paul Feyerabend daraus gemacht hat.)

Spannende Sache, das Ganze - Poppers Falsifikationismus ist jedenfalls nicht in Stein gemeißelt und sollte nicht zu einem Dogma werden, zumal schon Popper selbst zugestanden hat, daß jedes rationale System auf irrationalen Annahmen beruht.

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 20:28:
Hier ist ein gutes Zitat von Willard Van Orman Quine aus "Zwei Dogmen des Empirismus" (1953):

[...] Die Gesamtheit unseres sogenannten Wissens oder Glaubens, angefangen bei den alltäglichsten Fragen der Geographie oder der Geschichte bis zu den grundlegendsten Gesetzen der Atomphysik oder sogar der reinen Mathematik und Logik, ist ein von Menschen geflochtenes Netz, das nur an seinen Rändern mit der Erfahrung in Berührung steht. Oder, um ein anderes Bild zu nehmen, die Gesamtwissenschaft ist ein Kraftfeld, dessen Randbedingungen Erfahrung sind. Ein Konflikt mit der Erfahrung an der Peripherie führt zu Anpassungen im Inneren des Feldes. Wahrheitswerte müssen über einige Aussagen neu verteilt werden. Die Umbewertung einiger Aussagen zieht aufgrund ihrer logischen Zusammenhänge die Umbewertung einiger anderer Aussagen nach sich - die logischen Gesetze wiederum sind nur gewisse weitere Aussagen des Systems, gewisse weitere Elemente des Feldes. Wenn wir eine Aussage neu bewertet haben, müssen wir einige andere neu bewerten, die entweder logisch mit der ersten verknüpft sind oder selbst Aussagen logischer Zusammenhänge sind. Doch das gesamte Feld ist so sehr durch seine Randbedingungen, durch die Erfahrung unterdeterminiert, daß wir eine breite Auswahl haben, welche Aussagen wir angesichts einer beliebigen individuellen dem System zuwiderlaufenden Erfahrung neu bewerten wollen. Keinerlei bestimmte Erfahrungen sind mit irgendwelchen bestimmten Aussagen im Inneren des Feldes auf andere Weise verbunden als indirekt durch Erwägungen des Gleichgewichts für das Gesamtfeld.

Darin kann ich jedem Satz zustimmen ... und finde darin auch die Realität tatsächlich erlebter Kontroversen im wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Bereich wieder. Da wird nicht einfach widerlegt und dann eine neue Theorie gesucht. Das kopernikanische Weltbild, zum Beispiel, widerlegt nicht das ptolemäische - es erklärt die Phänomene einfacher und eleganter.

Antwort geändert am 06.12.2024 um 20:28 Uhr

 Klemm meinte dazu am 06.12.24 um 20:28:
Für eine sinnvolle Diskussion bräuchte es zumindest die Bereitschaft, sich vorzustellen, dass die eigene Aussage nicht stimmen könnte.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.12.24 um 20:37:
Ich bin geistig bei dir, Klemm. Auch würde ich behaupten, das, was nicht verstanden wird, ist automatisch schlecht (siehe EU) und dann geht es nur um die eigene Wirklichkeit. Nur noch um die.

 Klemm meinte dazu am 06.12.24 um 20:39:
Ich möchte aber hinzufügen: Fehlende Kenntnisse machen noch keinen Antiintellektualismus. Antiintellektualismus, wie er mir hier begegnet, ist ideologisch begründet und wertet nicht nur aufrichtiges Erkenntnisinteresse und Differenzierungsvermögen ab, sondern viel mehr noch jene, die es besitzen. Du, Graeculus, erfährst dies ja regelmäßig.

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 20:43:
Oh, im Prinzip gibt das wohl auch jeder zu ... bzw. fast jeder. Der Teufel lauert im konkreten Fall - und darin, daß niemand es in einem konkreten Fall zugeben muß. Es gibt keine Logik, die ihn dazu zwingt, denn es gibt logisch einwandfreie Alternativen (vgl. Quine). Immer.

Das ist irgendwie betrüblich, aber es leuchtet mir ein.

Das klassische Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte ist die Entdeckung, daß der Uranus sich nicht auf der Bahn bewegt, die ihm das Gravitationsgesetz vorschreibt. Du weißt, was das nach Popper bedeutet: ein einziger Fall, und das Gravitationsgesetz ist widerlegt! Nein. Das macht kein Wissenschaftler, und er muß es auch nicht. Stattdessen postuliert er einen noch unentdeckten Störfaktor, welcher den Uranus in seiner Bahn ablenkt, und zwar ganz im Rahmen der Gravitationstheorie. Gut, man hat ihn dann gefunden: den Neptun, und die Sache war wieder in Ordnung.
Was aber, schreibt Lakatos, wäre passiert, wenn man den Neptun nicht entdeckt hätte? Hätte man dann das Gravitationsgesetz aufgeben müssen? Nein!

Ich finde beide genannten Aufsätze, den von Lakatos und den von Quine, extrem spannend.

Es hat viel mit dem zu tun, wie Wissenschaftler tatsächlich vorgehen, während der klassische Popper eher etwas für Sonntagsbekenntnisse ist: Selbstverständlich sind Theorien falsifizierbar.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.12.24 um 20:44:
Nein, das behauptet auch sicher keiner. Es trifft nur die, die es sind.

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 20:49:
Das alles soll keinen Antiintellektualismus rechtfertigen, läuft aber darauf hinaus, daß Intellektualismus das reflektieren muß, was tatsächlich geschieht - hier auf kV wie in der Wissenschaft.

Es ist mir, glaube ich, hier noch nie gelungen, jemanden zu widerlegen, so daß er das auch zugegeben hat ... und das hat ja einen Grund, der nicht darin liegt, daß die anderen so blöd sind. Die Struktur von Beweis und Widerlegung ist sehr kompliziert und keineswegs simpel. Es gibt viele Strategien, um nicht zugeben zu müssen, daß man widerlegt ist, und soweit ich es sehe, benutzen die kV-User (bewußt oder unbewußt) eine Menge davon.

 Klemm meinte dazu am 06.12.24 um 20:52:
Ja, Graeculus, wirklich sehr gut!

Umso mehr braucht es die Bereitschaft, sich die Bewertungen , die man vornimmt, bewusst zu machen. Die Mehrzahl an Diskussionen hier scheitern aus meiner Sicht schon an den Definitionen einzelner Begriffe. Man braucht nicht einer Meinung sein, aber über die Definitionen muss Einigkeit herrschen.

Mondschein, ich hatte deine Antwort noch nicht gelesen. Aber ist das nicht seltsam. Ich persönlich finde etwas, das ich nicht verstehe, nicht automatisch schlecht.

 S4SCH4 meinte dazu am 06.12.24 um 20:55:
Zu dem klassischen Beispiel von Graeculus um 20:43: Es geht ja nicht darum, das es als widerlegt gilt, sondern darum das es grundsätzlich widerlegbar ist. 

"Zu der Bereitschaft sich vorzustellen, das etwas an der eigenen Aussage nicht stimmen könnte" von Klemm um 20:28: Das ist ein interessanter Punkt. Wie weit geht dieses "nicht stimmen". In Verbindung mit der Diskussion um Popper: die reine Annahme der Falsifizierbarkeit reicht doch aus. Oder? Es ist die Bereitschaft anzuerkennen, den Diskurs, das Thema weiterzuführen - auch in weiterläufige / entgegenläufige Stränge.

Antwort geändert am 06.12.2024 um 20:58 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.12.24 um 20:56:
Ebenso nicht. Gerade DAS interessiert mich dann. Interessant ist, dass dann den als wissenschaftlich getarnten Schwurblern geglaubt wird, ohne zu hinterfragen, woher DER das hat. Ein Phänomen, das mich fast mehr interessiert.

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 21:23:
Es geht ja nicht darum, das es als widerlegt gilt, sondern darum das es grundsätzlich widerlegbar ist.

S4SCH4, hast Du den Text von Quine gelesen (welcher dem Standpunkt von Lakatos entspricht)? Theorien sind grundsätzlich weder eindeutig beweisbar noch eindeutig widerlegbar.

Das, was man täglich erlebt, daß niemand sich für widerlegt hält, das hat logische Gründe!

Nochmals: ich kann beide Aufsätze nur empfehlen.
Paul Feyerabends "Against Method!" (dt. Wider den Methodenzwang) mag man dann anschließend als unterhaltsam genießen. Der schreibt witzig-provokant.

[...] Die Wissenschaft steht also dem Mythos viel näher, als eine wissenschaftliche Philosophie zugeben möchte. Sie ist eine der vielen Formen des Denkens, die der Mensch entwickelt hat, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech und fällt auf; grundsätzlich überlegen ist sie aber nur in den Augen derer, die sich schon für eine bestimmte Ideologie entschieden haben, ohne jemals ihre Vorzüge und ihre Schwächen geprüft zu haben. Und da die Annahme oder Ablehnung von Ideologien dem einzelnen überlassen bleiben sollte, so folgt, daß die Trennung von Staat und Kirche durch die Trennung von Staat und Wissenschaft, der jüngsten, aggressivsten und dogmatischsten religiösen Institution, zu ergänzen ist. Eine solche Trennung könnte unsere einzige Chance sein, eine Menschlichkeit zu erreichen, zu der wir fähig sind, die wir aber noch nie vollständig verwirklicht haben. [...]

 Graeculus meinte dazu am 06.12.24 um 21:36:
Bei Wikipedia finde ich, daß Karl Popper, Thomas S. Kuhn, Imre Lakatos und Paul Feyerabend die wichtigsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts waren.
Ich tue noch Willard Van Orman Quine hinzu.

Jetzt habe ich Euch genug zugequatscht und schaue mir auf arte "Joan Baez - I Am a Noise" an. Schöner Titel, schöner Film.

 S4SCH4 meinte dazu am 07.12.24 um 06:56:
Welcher Aufsatz von Quine ist gemeint? Der mit dem "zwei Dogmen"? Da wird viel geschrieben, aber mir kommt da wenig rüber. Was soll das sein diese umfassende Sinnesempfindung, mit der man es (die Wissenschaft) betreiben solle? Von daher passt dein Zitat im Vorkommentar von Paul Feyerabend schon ganz gut. Es bleibt ein Mythos, doch wer gesteht sich das nach abertausenden von Stunden die er/ sie mit einer Theorie verbracht hat, noch gerne ein? 

Das Theorien nicht eindeutig beweisbar oder belegbar sind, deckt sich doch mit dem Popper, der ja grundsätzlich schon keinen Anspruch darauf zu erheben scheint. Es ist mir eine gewisse Demut in diesem Wissenschaftsbegriff, ich weiß nur nicht ob diese Demut auch überall ankommt und in den richtigen Momenten aus der Deckung herauskommen kann um wirklich zu punkten. Die Wissenschaft ist und bleibt Zugpferd. Oder mache ich es mir einfach?

Aber da sind wir schließlich wieder bei der abschließenden Frage des Textes: "Mündigkeit". Der Umgang mit der Wissenschaft kann, meines Erachtens, dabei nach beiden Seiten hin umschlagen. Sich selbst gehorsam bleiben bei einer Theorie o.ä. kann Flügel geben, die in einen an sich leeren Himmel führen. Den Mut nicht zu fassen etwas nachzugehen, kann ebenso in die Hose gehen, man kann versumpfen.

 Graeculus meinte dazu am 07.12.24 um 12:24:
Ja, der Aufsatz "Zwei Dogmen des Empirismus" von Quine ist gemeint. Er beschreibt, welche Möglichkeiten zu reagieren es gibt, wenn wir auf eine "sperrige" Erfahrung treffen. Es sind mehrere, sogar viele.

Und ja, daß Theorien nicht beweisbar (verifizierbar) sind, entspricht Popper; neu ist die Erkenntnis von Lakatos, daß sie auch nicht falsifizierbar sind. Eines (!) seiner Argumente besteht darin, daß wir (Forscher) nie sicher sein können, ob die "falsifizierende" Beobachtung nicht durch einen noch unentdeckten Störfaktor ganz im Rahmen der Theorie erklärt werden kann. Siehe das Beispiel mit dem Uranus.

 Klemm meinte dazu am 07.12.24 um 12:43:
Das alles soll keinen Antiintellektualismus rechtfertigen, läuft aber darauf hinaus, daß Intellektualismus das reflektieren muß, was tatsächlich geschieht - hier auf kV wie in der Wissenschaft.

Ja, Graeculus, das sehe ich auch so. Allerdings beobachte ich auf KV oder bei sonstigen Schwurbeleien dies hier:


Die Umbewertung einiger Aussagen zieht aufgrund ihrer logischen Zusammenhänge die Umbewertung einiger anderer Aussagen nach sich - die logischen Gesetze wiederum sind nur gewisse weitere Aussagen des Systems, gewisse weitere Elemente des Feldes. Wenn wir eine Aussage neu bewertet haben, müssen wir einige andere neu bewerten, die entweder logisch mit der ersten verknüpft sind oder selbst Aussagen logischer Zusammenhänge sind.

ausdrücklich nicht. Im Gegenteil. Behauptungen werden mit anderen Behauptungen begründet, Bewertungen werden als solche nicht indentifiziert und besprochen, sondern als gesetzt bezeichnet.

Wenn z.B. jmd. einen Begriff wie Naturgesetz in einer Definition benutzt, die von der Definition abweicht, über die weitgehend Einigung herrscht, wäre ich grundsätzlich offen dafür, insofern diese Person Kenntnis auch von der anderen, bekannten Definition zeigt und argumentativ darlegen kann, auf was er die Existenz der anderen stützt und aus welchem Grunde er die eine der anderen vorzieht. Dass irgendeine andere einzelne Person mal ein paar Bücher geschrieben hat, in denen eine abweichende Definition verwendet wurde und er diese Person toll findet, reicht mir nicht aus, schon gar nicht wenn nun die abweichende Definition notwendige Voraussetzung einer weiterführenden These ist, mittels derer allen, die ihr nicht anhängen, Unverständnis unterstellt wird.

Alle, die in diesem Faden diskutieren, können sich, vermute ich mal, darauf einigen, dass unterschiedliche Wissenschaftsphilosophen unterschiedliche Wissenschaftstheorien darlegen, wie Graeculus oben zitiert. Es ist tatsächlich spannend, die unterschiedlichen Darlegungen zu vergleichen und besprechen, möglich ist das nur, weil sie nicht jede für sich in einem Vakuum existieren.

Diese Aussage von Mondschein ist entscheidend


Interessant ist, dass dann den als wissenschaftlich getarnten Schwurblern geglaubt wird, ohne zu hinterfragen, woher DER das hat.

und darüber hinaus: welche Aussagen und Vorannahmen sind in der Aussage enthalten, auf welchem Welt- und Menschenbild fußen sie? DAS kann durchaus analysiert werden, denn auch als Wissenschaft getarnte Schwurbeleien stehen zumindest in einer Erzähltradition, oft in mehreren, ohne dass sich ihre Vertreter dessen bewusst sind oder wenn sie es sind, lassen sie es sich nicht anmerken, bestreiten es sogar.

Ich halte deine Ausführungen übrigens nicht für Relativierungen des Antiintellektualismus und sie sind überzeugend, Graeculus, ich finde jedoch dass sie sich nicht zur Einordnung oder Erklärung von Antiintellektualismus eignen, eben weil sie im Intellektualismus wurzeln. Bezögen sich die hier schreibtätigen Antiintellektualisten auf zumindest einen der von dir genannten Wissenschaftsphilosophen, verwendeten sie transparente Definitionen, trennten sie diese von Bewertungen, differenzierten sie innertextlich und nutzten sie dafür eine Rhetorik, in der Logos und Ethos glaubwürdig sind und Aussage von der Identität der Aussagenden getrennt würden, könnte man ja mit ihnen diskutieren. Dies ist aber nicht der Fall.

Meiner Ansicht handelt es sich bei Antiintellektualismus schlicht um autoritäre Ideologie, vorgetragen in einem autoritären Stil. Das geht ja soweit, dass du Graeculus als Antwort auf Differenzierungsanstöße zu hören bekommst, als Intellektueller seist du besonders anfällig für Gehirnwäsche und dies sei "wissenschaftlich" erwiesen.

Oder nehmen wir die gebetsmühlenartig wiederholte Aussage, alle Nichtschwurbler seien von den sogenannten Mainstream-Medien manipuliert. Eine Behauptung, die jegliche Prägung, die primäre (Familie) und sekundäre Sozialisation (Institutionen) sowie vorherige Ausseinandersetzungen mit Textanalyse, Rhetorik usw. ignorieren, als würde das alles für das Erfassen und die Einordnung von journalistischen Texten keine Rolle spielen. Der erwachsene Mensch wird als weißes Blatt Papier wahrgenommen, das beliebig beschrieben werden kann.

Ich bleibe also erstmal dabei, dass Antiintellektualisten nicht von Erkenntnisinteresse bezüglich Sachfragen geleitet sind, sondern ideologische Machtinteressen verfolgen, die ihre Identität betreffen. Etwas Besseres fällt mir hierzu bisher nicht ein. Von einem guten Argument lasse ich mich immer gerne übezeugen, selbst wenn ich es mir nicht zueigen mache, beziehe ich es als Möglichkeit mit ein.



Antwort geändert am 07.12.2024 um 17:04 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 07.12.24 um 17:04:
Man kann versuchen, rationale Kriterien zur Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Mystizismus einzuführen, und Lakatos tut dies auch. Aber das steht unter einer Voraussetzung, die schon Popper klar formuliert hat: Die Entscheidung für Rationalität ist selbst irrational, d.h. nicht oder nur logisch zirkulär mit rationalen Argumenten herbeizuführen.
Wissenschaftlichkeit ist, worin auch immer sie bestehen mag, "eine Entscheidung für eine Lebensform" (um à la Wittgenstein zu sprechen).

Nicht alle Gesprächspartner hier akzeptieren eine irgendwie wissenschaftliche Vorgehensweise! Da gibt es dann m.E. keine Verständigungsmöglichkeit, denn bei allen Argumenten sagen bzw. denken sie: Scheiß auf die Argumente! Ich habe die Offenbarung Gottes oder die Intuition auf meiner Seite!

Die etwas interessanteren unter ihnen sind allerdings, da stimme ich Dir zu, diejenigen, die für ihre Verschwörungsmythen etc. den Anspruch von Wissenschaftlichkeit erheben, dabei jedoch andere Methoden (alternative Medien o.ä.) einsetzen, als wir es tun.

Was kann man da machen? Der Hinweis darauf, daß sie ihren Glauben an die Zuverlässigkeit von Informationen sehr ungleich verteilen und daß es dafür kein Argument gibt, ist einen Versuch wert.
Erlebt habe ich: "Die Mainstream-Medien sind alle gekauft, korrupt und stehen unter dem Einfluß der Machthaber. Ich vertraue Informanten, die sich aus Wahrheitsliebe davon losgesagt haben und nun, quasi unentgeltlich, die von ihnen erkannte Wahrheit verbreiten."
Das halte ich ja für einen Mythos, eine Legende; und die Unterstellung, sie würden in Wahrheit von Rußland finanziert, kann man locker gegen die andere Unterstellung halten.

Das Gespräch verläuft sich dann irgendwie. Auf eine "Bekehrung" hoffe ich nicht. Allerdings existiert ein bestimmter Effekt, der vielleicht doch etwas Hoffnung gibt: Viele Gespräche enden in Dissonanz, aber manchmal kommt dann im Nachhinein ein Reflexionsprozeß in Gang. D.h. man gibt dem Gesprächspartner nicht zu, die besseren Argumente zu haben, aber es sitzt doch deren Stachel im Fleisch.
Da habe ich es schon erlebt, daß der Gesprächspartner ganz unauffällig vier Wochen später einen etwas anderen, angepaßten Standpunkt vertreten hat.
Das ist freilich sehr selten!

 Klemm meinte dazu am 07.12.24 um 17:22:
Da gibt es dann m.E. keine Verständigungsmöglichkeit

Ja, leider.

 Klemm meinte dazu am 07.12.24 um 19:01:
Ich kann übrigens folgende Dokureihe des ZDF empfehlen:

https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/verschwoerungen-die-wahrheit-der-anderen-reichsbuerger-neue-rechte-und-radikalisierung-100.html#autoplay=true

Es handelt sich um sechs Teile, viele Verschwörungsgläubige kommen dabei zu Wort, u.a. die Frau, die Chemtrails erfunden hat.

 S4SCH4 meinte dazu am 07.12.24 um 20:47:
Interessant ist die Frage, ob die Wissenschaft versagt hat, angesichts der Aufgaben die man ihr (einst) zusprach. Um beim Textbeispiel (Faust) zu bleiben, soll sie ja gerade gegen die Irrungen eines teuflischen Gegenspielers ankommen. Aber derart, dass sie bitte nicht zu rapide und umfänglich werde, um es nochmal zu sagen: sie solle ganz demütig und im Sinne Poppers bleiben. Hat sie das erreicht? Also die Leute abgeholt? Ihnen Wohlstand und die Erforderlichkeit eines Zuhauses gegeben? Zweifelhaft.
Eine These: Was sich beobachten lässt, ist: 
a) Leute, die stumpf ihren Sinn der Wissenschaft weiterentwickeln und die Konsequenzen für sich und andere nicht reflektieren 
b) Leute, die der Wissenschaft (stellvertretend für die großen Kausalverpflichtungen in der Gesellschaft) den Rücken kehren und in Mystic und Verschwörungstheorien ein Zuhause finden. 
c) die Leute, die sich an a und b bereichern. 
d) sonstige

1. Was muss passieren damit a) aufgeweckter wird und die Dringlichkeit der wissenschaftlichen Aufklärung im Gemeingeist vermitteln kann. Ich beobachte, die Wissenschaftssendungen oft derart, das sie einen gewissen Selbstzweck dienen, Wissen schmackhaft und zur eigenen, schnellen „Befriedigung“ rüber zu bringen. Serviert auf dem Teller. Sofort zum Essen. Hier fragt sich doch: Noch jemand da? Ah, ja und wenn schon... guten Appetit, ich fange schonmal an. Ja, sie wollen es leicht machen, aber der Mensch fragt sich bei leicht, schnell, wenn nicht sofort, nach dem eigenem Vorteil. 
2. Warum rennen so viele Leute in die Arme der Spiritualisten, Schamanen und Verschwörungsideen. Weil sie nicht wie in 1) abgeholt worden sind? Weil sie auf der Strecke blieben? Weil sie es satthaben (um beim Beispiel mit dem Essen zu bleiben), nichts abzubekommen, oder nur eitle Grüße vom Nachbarnarzissten, der Galileo zur Sahnetorte schaut, abzubekommen. Oder weil es ihnen nicht schmeckt, was wissenschaftlich da köchelt und sie sich nicht wiederfinden im steten Drang der Wissenschaft.

Um es nun abzukürzen (ich hatte eigentlich vor weiter auszuholen): Die Wissenschaft ist mit ihren Intellektuellen genauso gefragt, jene Gruppe der Leute, die mal wieder in tiefer Meditation versunken sind, oder ihren zwielichtigen Theorien nachjagen, einzufangen und abzuholen, als diese Leute es sind, Bereitschaft für den Diskurs zu lernen und die sture Gegenposition zur Diskussion freizugeben. Wahrlich schwer, wenn man gerade von logischen Großkalibern geschasst wurde oder nach langen Zweifeln in der Gesellschaft, eine Idee „für sich“ gefunden hat. Es braucht eine neue Idee, was Wissenschaft für die Gesellschaft ist. Dies Provokant. Humoristisch. Umgreifend. Mit Verschwörung und Mythen umgehend, ohne selbst im Sinne des Fortschreitens auf der Strecke zu bleiben.

 Klemm meinte dazu am 08.12.24 um 16:53:
Sascha, mir fallen an deinem Beitrag zwei Dinge ins Auge, auf denen du deine Argumentation aufbaust. 

1. Du lässt die Wissenschaft als Agens auftreten.
2. teilst du ihr mit 1. als Voraussetzung Aufgaben zu, z.B. die Menschen „abzuholen“.

Der Mensch hätte demnach mit der Wissenschaft ein eigenständiges Wesen geschaffen, das im Interesse der Menschheit handeln kann (Aufgabenerfüllung), diese Aufgabenerfüllung wird dann gleichzeitig zum Maßstab deiner Wissenschaftsbetrachtung: hat dieses Wesen namens Wissenschaft die erwartete Leistung erfolgreich erbracht bzw. ist sie dazu in der Lage?

Die Wissenschaft ist aber kein Agens, sie wurde nicht als eine Art abstrakter Frankenstein zur Erfüllung von Aufgaben erschaffen und ist daran gescheitert. Abgesehen davon, dass es die Wissenschaft ohnehin nicht gibt und wir, wenn wir diese Bezeichnung hier gebrauchen, schon sehr vereinfachend unterwegs sind, fand ich es von Anfang an schade, dass die Wissenschaft gegenüber der Vernunft in unserer Diskussion bevorzugt wurde, insbesondere da die Vernunft eng mit dem Kant‘schen Begriff der Mündigkeit verknüpft ist. Die Mündigkeit hattest du ja selbst in einem vorherigen Beitrag hervorgehoben. 

Nun ist der Wunsch „abgeholt“ werden zu wollen zwar verständlich, aber doch das gerade Gegenteil von Mündigkeit im Sinne von Kant. Wissenschaftliche Erkenntnis ist jedoch 1. eine Folge von menschlicher Mündigkeit (statt sich einer höheren Macht in Gestalt eines Gottes, dem Schicksal, einem Staat usw. zu fügen, werden allerhand Phänomene, denen der Mensch ausgesetzt wird, vereinfachend gesagt: erforscht, heißt: der Mensch ist tätig. Die Wissenschaft ist nicht einmal vom Menschen erschaffen für sich selbst verantwortlich (wie der Mensch von Gott  ;)), sie erfordert ständige Auseinandersetzung, also geistige Tätigkeit). 

Der momentane Verschwörungserzählunstrend ist nicht das Ergebnis von einer an ihrer Aufgabe gescheiterten Wissenschaft, sondern das Ergebnis des Scheiterns mancher Menschen am wissenschaftlichen, vernunftgeleiteten Erkenntnisstreben, ein unerfüllter Wunsch nach Unterwerfung. Passend dazu sind die Verschwörungserzählungen in ihrem Wesen autoritär, werden in einem autoritären Stil vorgetragen und ihre Anhänger jubeln autoritären Parteien und Führern zu. Die holen sie ab, insbesondere in ihrem Ressentiment. Simple Schuldzuschreibungen, z.B. die ständig wiederholte Leier, auf der gegen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse verteidigten Behauptung, Kriminalität korreliere mit Herkunft, wobei sie tatsächlich mit Armut korreliert, welche unter Verhältnissen, wie sie von den autoritären Parteien angepriesen werden, wachsen würde usw.

Besonders schade an dieser Entwicklung ist der offenbare Rückgang des Wunsches der Menschen, tätig, mündig zu sein und dadurch Wirksamkeit zu erfahren, die Möglichkeit des Menschen sein Leben und damit auch zu unterschiedlichen Graden das Leben mitzugestalten, zumindest etwas ändern zu können, mag es auch noch so gering sein. 

Diese Möglichkeit des Menschen, die zugleich sein Bedürfnis nach Sinn erfüllt, indem er ihn selbst stiftet, die Nutzung seiner intellektuellen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten sowohl im individuellen Sinne als auch im Sinne der Menschheit, scheint mir derzeit nicht im Trend zu liegen. Ein erfolgreiches Leben wird an Leistung, Macht, Geld bemessen. Ich erspare euch jetzt den Teil, in dem ich „das Sein bestimmt das Bewusstsein vs das Bewusstsein bestimmt das Sein“ ausführlich diskutiere und gebe nur meine Ansicht zum besten, dass sie sich gegenseitig bestimmen. 

Vor diesem Hintergrund wird der Leitspruch „wage dich deines Verstandes zu bedienen“ aus den Mündern der Verschwörungsgläubigen zu einer Farce sondergleichen. Interessanterweise predigen sie nicht Selbstdenken und praktizieren Unterwerfung, sie predigen Unterwerfung und nennen es Selbstdenken.

 S4SCH4 meinte dazu am 08.12.24 um 17:16:
Handeln gehört m.E. zur Wissenschaft. Als Verursacher von etwas, sollte man auch handeln (dürfen / sollen). Ob es (Menschen abholen) Voraussetzung ist, ist offen, aber es ist notwendig. Die Wissenschaft ist ein Ding wie zwei Buchstaben, auch diese setzen sich zusammen und sind handelnd, im Sinne von Akteuren die Arbeit im Geiste verrichten. ... Nachtrag: Nun, ja es gehören immer zwei dazu, das was sich zeigt und was erkannt werden will und das was erkennt. Also: Es bedarf eines Mittelweges. Kein reiner?! Akteur, aber auch kein "Nichts"! Unabhängig davon, zielte ich schon darauf ab die Leute in die Pflicht zu nehmen, die Wissenschaft verbreiten und betreiben. 

Die Vernunft ist für mich ein großes Thema. Die Mündigkeit nach Kant, gut und schön, aber wer will die Aufgabe übernehmen, diese Mündigkeit zu fördern. Jeder selber. Das geht nicht, da landet man immer wieder im selbst der Nichtigkeiten, jeder für einen anderen, ja, aber wer für wen, wer mit wen, wann, wie oft... wer koordiniert sowas und behält das "Ganze" im Blick? Da bin ich eng bei deiner Aussage, das dieses "Abholen" ein Gegenteil von "Kant´scher Mündigkeit" sei und zweifle zumindest daran; ich müsste nachlesen hins. der Frage, ob er wirklich meint, das man es, also diese Mündigkeit, aus sich selbst schöpfen solle; das würde mich wundern. Nachtrag: Kant spricht davon "Ohne Leitung" eines anderen (die Unmündigkeit abzulegen), aber ich möchte im Sinne deiner Aussage zu "Sein vs. Bewusstsein (und andersrum)" sprechen und sagen das zwischen "Leitung" und "Allein mit sich selbst" eine großer Brocken Arbeit wartet.

Um es kurz zu machen: Wissenschaft ist mir eine zum Usus gewordene geistige Tätigkeit nach Regeln, in der Regel eng mit "logischer" Vernunft verbunden. Ich sage logische Vernunft, weil, um bei Kant zu bleiben, er mir mit der Korrespondenztheorie, bilaterale Wege geht. Das ist gut!

Das die Wissenschaft, und hier sind wir bei großen Unterschied zur Vernunft, ständig Auseinandersetzung erfordert, ist wahr, das ist auch gut, nur leider rasselt sie  mit der Vernunft, die gerne stehen bleibt oft aneinander, aber ich kann hier falsch liegen, mir fehlt auch gerade noch ein Beispiel.

Ich mache erstmal Schluss mit dem Kommentar. Den zweiten Teil deines Kommentares lese ich später.

Antwort geändert am 08.12.2024 um 17:32 Uhr

Antwort geändert am 08.12.2024 um 19:08 Uhr

Antwort geändert am 08.12.2024 um 19:22 Uhr

 Klemm meinte dazu am 13.12.24 um 18:59:
Es gibt viele unterschiedliche Wissenschaften, niemand kann jedes einzelne wissenschaftliche Ergebnis, das diese Wissenschaften hervorbringen kennen und verstehen - das ist auch nicht notwendig. Entscheidend ist vielmehr ein Grundverständnis ihrer Art der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im weitesten Sinne und mit sich selbst.

Ich halte die Vernunft nicht für gerne stehenbleibend, auch sie befindet sich in stetiger Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wirklichkeit, neue Erfahrungen und/oder Informationen kommen hinzu, die integriert werden, inklusive Widersprüche, die sich daraus ergeben.

Aus sich selbst heraus schöpfen ist m.E. nicht dasselbe wie mit sich selbst allein. Was man aus sich schöpft, begibt sich in dem Moment, da man es herausgibt, in eine Dynamik und kommt davon berührt, wieder zurück usw.

 S4SCH4 meinte dazu am 13.12.24 um 20:10:
Aussagen wie "Komm zur Vernunft" und "Sei doch mal vernünftig" sind mir Beispiele für die Statik der Vernunft. Klar ist sie im Wechselspiel, das leugnet niemand, aber ich halte sie im Gegensatz zur Wissenschaft, zum wissenschaftlichen denken (wieder Popper: Falsifizierbarkeit) für bestandsorientiert. Vielleicht war "gerne stehenbleibend" nicht so treffend von mir formuliert. 

"Schöpfen" ist ein großes Wort; davon halte ich mich in der Regel fern. Ich weiß aber: nicht alles, was man aus sich herausgibt, kommt notwendig wieder. Und falls, dann immer wenn man es nicht erwartet und sich erst beantworten müsse, ob und wie man es noch brauche.

 Klemm meinte dazu am 13.12.24 um 21:34:
Aussagen wie "Komm zur Vernunft" und "Sei doch mal vernünftig"
haben mit Vernunft nicht mehr gemein als die Verwendung des Begriffs in einer banalisierten und autoritären Art und Weise.

Ich denke, dass Vernunft auf stabilen Grundfesten steht, bedeutet nicht, dass sie sich nicht nach allen Seiten recken könnte, um Erfahrungen und Informationen zu sammeln, anhand derer die Grundfeste geprüft werden. Im Gegenteil, damit die Grundfesten Bestand haben können, bedürfen sie der Auseinandersetzung und sie verlangen auch danach. Je wackliger die Grundfeste desto weniger Erschütterung kann ihnen zugemutet werden. Gerade diese verkrampfte Erhalten, kann die beschworenen Grundfeste ad absurdum führen.

Ich weiß aber: nicht alles, was man aus sich herausgibt, kommt notwendig wieder.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich meinte nicht, was man gibt, bekommt man zurück im Sinne von Gegenseitigkeit oder Vergeltung bzw. Geben und Nehmen.

Ich meine, das, was man aus sich heraus gibt, erfährt Veränderung sobald es draußen ist, sei es durch Rezeption oder Reaktion und dieses durch andere veränderte Eigene holt man danach wieder zurück in seine Gesamtheit, auf die es dann wirkt.

Was andere andere aus sich selbst heraus geben, liegt außerhalb des eigenen Wirkungsfeldes.

 S4SCH4 meinte dazu am 13.12.24 um 22:35:
Jene Aussagen sind Apell an die Vernunft. Die Vernunft, einmal reduziert auf eine zugrunde liegende Logik, ist oft streng und zwingend. Die Aussagen fallen darunter und bedienen diese Strenge und den Zwang. Sie nicht nicht in jedem Fall banal und autoritär, sondern können Teil einer mündig- machenden Erziehung sein.

Ja, wir haben uns, denke ich, schon verstanden. Ich gebe beispielsweise eine Idee zum Besten, in der Hoffnung sie "außen" gedeihen zu sehen. Diese Idee wird in Szene gesetzt, ich verliere die (initiale) innerliche Ambition im Spannungsfeld des Außen und Innen und schließlich verliert die Idee ein Stück Grund und Boden (in mir). So kann es sein (ich muss mich nicht unbedingt auf Platon berufen und wüsste auch nicht wie er die Entwicklung der Ideenwelt gesehen hat), dass das Ding irgendwann anders aussähe, wie das Ding in der inneren Idee . Beispiel Tisch. Der Tisch hat dann nach dem "veräußern", plötzlich ein exquisites Design, soweit so gut. Das exquisite Design wird seinerseits aber vom Stuhl vereinnahmt und ... siehe da: der Tisch ist fort. Sicherlich, Tisch und Stuhl sind allgegenwärtig, aber Konzertbesuche und Treffen mit besonderen Begebenheiten sind es nicht so sehr. Und diese unterliegen ebenso einer fragilen "Veräußerung". Was daran noch das "Eigene" (Zitat von dir) wäre, wäre zumindest fraglich. Ich möchte dir das Ideal loben, von der Theorie her und im Ansinnen rechtschaffenden Teilens von Innen mit Außen magst du durchaus Recht haben, und das hoffe ich sogar, ich möchte das nicht mit Unkenrufen schmälern. Dennoch gibt es da etwas, das durch den Handel in der Ideenwelt verloren gehen könnte; das war mein Gedankengang. Aber es ginge vielleicht auch noch einfacher - vom Beispiel her: medizinisch gesehen. Also z.B. Demenz oder gezielte Methoden zum Verarbeiten und vergessen von Sachverhalten.

 Klemm meinte dazu am 13.12.24 um 23:10:
ene Aussagen sind Apell an die Vernunft. Die Vernunft, einmal reduziert auf eine zugrunde liegende Logik, ist oft streng und zwingend. Die Aussagen fallen darunter und bedienen diese Strenge und den Zwang. Sie nicht nicht in jedem Fall banal und autoritär, sondern können Teil einer mündig- machenden Erziehung sein.

Sehe ich nicht so. Mündig-machend klingt nach Oxymoron. Zur Mündigkeit kann man nur ermuntert werden.

Das Eigene wird dazu, indem ich es als mein eigenes vereinnahme, es gibt ja auch nicht nur ein einziges Eigenes, sondern viele Eigene, die in unterschiedlich veränderter Form zurückkommen und miteinander korrespondieren. Das veränderte Einzelne wirkt aufs Gesamtgefüge, das Gesamtgefüge wirkt aufs Einzelne, sie integrieren sich. Ist dies nicht der Fall, spricht man von einer kognitiven Dissonanz.

 S4SCH4 meinte dazu am 13.12.24 um 23:23:
Na gut, Ermunterung (die aber auch gemacht wird) ist treffender in diesem Fall. 

Der letzte Absatz beschreibt ganz gut einen Gedanken, den ich letztens bei LotharAtzert anbringen wollte, ist mir aber nichts so prägnant gelungen.

 EkkehartMittelberg (05.12.24, 18:37)
Angesichts der Wirkung von Propaganda kann man sich fragen: Wo bleibt der Wissenschaft Stärke gegen Blend- und Zauberwerke?

 Klemm meinte dazu am 05.12.24 um 19:36:
Ja, Ekki. Ich würde es sagen, auf den feinen Unterschied zwischen Stärke und Macht kommt es an. Menschen wollen Macht, ohne stark zu sein, sie wollen sie sogar gerade, weil sie ihre Schwäche damit kompensieren wollen. In Zeiten, da sich viele Menschen schwach fühlen, sind sie besonders empfänglich für Blend- und Zauberwerk.

Es hat schon früher Hochkulturen gegeben, die untergegangen sind.
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