„Unheil“ kündigt sich an, wenn ich auf meinem Computer nach Jahren der Zufriedenheit Daten anders organisiere.
Ich schildere nicht, was ich die letzten Stunden getan habe. In einem richtigen Roman würde man das jetzt tun. Spannend könnte man darstellen, wie ich mich durch die Nacht kämpfte bis die ersten Möwen lachten.
Aber ich kämpfte nicht. Man stellt sich größere Veränderungen schwer vor, aber sie geschehen meist einfach so: lange tut man etwas auf die eine Weise, kann sich nicht vorstellen, Jahre vielleicht, es anders zu tun, quält sich vielleicht sogar, dann wacht man morgens auf und macht es anders.
Mein Buch wollte ich nie allein schreiben, sondern zusammen mit Freunden. Die wollte nicht.
Aber, wie sagte schon Alexander von Hummelsbach ... Erinnern Sie sich?
Die Sache ist wirklich komplizierter ... Als ich mit dem Trinken aufgehört habe, habe ich es allein getan. Ich habe nicht gewartet, bis ein Freund auch mit dem Trinken aufhören wollte.
Tatsächlich wollte ich mein Buch gar nicht mit anderen schreiben, sondern andere sollten mich unterstützen, weil es mir zu schwer war ... weil ich wollte, daß sie etwas tun, was sie gar nicht wollen, ich aber mir wünsche?
So verkehrt ist die Vorstellung nicht, daß man nur glücklich sein kann, wenn es der Nachbar auch ist. Wobei diese „Nachbarn” einige Hundert Kilometer entfernt sind.
Wenn die Erlebnisse anderer nicht in mein Buch einfließen können, weil sie nicht mit mir geteilt werden, kann ich sie nur aus meiner Sicht erzählen. Oder ich versuche mir vorzustellen, wie und warum sie es getan haben. Mir wäre es aber lieber, wenn ich es wüßte. Man will mir es aber nicht erzählen.
Man will mir nicht erzählen, warum man zur Stasi gegangen ist. Man will mir nicht erzählen, warum ...
Dagmar sagte: Jeden Tag mache ich 100 Mark Trinkgeld. Dagmar hat zwei Tage 12 Stunden gearbeitet, dann zwei Tage frei. Also rund 1.500 Mark plus ihren Lohn von (wenn ich mich recht erinnere) etwas über 400 Mark im Monat. Meine über 1.000 Mark flossen in die Haushaltskasse. Miete hat 30 oder 40 Mark gekostet. Strom ... keine Ahnung, mehr war das bestimmt nicht. Kleidung für Dagmar und Julia sind fast ausschließlich aus dem Westen gekommen. Seife auch.
Trotzdem war nicht selten der Kühlschrank leer, wenn Dagmar auf Arbeit war und ich nach der Arbeit Julia aus der Kinderkrippe geholt hatte und Abendbrot machen wollte oder am Wochenende Mittag. Manchmal hatte sie Geld auf den Kühlschrank gelegt. Manchmal. Nicht immer. Dann hab ich mir Geld von Gundel borgen müssen. Die hat schräg eine Treppe höher gewohnt und ist nach uns eingezogen und hatte auch eine kleine Tochter. Nora ist wohl ein Jahr jünger als Julia.
Mit zehn oder zwanzig Mark sind Julia und ich um die Ecke in den Lebensmittelladen, in die Fleischerei (100 g Jagdwurst für 69 Pfennige), in den Bäcker (ein Brötchen 5, eine Semmel 10 Pfennige). Na ja, gar nichts mehr zu essen im Haushalt – so weit ich es vermutlich nicht gekommen. Es ist über dreißig Jahre her. Ich kann mich nicht an alles erinnern. Aber fast immer, wenn ich jetzt koche und etwas Neues ausprobiere, denke ich an Julia. Damals haben wir zusammen gekocht, Julia war der Chef. Auch wenn sie noch nicht laufen konnte und nur in Babysprache sagte, was sie essen will.
Man muß nicht sprechen können, um zu sagen, was man essen will. Die kleine schwarze Katze teilte mir deutlich mit, was ihr schmeckt und was nicht. Das ändert sich. Wenn sie viel Hunger hat, ist sie weniger wählerisch.
Gestern nacht, ich hab einige Abfälle runter gebracht, stand sie plötzlich vor mir, zerzaustes Fell. Ich sagte: du siehst aber aus ... Sie sagte ... ich verstehe die Katzensprache nicht, aber es hat sich angehört wie: ich hab so lange nichts mehr zu essen bekommen. Am Wochenende fährt die Familie, bei der sie wochentags zu essen bekommt, meist zur Hütte. Donnerstag abend ist die Katze noch mäklig, nicht selten nehm ich ihr Fleisch wieder mit nach oben. In der Nacht von Samstag zu Sonntag kurz vor Sonnenaufgang (so wie vorgestern) hat sie kaum Zeit, das Fleisch zwischen die Zähne zu nehmen, um in ihr Freßversteck zu verschwinden.
Mit einem großen Stück (ich esse das nicht auf einmal) ist sie los. Ein halbes hab ich ihr zum Versteck gebracht, und einige Zeit später hab ich noch ein halbes Stück aus dem Fenster geworfen. Da saß sie aber schon wieder mit glattem Fell. Sie war auch nicht mehr ängstlich.
Julia hat keine Angst gehabt. Auch wenn der Kühlschrank leer war, es gab immer etwas zu essen. Wie kann der Kühlschrank überhaupt leer sein, kein Geld auf dem Kühlschrank (zusammen mit einem lieben Zettel von Dagmar) liegen?
Die Antwort ist einfach: Dagmar hat nicht jede Schicht 100 Mark Trinkgeld bekommen. Das war bestimmt nur ihre beste Einnahme.
Außerdem hat sie nie so viel Trinkgeld bekommen, sondern das meiste zusätzliche Geld hat sie ertrogen: ein Gast hatte schon einige teure Weinbrand getrunken, da hat ihm Dagmar einen billigen gebracht, aber weiterhin den teuren berechnet.
Da hat sich der Gast beschwert. Das gibts doch nicht, hat sich Dagmar aufgeregt, wie kann man so besoffen sein und die Unterschied noch schmecken!
Dagmar hat nicht nur betrogen, sondern auch gelogen. Anders läßt es sich nicht erklären, daß ...
Oder warum geht jemand zur Stasi? Vielleicht auch ganz einfach: er will endlich Jemand sein, nicht mehr der kleine Arsch, in den sein Vater immer tritt.
Nie werde ich vergessen: da parkt er mit dem zivilen Dienst-Lada um die Ecke vom Warenhaus im Halteverbot, ein Polizist freut sich, tritt mit dem Jetzt-bist-du-dran-Gesicht an die Fahrertür und zeigt, Schreibe runterdrehen. Er bedeutet mit einem gehobenen Finger, Moment, holt aus dem Handschuhfach seinen Dienstausweis und drückt ihn gegen die Scheibe. Da hat der Bulle einen Zappn ausgefahren und ist abgetreten.
Ich habe in der DDR Angst vor der Polizei gehabt. Auch noch, nachdem ich schon einige Jahre in Norwegen gelebt hat, hatte ich Angst vor der deutschen Polizei, obwohl die norwegische nett ist, so lange man nicht mit Drogen handelt oder so. Fährst du nicht zu schnell? fragte ich mich trotzdem. Bist du angeschnallt? ... Selbst beim Schreiben sehe ich diese arroganten (deutschen Bullen-)Gesichter noch vor mir. Da hat es schon gereicht, wenn beim Fahrrad mal das Rücklicht einen Wackelkontakt hatte ...
Er hat einfach seinen Dienstausweis gezückt.
Mit einem anderen Er hab ich einmal ein Boot transportiert. Das hat auf einen dreiachsigen NVA-Lkw gepaßt. Es sollte von der Insel Hermannswerder nach Golm gebracht werden. Wo heute am Großen Zernsee Gut Schloß Golm ist, war damals ein Wochenendgrundstück der Stasi.
In Hermannswerder fragte ich: Dürfen wir denn hier mit dem Lkw rein? Du sagst gar nichts, sagte er, der sich nie als Angehöriger der Stasi zu erkennen gegeben hat, außer: Sprechen Sie bitte mit meinem Vorgesetzten.
Es gab niemanden in der DDR, der der Stasi etwas abschlagen wollte ...
Selbstverständlich außer Wolf Biermann. Er bestreitet zwar, in der KPD gewesen zu sein, aber seine Mutter war es, und er hatte den Auftrag, in die DDR zu gehen, während seine Mutter auf Geheiß der Partei in Hamburg blieben mußte.
Mich würde nicht wundern, wenn Wolf Biermann für einen Geheimdienst gearbeitet hat. Ein überzeugter Kommunist war, wie er behauptet, und ist er jedenfalls nicht.
Knallbruder. Mehr nicht.
Mich hat Wolf Biermann mit seinem Singsang nie erreicht. Auch wenn er mir immer unsympathisch war, fand ich seine Ausbürgerung nicht in Ordnung. Wegen mir hätte er in der DDR bleiben können. Was soll das: nur weil jemand eine andere Meinung vertritt, schmeißt man ihn raus ...
Das größte Problem in der DDR waren die Betonköpfe an der Spitze. Mit solchen Blödmännern ruiniert man jedes System. In der mittleren Führungsebene werde sie gewünscht, damit ausgeführt wird, was man sich darüber ausdenkt. Aber in der DDR gab es über den Betonköpfen niemanden.
Im KZ Kapo, in der DDR Generalsekretär. Das kann nicht gutgehen.
Die wahren Chefs sieht man nicht. Oder sehr selten. Vielleicht ist das aber auch Mythos. Uns kann man ja viel erzählen über Zeiten, in denen wir nicht gelebt haben.
Spiegel online titelt: „radix-Blätter“ der DDR-Opposition. Und die Stasi bekam nichts mit.
Da werden über Jahre Blätter (Hefte bis 130 Seiten, Auflage 1.000 bis 3.000 Stück) in der DDR gedruckt, auf denen die Autoren ihre Namen und Adressen angeben, aber die Stasi hat nichts mitbekommen.
Ich habe davon nichts mitbekommen. Überhaupt ist jeder Widerstand gegen die DDR an mir vorbeigegangen. Nicht einmal hab ich irgendwas gelesen, womit die Widerständler mich zu was auch immer aufrufen wollten. Im Frühjahr 89 wurde über Manipulation bei der Wahl gesprochen: Ich habe eine ungültige Stimme abgegeben, hieß es oft, mein Nachbar auch, mein Kollege ... aber die Bonzen haben wieder fast 100 Prozent.
Davon abgesehen: heute kann man ebensowenig wirklich wählen wie in der DDR. Die Jungs machen es nur schlauer. Das allein macht den Unterschied.
Ich sehe keinen wirklichen Unterschied zwischen DDR und BRD: immer bestimmen andere, und man hat bei wichtigen Entscheidungen keinen Einfluß.
Ich wünsche mir keine Revolution: denn dann bleibt alles, wie es war. So ist es schon viele, viele, viele Male gewesen.
Wenn die Oben sich nicht ändern, wird immer alles so bleiben.
Ist wie mit Dagmar und ihrem Schoßhündchen Andreas.
Aber das bedeutet doch, daß ich wieder warten muß, oder?
Nachdem ich bei meinem Notebook Ubuntu aktualisiert habe, konnte ich den Computer nicht mehr nutzen. Es war ein Körper ohne Seele geworden.
Gestern hab ich ihm wieder eine eingehaucht. Wenn ich richtig verstehe, war seine Boot-Datei beschädigt oder der Bereich der Festplatte, auf dem sie gespeichert war. Jedenfalls konnte ich den Rechner nicht mehr starten sowie kein Betriebssystem installieren. Bis gestern.
Ich hab nicht noch einmal versucht, was vormals erfolgreich war, sondern etwas Neues ausprobiert. In mehreren Punkten.
Stück für Stück wurde es besser: erst konnte ich ...
Wie kann man Dagmar besser machen? Gar nicht, wenn sie es nicht will. Und wenn sie untergeht, reißt sie den, der sich an sie gebunden hat, mit.
Selbstverständlich habe ich Dagmar geliebt!
Die Stasi konnte die Macher nicht stoppen, zwischentitelt Spiegel online. Vielleicht wollte sie es gar nicht. Oder es gab eine Gruppe in der Stasi, die es nicht wollte.
Die Stasisten, die ich kenne, wollten keine DDR, bei der Wahlen gefälscht werden müssen. Die wollten auch keine DDR, die ihre Bürger einsperrt.
Man muß sich fragen: Warum wurde Deutschland geteilt?
Ohne die Teilung Deutschlands hätte es keine Stasi gegeben, keinen deutschen Staat, der seine Bürger einsperrt, Wahlen (plump) fälscht.
Meine Macken hab ich allerdings nicht wegen der deutschen Teilung, und wenn ich ehrlich bin: die Macken meines letzten Taxi-Chefs möchte ich schon gar nicht haben, und der ist gebürtiger Franke: so alt wie ich und lebt noch bei seiner Mutter, außerdem haßt er Ausländer (als Deutscher in Norwegen), wobei es keine Rolle spielt, ob die Kollegen aus Polen, Afrika, Pakistan oder ... kommen, sind sie doch alle unterhalb der deutschen, dabei schreiben Bild & Spiegel, im Osten Deutschlands gibt die meisten Ausländerhasser.
Davon abgesehen: nachdem ich nicht nur einen Afrikaner über einen anderen Afrikaner habe herziehen hören (in Deutschland dürfte ich so etwas nicht ungestraft sagen), ist mein letzter Taxi-Chef ein Anfänger.
Ja, ich habe Dagmar geliebt! – Nachdem sie mich nicht mehr wollte, habe ich über zehn Jahre gebraucht, um ohne sie im Leben zurechtzukommen. Wollte ich mir zum Beispiel eine neue Hose kaufen, habe ich mich gefragt, welche Dagmar wählen würde. Inzwischen habe ich (auch) das Problem gelöst: ich trage immer Arbeitskleidung ... sind doch chic die schwarzen Taxi-Hosen, nur etwas zu groß, weil ich über 15 Kilo abgespeckt habe. Aber dafür kann die Hose ja nichts. Dagmar übrigens auch nicht. Ich hab es allein geschafft, und nur für mich. Für Dagmar hätte ich es nicht schaffen können, die möchte eher etwas dickere Herren und hat immer zwei Schnitzel für mich gebrutzelt.
Wenn Dagmar mich noch in ihrer intimen Nähe wünschte, hätte ich kein so ein schönes Leben: ich wäre immer noch Sklave meiner nicht wahrgenommenen Gefühle.
Das hätte mich vermutlich nicht gestört, weil ich Dagmar immer noch geliebt hätte ... Was gibt es Schöneres, als dem zu dienen, den man liebt ...
Frei zu sein.
Wie schön auch die (Liebes-)Droge ist, ohne lebt es sich freipresser.
Bücherverbrennung gab es für mich nur im Dritten Reich. Daß Bücher davor und danach verbrannt wurden, habe ich erst heute (25. Juni 2019) gelesen. Durch Zufall. Weil ich Informationen zur FED, der US-amerikanischen Notenbank, gesucht habe, las ich (in Wikipedia): „1956 wurde die gesamte deutschsprachige Auflage von Eustace Mullins Buch Secrets of the Federal Reserve vom Verfassungsschutz beschlagnahmt und verbrannt.“
Damit es deutlich wird: Nicht einmal 25 Jahre nach der Bücherverbrennung im Dritten Reich verbrannte ein deutscher Staat wieder Bücher.
Na ja, ein Staat kann keine Bücher verbrennen. Es sind Menschen, die das tun. Aber was können Menschen tun, wenn der Staat aufruft?
Nicht nur im Westen Deutschlands wurden nach der Bücherverbrennung Bücher verbrannt, sondern auch im Osten.
Wieso denke ich überhaupt nach der Bücherverbrennung und sehe die nationalsozialistische vor mir?
Wieso mußte ich 60 Jahre alt werden, bis ich erfuhr, daß Bücher, seit es sie gibt, öfter durch Offizielle verbrannt wurden, als ich Jahre alt bin?
Ein Wikipedia-Eintrag tiefer steht: „Im Juni 1956 wurden Werke des Psychoanalytikers Wilhelm Reich im Zusammenhang mit seinen Theorien zur Orgon-Energie nach einer Anklage der amerikanischen U.S. Food and Drug Administration auf richterliche Anordnung auf seinem Anwesen in Rangeley (Maine) verbrannt.“
Zwei Einträge höher steht: „1953 erzwang der amerikanische Senator Joseph McCarthy im Zuge seiner «Kommunistenhatz» in den USA die Beschlagnahme und teilweise Verbrennung inkriminierter Literatur aus den Bibliotheken der United States Information Agency.“
Man hätte 1848, spätestens 1849 das Kommunistische Manifest verbrennen sollen, dann hätte man Deutschland nicht in zwei Systeme teilen können, ich wäre nicht mit Berufsverbot belegt worden ... Moment, im demokratischen Teil Deutschland gab es auch Berufsverbote: Grundlage war der Radikalenerlaß.
Das Manifest habe ich bereits als Jugendlicher gelesen: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.“
Wieso denke ich bei das Manifest nur an das kommunistische?
Hier drängt es mich das erste Mal (27. Juni 2019), über mich in der dritten Person zu schreiben. Nicht: Mein Manifest bekam ich ... Sondern: Er erhielt sein erstes Manifest kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag zur Aushändigung der Kandidatenkarte der SED.
Ich verstehe, warum Günter Grass erst im hohen Alter (79 von 88) seine Zeit bei der SS öffentlich gemacht hat.
Als er eingezogen wurde, war er siebzehn Jahre alt. Ich wäre gern eher Kandidat der SED geworden.
Ich wäre auch gern eher von zu Hause ausgezogen ... Mit dreizehn hatte ich so die Schnauze voll ... Meine Mutter sagte, ich soll nicht ausreißen, sonst wird man mich in den Jugendwerkhof stecken. Da bin ich mit sechzehn Offiziersanwärter der NVA geworden: „URKUNDE. Jugendfreund Andreas Thieme wird als Berufsoffiziersbewerber in das FDJ-Bewerbekollektiv aufgenommen. Leiter des Wehrkreiskommandos der Nationalen Volksarmee. Heidl, Oberstleutnant.“
Acht Jahre später war der „Krieg“ für mich vorbei. Leider finde ich die erste Fassung der Abschlußbeurteilung durch die NAV, in der man mich als Klassenfeind einstufte, nicht mehr. Der Kaderchef war außer sich wegen der ... Weltfremdheit (?) ... und sagte: Mit dieser Beurteilung werden wir Sie nicht entlassen. Als ich zum Soldaten degradiert worden war und in Offiziersuniform mit Soldaten-Schulterstücken in der Kaserne unterwegs war, hat er mich das zweite Mal einbestellt: Sie gehen bis zu Ihrer Entlassung nicht mehr in Uniform.
War ja witzig, aber für einen Außenstehenden irritierend: Man hat sich den Spaß gemacht, mich weiterhin militärisch zu grüßen, obwohl ich im Dienstgrad und Dienstrang untergeben gewesen bin.
Noch witziger war es, als ich fünf Jahre später als Soldat der Reserve in der Einheit dienen mußte, in der ich zuvor Offizier war. Da gab es Spaßvögel, die haben weiterhin „Morgen, Leutnant“ gerufen.
Man hatte mich ganz normal als Panzerfahrer in einer Kompanie einquartiert. Allerdings bevor ich einziehen konnte, wurde ich durch den UvD zum Bataillonskommandeur befohlen. Der hatte als Absolvent und junger Leutnant im Panzerbataillon angefangen, als ich meiner Entlassung bereits entspannt entgegensehen konnte. (Ich war zwar noch Leutnant, aber hatte schon ein EK-Maßband in der Rolle. Die echten EKs haben gekotzt, wenn ich mein Band ausgerollt habe: ich sollte Ende Dezember entlassen werden, die mußten noch bis zum Frühjahr warten. Dann wurde ich Anfang Dezember entlassen, und ich hatte die ganze Zeit falsch abgeschnitten ... Blamabel. – Ich konnte wochenlang nicht in den Spiegel gucken.)
Genosse Thieme, begann er und stellte klar, wie jetzt die Verhältnisse sind. Ich akzeptierte und blieb während seiner Ansprache vorschriftsmäßig stehen. Da habe ich mich bei meinem ersten Reservistendienst in Eggesin fröhlicher verhalten, auch bei höheren Dienstgraden: nur der alte zahnlose Stabsfeldwebel und Kommandant des Standortarrestes hat meinen Respekt bekommen, dem hab ich demonstriert, was ich alles über das Verhalten eines Untergebenen gegenüber einem Vorgesetzten gelernt habe. Nach zwei Tagen Arrest durfte ich die Schneeräumabteilung kommandieren und anleiten zum Holzmachen für des Stabsfeldwebels heimliche Reserve.
Genosse Thieme, begann der Hauptmann, im Regimentsstab hat man die Zusammenhänge übersehen und Sie in die Kompanie abkommandiert. Das mache ich rückgängig: Sie werden Fahrer vom Bataillonsschlepper und ziehen in eine Unteroffziersstube im Bataillonsstab. Mein Kommandant-Richtschütze wohnt Junggesellenheim, Sie haben die Stube für sich.
Genosse Thieme, setzte der Hauptmann fort, wenn Sie sich gut in den Dienstablauf einfügen, werde ich spätestens nächste Woche für Sie jeden Tag einen Ausgangsschein von Dienstende bis zum nächsten Tag Dienstbeginn unterschreiben.
Danke, Genosse Hauptmann, schlug ich die Hacken zusammen. Das war Reflex. So hat man mich also dazumals ausgebildet.
Der damalige Bataillonskommandeur war auch ein ganz harter: hochgedient vom Soldaten zum Major, vom Panzerregiment Burg abkommandiert nach Stahnsdorf, um den Saustall auszumisten: der alte Bataillonskommandeur war eigentlich Politischer und ist nicht klargekommen, hat im Dienst zu viel getrunken, und dann gern man die Parade vorm Block abgenommen, während er auf dem Bordstein gesessen hat, weil er nicht mehr unauffällig stehen konnte. Ansonsten war er aber ein netter Kerl, aber zu weich für die Kette.
Major Damm war eher zu hart: wie oft er mir fünf Tage Kasernen-Arrest ausgesprochen hat, weiß ich nicht mehr. Meist, wenn ich endlich mal am Wochenende keinen Dienst hatte. Ansonsten wäre es nicht so schlimm gewesen, denn ich hatte in der Kaserne gewohnt, nur einen Block entfernt vom Panzerbataillon. Ein Stockwerk höher war die Instandsetzungs-Kompanie: wenn die nachts Schildkröte gespielt haben, hab ich im Bett gestanden, weil ich dachte, ich bin auf dem Schießplatz eingeschlafen.
Später hat der Major die fünf Tage Kasernenarrest nicht mehr ausgesprochen, sondern nur eine Hand gehoben und die Finger gespreizt.
Der Wichser ... der hat mich in seinem Dienstzimmer, in dem der Hauptmann mir eben einen Freundschaftsantrag gemacht hat, so strammstehen lassen, daß mir die Knie gezittert haben und ich dachte, ich scheiß mir gleich in die Hose.
Oder bei Dienstbesprechungen: Minutenlang beschreibt er die ungeheuerliche Verfehlung eines Berufs-Soldaten, ohne zu konkret zu werden, so daß kein Unteroffizier, Fähnrich oder Offizier weiß, ob er gemeint ist oder sein Nachbar. Alle fürchten sich gleichermaßen. Dann die Erlösung: Dienstgrad Name.
Niemand steht auf. Es sind schon einige Namen gefallen, aber immer als Genosse Name. Der Major hat eingeführt: Wenn er Genosse Name sagt, muß man bei der Dienstbesprechung nicht aufspringen, weil der Genosse Major ja nur über einen spricht, nicht jemand anspricht. Dazu sagt er Dienstgrad Name, und dann hat der betreffen sich zu erheben ... aufzuspringen.
Dienstgrad Name. Niemand steht auf ...
Möchten Sie, spricht der Major in relativ ruhiger Stimmlage weiter, daß ich zur Dienstbesprechung meine Pistole trage und dann entsichert auf Sie richte ... Alle wissen inzwischen, wer gemeint ist, aber der betreffende ... der Major brüllt: Dienstgrad Name! Stehen Sie endlich auf, Sie Würstchen, wenn ich mit Ihren spreche!
Das arme Würstchen war aufgestanden und wurde richtig rund gemacht. Auch ich hatte einige Male die Ehre.
Geholfen hat es mir jedoch nicht. In der Abschlußbeurteilung heißt es, ich hätte die falschen Schlußfolgerungen gezogen.
Dem muß ich widersprechen ... Der Chef der Aufklärungs-Kompanie war ein altgedienter Hauptmann, gegerbt von Pflichterfüllung, Zigaretten und Alkohol ... Eben hab ich im Park noch mit ihm geplaudert, einige Tage später: im Feldlager morgens beim Waschen mit kaltem Wasser hats ihn umgehauen – tot. So werde ich auch enden, wenn ich meine 25jährige Dienstverpflichtung erfülle, dachte ich.
Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps. Nicht im Panzerbataillon. Major Damm hat regenmäßig zum Trinken nach Dienst befohlen. Dem konnte man sich nur entziehen, wenn man Offizier vom Dienst war oder abkommandiert. Ich möchte gern nach Hause zu meiner Familie, war kein Grund, dem Umtrunk ... nein, es war jedesmal ein Besäufnis ... fernzubleiben.
Die Technik-Umstellung jedes Jahr im Frühjahr und Herbst ... Die trinkfesten Berufsunteroffiziere der Instandsetzungs-Division, die die Panzer überprüften, habe ich dermaßen abgefüllt, daß sie nicht mehr auf die Fahrzeuge aufsteigen konnten, sondern auf den Panzerumlauf gelehnt aus der Liste vorlasen: Öl-Einfüllschraube rot und verdrahtet? – Jawohl, meldete der Fahrer.
Trotz des vielen Schmierstoffes mußte das Panzer-Bataillon in die zweite Runde: Nachkontrolle.