Weihnachten auf dem Friedhof

Bericht zum Thema Absurdes

von  Gabyi

Meine Mutter hatte die Angewohnheit, uns Kinder am Heiligen Abend auf den Friedhof zu schleppen. Wir waren drei Geschwister mit ganz unterschiedlichen Temperamenten. Mein großer Bruder war ein verträumter Hans-Guck-in-die-Luft, während mein kleiner Bruder zu Tobsuchtsanfällen neigte und seinem Willen mit Wutausbrüchen Ausdruck verlieh.
Ich als einziges Mädchen in der Mitte dazwischen war das sogenannte Sandwich-Kind. Mädchen sind nicht so klug und stark wie Jungen, können keine Mathematik und dürfen nicht mit Werkzeug, Pistolen und Autos spielen. Eine eigene Meinung ist nicht erwünscht. So wurde es jedenfalls bei uns in der Familie kommuniziert.
Das Familiengrab unserer Ahnen war der ganze Stolz meiner Mutter. Sie hegte und pflegte es, wenn immer ihre Zeit es zuließ. Denn sie kümmerte sich auch noch um unseren Großvater und ihre Schwester, die an Kinderlähmung litt.  Und natürlich nebenbei auch um uns.
Der Friedhof bot ihr eine gewisse Erholung vom Alltag. Während andere Familien am Heiligen Abend in die Kirche gingen, feierte unsere Mutter also mit uns Kindern am Grab ihrer Großeltern, Eltern und Geschwister. Eine weiß lackierte Holzbank lud zum Verweilen ein und eine kleine Tanne wurde mit Christbaumschmuck behängt. "Oma guckt uns aus dem Himmel zu", pflegte sie zu sagen und reichte uns Weihnachtsgebäck. Mehrere Kerzen hatte sie angezündet und auf den Gräbern aufgestellt. Wir waren ganz allein auf dem Kirchhof und das Tannengrün mit den Mooskissen auf den Grabstellen knisterte leise vom herabtropfenden Wachs. Wie viele Bienen wohl dafür arbeiten mussten, fragte ich mich.
Ein kleiner Teil des Grabes war reserviert für die früh gestorbenen Nachkommen meiner Großeltern, die Geschwister meiner Mutter. Drei kleine Kinder, von denen eines der Zwillingsbruder von Onkel Ottmar war. Er war der einzige Junge, der überlebt hatte und später mit einer Ganzkörpertätowierung auf sich aufmerksam machte. Eine weitere Tochter starb im Erwachsenenalter, sie hatte sich das Leben genommen. Todesursache: Pseudo-Lungenentzündung. Ihr wurde ein weißes Marmorkreuz zugeteilt in der Ecke des Anwesens unter einer jungen Birke. 
Unsere weihnachtlichen Friedhofsgänge waren Ausdruck eines fundemental protestantischen Totenkultes meiner Mutter, den sie mit Inbrunst zelebrierte. In die Kirche gingen wir eher selten, sprich nur ein einziges Mal.
Außer natürlich zur Taufe, Konfirmation und logischerweise zur elterlichen Trauung - noch in den Gonaden weilend, seinerzeit. Und noch in zwei Teilen - versteht sich.


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