Hunde im Garten
Text
von atala
Ereignisse, die von den Verwandten als prophetische Zeichen gedeutet wurden:
Das Klingeln an der Haustür, hinter der sich niemand befand
Der Fernsehen, der sich aus dem Nichts einschaltete und ein Musikvideo abspielte
Die Pflanze, die sich zersetzte und dabei diesen Geruch verströmte
Das Haus ist voller Leute, die meine Grossmutter sehen wollen. Im unteren Stock sitzen Verwandte um den Tisch mit der weisser Tischdecke und essen, eine Tante steht in der Küche und entsalzt den Kabeljau für später. Die Hunde wurden in den Garten gesperrt. Unreinheiten seien jetzt besonders schlecht für meine Grossmutter, sagt die Tante und wischt sich eine Träne vom Zwiebelschneiden weg. Nur die Katze könne niemand daran hindern, ins Haus zu kommen. Wie ein Schatten folge sie meiner Grossmutter, jetzt liege sie bestimmt eingerollt zu ihren Füssen im Bett. Keinen Bissen habe meine abuelita zu sich genommen, man hat ihren Mund mit Wasser benetzt, damit sie wenigstens ein wenig Flüssigkeit zu sich nehme.
Oben sitzen die Cousins auf der Terrasse, sie haben sich mit Snacks, Bier, Zitrone und Salz eingedeckt. Meine Cousine erzählt aufgeregt, dass sie, bevor ich kam, die Türklinge gehört hätte. Sie habe sich über die Brüstung gebeugt, aber niemand an der Tür gesehen und auch als sie herunterging und sie öffnete, stand niemand da. «Du hättest sie nicht öffnen sollen», schreit eine andere Cousine. «Das war ein Wesen, das sie holen kommt». Ihr Ehemann nimmt einen Schluck Bier und verdreht hinter ihrem Rücken die Augen.
Vor dem Schlafzimmer meiner Grossmutter sitzen Besuchende auf weissen Plastikstühlen und warten, niemand sagt etwas. Die Zimmertür ist offen, drinnen stehen Tanten und beten laut, ihre Augen sind geschlossen.
Hinter ihnen in der Ecke schaltet sich aus dem Nichts der Fernseher an. Musik erklingt daraus, ein Sänger singt im Nebel chica de humo, se vapora, se iluma.
Meine Tanten hören erschreckt mit dem Gebetsgemurmel auf und fragen sich gegenseitig, wieso der Fernseher auf einmal läuft.
Für die Osterprozession wurde die ganze Innenstadt gesperrt. Menschenmassen schieben sich durch die Strasse. Wir sehen die Figuren aus Bibelszenen schon von weitem auf uns zu bewegen, der Trauermarsch kommt immer näher. Dann schreitet die unendliche Kolonne an Männern an uns vorbei. Sie tragen die riesige schiffartige Holzkonstruktion im Takt der Blas- und Schlagmusik. Um für ihre Sünden zu bezahlen, flüstert mir meine Tante ins Ohr. Eine durchsichtige Engelsfigur balanciert an der Ecke der Konstruktion. Männer heben mit langen gabelförmigen Stäben die Stromleitungen, damit die eisähnliche Figur ungehindert hindurchschweben kann. Vom Weihrauch ist mir schwindelig. Neben mir bricht eine schwarz gekleidete Frau, sie hat auch ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden, in Tränen aus, fällt schluchzend auf die Knie. Ich möchte ihr zu Hilfe eilen, aber meine Tante sagt, es ist Semana Santa, das ist normal, und hält mich zurück. Die Frau in schwarz erhebt sich nach ein paar Momenten scheinbar unberührt. Später sehe ich sie mit anderen Leute lachend an einem Stand, der Süssigkeiten verkauft.
Meine Mutter sagt mir am Telefon, dass sie nicht nach Guatemala reisen möchte. Ich bin mir sicher, sagt sie, wenn ich komme, wird sie sterben. Meine Stimme ist erstaunlich hart, als ich sage, das wird sie auch ohne dich.
Gut, sagt sie schliesslich, ich komme, damit sie wieder gesund werden kann.
Im Haus in dem Grossmutter stirbt mit den Hunden im Garten spielen.
Mein zukünftiger Vater betrat damals als 30-jähriger das Haus meiner Grosseltern und verliebte sich auf der Stelle in die Frau, die meine Mutter werden soll, so lautet die Erzählung.
Ich träume, dass in der Nacht ein weinendes Mädchen in mein Zimmer kommt. Das Mädchen ist meine Mutter. Ich nehme es in den Arm, fahre ihm über das dichte, schwarze Haar.
Unter den Tanten ist Streit ausgebrochen. Jemand hat den Pfarrer gerufen, damit er Grossmutter segnet. Aber sie hat sich erschrocken und hat während den Gebeten des Pfarrers eine Cousine gefragt, ob sie schon verstorben sei. Jetzt schieben sich alle die Schuld zu. Sie werde abuelita auf dem Gewissen haben, sie habe sie zu Tode erschreckt, sagt die Cousine und zeigt mit dem Finger auf eine Verwandte.
Mittagessen mit dem Onkel, der alles vergisst. Sein Jugendfreund, der inzwischen in Europa wohnt, ist zu Besuch. Sie seien aus einer anderen Zeitalter, wobei epoca übersetzt zugleich Jahreszeit und Zeitalter bedeutet. Der Besucher sagt, er verstehe sein eigene Land besser, seit er nicht mehr hier lebe. Die ausländischen Firmen führten sich in Guatemala auf, wie es in ihren eigenen Ländern nicht erlaubt sei.
Mein Onkel fragt mich, wie seine Söhne heissen.
Das Herz, das bricht, als Mutter sich bei ihrer Ankunft weigert, in das Zimmer meiner abuelita zu gehen. Dieser Geruch der weissgelben Pflanze, die sich zersetzt. Das schwere Atmen unter der Sauerstoffmaske. Dann geht meine Mutter doch in den Raum, umklammert ihre Mutter und lässt sie lange nicht mehr los.
Ich küsse viele, Wangen, Stirne, Hände, meine Grossmutter, deren Körper fast nicht wieder zu erkennen ist, meine Mutter, die sich im Schlaf nicht regt, mein Grossvater ohne sein Gebiss, zusammengekauert wie ein Kind.
Als ich mit meiner Mutter und ihrer Schwester am Tisch sitze, erzählt mir meine Tante, dass alle Freunde aus Jugendtagen, die zum Widerstand gehörten, umgebracht worden seien. Sie selbst sei dabei gewesen an der Besetzung der Spanischen Botschaft, um gegen ein durch die Armee verübtes Massaker zu demonstrieren. Da wurde in die Menge geschossen wurde und Demonstrierende wurden von Soldaten in die brennende Botschaft gesperrt. „Dahin hast mich damals mitgenommen“, wirft meine Mutter ein. „Das war meine erste Demo, danke dafür.“
Das Mädchenzimmer meiner Mutter ist schmal und lang. Es hat ein kleines Fenster zur Strasse hinaus, auf der ein Baum mit dicken dunklen Blättern wächst.
Die Haushälterin, die sich um meinen Onkel kümmert, der alles vergisst, heisst Joselyn. Während sie Wäsche faltet, erzählt sie mir, dass viele von ihren Bekannten in die USA geflohen sind, como mojados. Auch sie überlegt es sich, aber es sei gefährlich. Sie schaut nachdenklich. Sie kennt jemand, die mit ihrem Kind in zwei Wochen da war, von anderen habe sie nichts mehr gehört. Sie gehen zu Fuss, sagt sie mir, vertrauen ihr Leben den coyotes an, steigen in Busse, in Züge, sie wisse auch nicht genau. Es kostet dich ein Vermögen und manchmal bestehlen sich dich nur und setzen dich in der Wüste aus.
Sie erzählt mir, dass ihre Schwester unter einem bösen Zauber stand, der ihr Ex-Mann ihr angehängt hatte. Er musste sie verzaubern, damit sie alle seine Demütigungen zulässt. Weil man aber immer wieder Hexer bezahlen muss und sonst der Zauber nachlässt, hatte er irgendwann kein Geld mehr und sie konnte sich vom Bann befreien.
Ich bitte meine Tante, mich mit abuelita allein zu lassen, weil meine Tante ununterbrochen spricht. Als es endlich ruhig ist, nur das schwere Atmen durch das Sauerstoffgerät zu hören ist und meine Grossmutter erschöpft die Augen schliesst, weiss ich nicht, was ich sagen soll. Sie schüttelt den Kopf und sagt ganz leise, ich dürfe sie nicht so sehen, wenn sie nicht zurechtgemacht ist. Tatsächlich habe ich sie noch nie ungeschminkt und unfrisiert gesehen. Oft hat sie ihre Haare toupiert, immer zumindest mit etwas Pomade nach hinten gekämmt. Ich möchte mich nicht verabschieden. Deshalb packe ich einen Nagellack aus meiner Tasche, rosa perlmutt. Ihre Finger sind geschwollen, aber das Fingerbett ist noch gleich. Sorgfältig bemale ich einen Nagel nach dem andern und meine Grossmutter hebt kurz die Lider und lächelt.