Monsterwesen

Text

von  atala

Wir erzählen uns Monster.
Es war einmal ein Wolf, der sprechen konnte, der meine Grossmutter ass. Es war einmal eine schiefnasige Hexe, die Kinder kochte, es war einmal ein Wissenschaftler, der aus Leichenteilen ein künstliches Wesen zusammennähte und mit Stromstössen Leben einhauchte.
Mein Onkel aus Guatemala erzählte mir und meiner Cousine als wir klein waren die Geschichte von Chupacabra. Ein Fabelwesen, das Kleinvieh wie Ziegen und Schafe, und mit Vorliebe auch Kinder, gleich einem Vampir in die Kehle beisst und aussaugt. Ich kam gerade dazu, als im Fernsehen ein Beitrag über ein Unglück in einem Dorf unweit der Hauptstadt lief. Ich fragte meinen Onkel, was geschehen war. Es war Chupacabra, antwortete er ernst. Chupacabra habe das Dorf angefallen. Auf dem Bildschirm vergruben Frauen ihr Gesicht in den Händen, schluchzten bitterlich. Bis ins Erwachsenenalter mussten mir meine Haare immer über die Schulter gehen, damit ich sie beim Schlafen um meinen Hals legen konnte und meine Kehle nicht schutzlos da lag. Bis ins Erwachsenenalter fürchtete ich mich vor freiem Nachthimmel, dass Chupacabra herunterstürzen und mein Blut trinken würde.

Ich träume seit Jahre von Wasserwesen. Sie sind schlangenförmig, drachenähnlich, fischartig. Bewegen sich flink und geschmeidig, sind überall um mich herum und immer wenn ich denke etwas begriffen zu haben, ihr Schuppenmuster, ihre Schnauzform, die Flossenanordnung, verändert sich alles wieder. Sie können zu Ungeheuern werden, ich ekle mich, fürchte mich vor ihnen.

Mein Nachbar in der Schreibresidenz ist ein etwa 70jähriger Illustrator und hat ein permanentes Wohnatelier hier auf dem Gipfel von Montmartre. Er zeigt mir Bilder von Wasserwesen, die meinen im Traum ähnlich sehen. Wir begegnen uns im Garten, wo er mir von Waldgeistern erzählt. Wenn er spricht, haucht er, so als könne er sie sonst erschrecken. Er trägt eine Gesichtsmaske, aber in seinem stickigen Atelier nimmt er sie ab. Als ich das Fenster öffnen möchte, sagt er, Halt Stop, die Bakterien wehen hinein, und erst da verstehe ich. Dann zeigt er mir eben dieses Buch mit den Bildern, die wie aus meinen Träumen aussehen.
Ein Fischwesen streckt den Kopf aus dem Wasser in eine urzeitliche Landschaft hinein. Mehrere Wasserwesen bewegen sich wie Schlangen auf dem Land. Auf der nächsten Seite haben die Fischwesen kleine Beine und Füße, froschgesichtige Amphibien sind sie. Darunter eine Zeichnung von Skelett von Flossen, wie sie sich zu Menschenarmen transformiert haben.
Ich blättere durch das Evolutionserklärbuch, in dem die Tiere auch herzgesichtige Monster sein könnten, während der Geruch in der Wohnung mich fast ohnmächtig werden lässt. Ich halte den Atem an. Vielleicht habe ich das Buch auch als Kind gesehen und davon diese Träume bekommen, vielleicht schöpfen wir aus denselben Vorstellungen, vielleicht ist es Telepathie.

Ich setze alles zusammen beim Schreiben. Ich füge meinen Nachbarn in mein Manuskript, ich mache ihn zu einer Nebenfigur, sie verselbständigt sich und mutiert zu einer neuen Person. Die Figur im Manuskript arbeitet im Naturhistorischen Museum, in dem, zwischen Tierknochen auch die menschlichen Überreste von siamesischen Zwillinge ausgestellt sind. Ich stand einst tatsächlich vor dem Skelett der Zwillinge im echten Naturhistorischen Museum von Paris, begutachtete den Brustkorb, der sich dimensional aufstülpte, aus dem ein anderer Brustkorb entwuchs. Daneben die Plakette, die die beiden beschrieb: Le Monstre Double.

Ich lese den Obduktionsbericht, den die Wissenschaftler nach dem Tod der Zwillinge verfasst haben, die Artikel der damaligen Zeit, in denen diskutiert wurde, ob die Kreatur zwei Seelen oder womöglich keine hätte, mehr wie ein Tier gewesen sei. Lese die Geschichte der Anomalien, in dem ein Kapitel den beiden Schwestern gewidmet ist, ein Lexikon der Monströsitäten. Alles, das anders aussah, musste von sich weggestossen werden. Der Versuch, zu kategorisieren, abzulegen, Ordnung ins Gewühl zu bringen, zu kontrollieren.

Ich fragte mich, um was es wirklich ging, in diesem Beitrag über das Dorf unweit der Hauptstadt Guatemalas. Am Telefon beschreibe ich meinem Onkel die Szenerie. Die weinenden Frauen trugen Trachten, ich erinnere Feuer. Ich war etwa acht oder neun. Mein Onkel sagt, es könne alles Mögliche gewesen sein, wahrscheinlich aber ging es um ein Massaker der Soldaten in einem indigenen Dorf. Chupacabra, sagt er, ich hoffe, du fürchtest dich nicht immer noch.


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