Tessin 2024: Mähroboter und Rasenmäher

Text

von  atala

Die Sonne schien an diesem Julitag, an dem ich mit Freunden das Bavona-Tal besuchte. Sie sind ins Tessin gekommen, um sich zu erkundigen, wie es mir in der Schreibresidenz ergeht und wir unternahmen einen Ausflug. Für uns alle war es das erste Mal, dass wir in diesem Seitental sind und wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Wie schön es ist, ein Dinosauriertal, jemand summte die Titelmusik von Jurassic Park, wir stimmten mit ein, oder eher ein Hobbit-Tal, J.R. R. Tolkin war auch hier, googelten wir, er muss sich von dieser verzauberten Landschaft für „Herr der Ringe“ inspiriert haben. Wir wollten mit der Handfläche über alles streichen, wir wollten in alle kleine Häuschen treten, wir wollten die mit Moos und Bäumen überwachsenen Steine streicheln, lieblich und schön war alles. Die Leute winkten uns in ihre Häuser, damit wir sahen, wo der Kamin ist, wie viel Platz es gibt, obwohl es von aussen so schnucklig klein aussieht, wie viel Sonnenlicht die Fenster hineinlassen. 
Im Nachhinein lässt sich sagen, dass es der Tag vor dem grossen Sturm war.
In der Nacht, als der Sturm oben im Tal tobte, regnete es nicht einmal im unteren Tal. Heisse Luft umpeitschte uns und wir sahen die Blitze am Horizont im Sekundentakt.
Als ich Anfang Mai im Dorf Maggia an der Bushaltestell ankam, empfing mich Gianni Garzoli mit einem aufgespannten Schirm in der Hand gegen den Regen, der fast den ganzen Monat über ununterbrochen fallen sollte. Migration und Religion, sagte Gianni, das seien die beiden Dinge, die das Tal über die Geschichte hinweg geprägt hat. Von solcher Armut sei das Tal gewesen, dass die Menschen zu Zehntausenden in die USA migrierten, auf der Suche nach einem besseren Leben. Trost spendete die Kirche.
Und tatsächlich ist hier mein täglicher Begleiter Jesus am Kreuz oder die Muttergottes in blauen Tüchern umhüllt. Auf allen Spaziergängen am Fluss entlang oder den Wanderungen in die Bergflanken, egal wie fern man sich der Zivilisation wähnt, das nächste Abbild eines Heiligen wartet auf Häuserwänden oder in Schreinen ganz in der Nähe.
Je länger ich bleibe, desto mehr gewöhne ich mich an sie. Langsam kenne ich alle, ich nicke ihren leidenden Gesichtern zu.
Was dieses Tal wirklich prägt, dachte ich, als ich an einer Dorfstrasse entlang ging, sind Mähroboter und Rasenmäher.
Spähte ich durch die Hecken in die Gärten, blickte ich meistens auf perfekt geschnittenes Gras, auf in Formationen geschnittene Büsche und terrassierte Steinmauern. Und über den Rasen glitt ein sich konstant in der gleichen Geschwindigkeit bewegender Mähroboter.
An schönen Tagen dröhnten die Rasenmäher auf den grossen Wiesen. Das Gras wird in weisses Kunststoff gewickelt und die Ballen duften in der Nacht nach Blumen. Gleichzeitig durchschneiden bei Sonnenschein die Helikopter die Stille. Sie beliefern die oberen Täler mit Esswaren und Baumaterial.
Und dann wurde es Juli, die Tage wärmer, der Regen aber immer noch beständig.
Der Sturm kam.
Er hat Bäume entrindet und Brücken zu brechen gebracht.
Der Sturm hat das Bett des Flusses verändert.
Hat das Trinkwasser vergiftet und Kühe in den Lago Maggiore geschwemmt.
Der Sturm hat ganze Landstücke unter Sand, Holz und Steinbrocken begraben.
Er hat eine Landlawine freigesetzt, die über das schöne Dinosaurier-Hobbit-Tal hinweggerollt ist.
Die Helikopter flogen die drei nächsten Tage ohne Pause. Diesmal waren es Super Puma vom Militär, sie evakuierten ganze Dörfer, sie suchten im Fluss nach den Vermissten.
Im Dorf munkelt man der Sommer sei anders, der Winter nicht wie früher. Man munkelt etwas wäre im Wandel.
Mähroboter und Rasenmäher, ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht prägt bald etwas anderes das Tal, eine Natur, die unbezwingbar gemacht wurde



Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 eiskimo (24.08.24, 22:39)
Du lässt einen schön zwischen der scheinbaren Idylle und  dem Mähzwang der Menschen dort schwanken. Helis und Heilige.....

 atala meinte dazu am 26.08.24 um 21:20:
Das wäre auch ein schöner Titel! Helis und Heilige

 eiskimo antwortete darauf am 26.08.24 um 22:16:
Alliteration. Und den Spannungsbogen benannt.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram