Chica de Humo, Nebelmädchen

Text

von  atala

Yoselin zeigt mir auf ihrem Handy ein Foto einer Marienerscheinung. Der ovale Riss und die Verfärbungen auf der Rinde eines Baumstamms zeige die Muttergottes. Die Jungfrau Maria sei auf diesem Baum erschienen, flüstert sie mir zu und bekreuzigt sich. Am Fuss Stammes liegen Kerzen und Blumen. Yoselin habe für Arbeit gebeten, von der sie leben könne, als sie die heilige Stätte aufgesucht habe. Um sich ein Haus zu kaufen, das weit weg von ihrem Ex-Mann liege.


Für die nächsten zwei Wochen kümmert sich Yoselyn um den Haushalt meiner Tante und um meinen Onkel, der Alzheimer entwickelt hat. Der vergessen hat, wie man essen zubereitet, vergessen hat, wie man sich die Schuhe bindet und täglich vergisst, seine Medikamente zu nehmen. Meine Tante ist verreist, sie besucht ihre Tochter, die an der Küste arbeitet, später sagt sie mir, dass sie sich von der Situation erholen musste. Zufälligerweise ist sie genau weg in der Zeit, in der ich Guatemala besuche. Ich wohne im Zimmer ihrer Tochter, meiner Cousine, und frühstücke jeden Morgen mit meinem Onkel, der nie meinen Namen nennt, weil er ihm vermutlich abhandengekommen ist. Genauso wie mein Gesicht, meine ganzer Erscheinung, aber weil ich in seinem Haus bin, tut er so, als wisse er, wer ich bin.


Coco, Yoselins Hund folgt ihr auf Schritt und Tritt. Er sei wie ihr Kind. Sie wasche ihn einmal die Woche, er hat alle Impfungen bekommen und er begleite sie, damit sie nicht einsam werde. Coco bellt, wenn man sich der Küche nähert, weil sie im Raum dahinter schlafen.

 
Yoselin wischt gerade den Boden, als sie mir erzählt, sie denke darüber nach, in die USA zu migrieren. Sie hält in der Bewegung inne und sagt, hier verdiene man zu wenig. Ausserdem lauere hinter jeder Ecke die Gefahr, dass sie ihrem Ex-Mann begegnet. Sie kenne viele, die das Land verlassen haben. Bei einigen klappt es. Eine Nachbarin sei mit ihrem kleinen Kind losgezogen, zwei Wochen später schickte sie ein Foto aus einem Diner, lächelnd.
Das Wort mojada kommt mir in den Sinn. Nasse Person. So werden illegal eingewanderte Lateinamerikanerinnen genannt, weil viele über den Rio Grande nach Texas schwimmen. Zwar ist man schon lange wieder trocken, aber es gibt scheinbar etwas, das kleben bleibt. Ein Status, der nicht trockenzureiben ist.
Bilder aus den Nachrichten erscheinen vor meinen inneren Auge, die über verarmte Menschen berichten, die sich zu einer Karawanen zusammenschliessen und in die USA marschieren.

 
Ich das nicht sehr gefährlich, frage ich sie.


Kann schon sein.

 
Von einigen, die sich auf dem Weg gemacht haben, habe sie nichts mehr gehört. Gott wisse, was mit ihnen geschehen sei. Ihr fehle es aber sowieso an Geld, um die coyotes, die Schlepper, zu bezahlen. Manche bringen dich sicher über die Grenze, aber manchen bezahlst du dein letztes Geld und sie lassen dich allein in der Wüste zurück. Ihre Frage, wie es meine Mutter „geschafft“, wo sie meinen Vater kennengelernt habe. 

 
Ich besuche mit Yoselin den Markt. Wir kaufen Früchte, Gemüse, Tortillas mache sie selbst, sagt sie, es wäre Verschwendung, sie zu kaufen. Wir wollen bacalao a la vizcaina machen, ein Gericht, dass man zur Semana Santa, der heiligen Woche an Ostern isst. Der vom Salz getrocknete Fisch, den man dafür braucht, liegt auf den Ständen ausgebreitet wie ausgebleichtes steifes Pergament. Ich trage ihn wie ein Schild vor mir. Yoselin kennt diesen Markt gut, weil sie vorher eine ältere Frau aus dieser Gegend gepflegt hat, bis sie gestorben ist und immer ihre Einkäufe erledigt hat. Bei allen Ständen führt sie die gleiche Aufführung auf. Das Kilo Tomaten, so teuer mittlerweile? Wie sieht es denn mit den grünen Chilis aus? Was, so viel? Na gut, dann geben Sie mir halt welche. Sie setzt einen trauriger Gesichtsausdruck auf, dann gehen wir weg und sie zwinkert mir zu, das war ein richtig guter Deal!

 
Wenn die Leute nicht den Preis verhandeln, sind sie ausgelassen, sie laden uns zu ihren Familien ein. Kommt nach Coban über Ostern, kommt ans Meer! Wir lachen und sagen, vielleicht, mal schauen. Jemand fragt, ob ich ihre Tochter bin, wir lachen wieder. Als wir alle Zutaten beisammenhaben, trinken wir am Stand Wassermelonensaft, ich schiesse ein Selfie von uns mit dem Strohhalm zwischen den Lippen.


Den Fisch müssen wir während drei Tage vom Salz auswaschen. Alle paar Stunden wechselt Yoselin oder ich das Wasserbad, das mit der Zeit milchig wird.
Ich spiele ein Spiel mit meinem Onkel und seinem Freund aus Jugendtagen. Wir sitzen am Tisch und setzen Spielsteine, auf denen Zahlen sind, zu einer Kette zusammen. Immer wenn man drei Folgezahlen hat, kann man die Steine vom eignen Stapel auf die Tischmitte legen. Ich gewinne drei Mal hintereinander und ärgere mich über mich selber, dass ich die älteren Männer beim dritten Mal nicht gewinnen lassen habe. Aber ich hatte keine Geduld mehr, das Spiel wäre ewig gegangen.

 
Sie erzählen mir von einem Heiligen, in der Kirche Santo Tomas in Chichicastenango. Der Bruder von meinem Onkel hatte einen Autounfall und lag im Koma. Damit er wieder aufwache, liefen die beiden Jugendfreunde mit Anfang zwanzig zur Kirche, einen ganzen Tage und eine ganze Nacht liefen sie, über die Hochebene und durch tiefe Wälder. Vor der Kirche wartete bereits die Mutter von meinem Onkel, sie war ganz in schwarz gekleidet. Sie war mit dem Bus angereist. Den erschöpften Männern rief sie zu, es sei ein Wunder geschehen! Ihr Laufen habe gewirkt, der Bruder sei aus dem Koma erwacht.
Mein Onkel fragt mich nach dem Spiel, wie seine Söhne heissen.


Für das Ostergericht muss man Oliven, Mandeln, Petersilie zerhacken, Knoblauchzehen zerdrücken. Tomaten und Chilis anrösten, die Haut abziehen und sie dann in Stücke zerschneiden, Kartoffeln kochen, alles in Stücke schneiden und mit dem inzwischen weich gewordenen und entsalzenden Fisch vermengen, mit Zitronensaft, Olivenöl, Thymian, Lorbeerblätter, Salz und Pfeffer abschmecken. Jetzt muss das Gericht abgedeckt im Kühlschrank durchziehen.


Mein Onkel sagt, der Hund nerve. Aber er beschützt uns, werfe ich ein. Und er nickt widerwillig.


Am Abend kommt eine Tante zu Besuch. Sie tritt ins Haus, ohne zu klopfen und drückt mich fest an ihre Brust. Mein Onkel wollte früh ins Bett, deshalb sitzen nur wir drei am Tisch, an unseren Beinen wedelt Coco. Meine Tante streut Salz in ihr Bier und presst Limettensaft hinein, während sie mir die Geschichte erzählt, die sie mir immer erzählt, wenn wir uns sehen. Die, von ihrem ermordeten Verlobten. Er sei ihr nach seinem Tod erschienen. Von Soldaten wurde er umgebracht, weil er sich während des Bürgerkriegs für Landrechte eingesetzt hatte, wenige Tage, bevor sie vermählt worden wären. Freunde überbrachten ihr die Nachricht und sie lag nur noch in Bett und weinte sich die Augen aus. Eines Morgens, als sie nach einer wachgelegenen Nacht in die Küche ging, stand er da und kochte in seliger Ruhe Kaffee. Seine Stimme war sanft, er war fürsorglich, schenkte ihr und sich eine Tasse ein, küsste sie auf die Stirn. Dann sei er in den Innenhof getreten, so als würde er nur kurz die Pflanzen wässern, aber als sie ihm nach ein paar Sekunden der Erstarrung nachging, war er nicht mehr zu sehen. Sie glaubte schon, sie habe in ihrer Trauer halluziniert, sie ging zurück zur Küche, da sah sie auf der Ablage zwei dampfende Tassen.


Ganz sicher, bin ich mir, beteuert meine Tante auf die Einwendung Yoselins. Ich habe ganz sicher keinen Kaffee gekocht. Das war nicht ich.

 
Er kam, um sich zu verabschieden, nicken wir.


Auch Yoselin packt ihr Geistergeschichten aus, hier haben alle haben ein paar auf Lager. Yoselin erzählt die von ihrer Schwester. Sie sei unter dem Zauber ihres böses Ehemanns gestanden. Er konnte alles mit ihr anstellen, sie vor allen beschimpfen, Blutergüsse und gebrochene Zahne zufügen, belügen, sie betrügen und sich nicht schlecht fühlen, wenn er darauf angesprochen wurde. Mit der Zeit jedoch, sagt Yoselin, habe er kein Geld mehr gehabt, um die Hexer zu bezahlen, die der Schwester den Bann aufgelegt haben. Ihr sei bewusst geworden, was mit ihr geschehen war und sie konnte ihn verlassen.


Erst später fällt mir ein, dass ich mit Yoselin einmal über Geschwister gesprochen habe und sie mir da gesagt hat, sie wäre die einzige Tochter gewesen.


Für die Osterprozession wurde die ganze Innenstadt gesperrt. Menschenmassen schieben sich durch die Strasse. Wir sehen die Figuren aus Bibelszenen schon von weitem auf uns zu bewegen, der Trauermarsch kommt immer näher. Dann schreitet die unendliche Kolonne an Männern an uns vorbei. Sie tragen die riesige schiffartige Holzkonstruktion im Takt der Blas- und Schlagmusik. Um ihre Sünden zu bezahlen, flüstert mir meine Tante ins Ohr. Eine durchsichtige Engelsfigur balanciert an der Ecke der Konstruktion. Männer heben mit langen gabelförmigen Stäben die Stromleitungen, damit die Eisähnliche Figur unbehindert hindurchschweben kann. Vom Weihrauch ist mir schwindelig. Neben mir bricht eine schwarz gekleidete Frau, sie hat auch ein schwarzes Tuch um den Kopf gebunden, in Tränen aus, fällt schluchzend auf die Knie. Ich möchte ihr zu Hilfe eilen, aber meine Tante sagt, es ist Semana Santa, das ist normal, und hält mich zurück. Die Frau in schwarz erhebt sich nach ein paar Momenten scheinbar unberührt. Später sehe ich sie mit anderen Leute lachend an einem Stand, der Süssigkeiten verkauft.

 
Coco, Yoselins Hund-Kind verfolgt mich, ich spiele mit ihm auf der Strasse. Deute dabei an, loszurennen und er sprintet aufgeregt in jede Richtung.


Bei meiner Grossmutter wurden die Hunde in den Garten ausgesperrt. Nach ihrer Operation dürfen sie nicht mehr zu ihr ins Bett. Sie springen aufgeregt an mir hoch, wenn ich sie besuche. Ich halte die Hand meiner Grossmutter, geschwollene Finger von den Medikamenten, von der Arthritis. Sie ist zu erschöpft, um die Lider zu heben. Eine dicke schwarze Bibel liegt auf dem Nachttisch. Nichts ist zu hören, ausser dem Röcheln und Rauschen der Atemzüge durch die Sauerstoffmaske. Plötzlich erklingt aus dem Fernsehen, der in der Ecke steht, ein lautes Lied. Ein Sänger singt lauthals chica de humo. Ein Lied, in dem es um ein Mädchen geht, das verschwindet. Bevor das Lied zu Ende ist, schaltet der Fernseher einfach wieder ab.


Zurück in der Schweiz Schweiz, schicke ich Yoselin Bilder vom Schnee im März. Schicke ihr Fotos von einem ganzen Fisch, das ich in einem Restaurant bestelle und mich ganzäugig ansieht. Sie lässt alles unbeantwortet. Von meiner Tante erfahre ich, dass Yoselin nicht mehr bei ihr erschienen ist, obwohl sie vereinbart haben, dass ihr noch einmal bei etwas hilft. Ich schicke ihr als Witz gemeint, den Song „chica de humo“, Nebelmädchen, und frage sie, ob sie sich aufgelöst hat. Dann schaue ich lange das Selfie an, das wir beim Wassermelonensaft Trinken geschossen haben und bekreuzige mich.


Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram