Natürlich kennen Sie Ennio Morricone. „Spiel mir das Lied vom Tod.“ Nicht jeder kennt Severino Gazzelloni, den virtuosen Flötisten. Und Almidano Artifoni, kennen Sie den? Wenn ja, dann haben Sie Joyce gelesen, denn im „Ulysses“ kommt er vor. Was haben sie gemeinsam? Es sind hinreißend schöne italienische Namen. Und auch dieser gefiel mir: Cesare Brandi. Wer war das? Ich lernte ihn durch Norma kennen. Er war der geistige und praktische Vater des Instituts gewesen, an dem sie ausgebildet wurde, ein wahrer Cäsar der Restaurierkunst.
Brandi entwickelte die Lehre von der doppelten Geschichtlichkeit des Kunstwerks: Es entstammt einer bestimmten Epoche mit ihren ästhetischen, religiösen und handwerklichen Eigenheiten. Die ästhetischen und religiösen Voraussetzungen sind Sache der Kunsthistoriker, die handwerklichen aber müssen vom Restaurator dringend gekannt, beherrscht und angewendet werden. Ein in Tempera gemaltes Bild darf nicht mit Ölfarben restauriert werden. Das ist die eine, die Ursprungsgeschichlichkeit.
Die andere ist die des Überdauerns eines Kunstwerks durch Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende hindurch. In diesen oft großen Zeiträumen verändert es sich, altert, dunkelt nach, nimmt Schaden, wird restauriert oder sogar übermalt. Und ist es Aufgabe des Restaurators, diesen Prozess gleichsam unsichtbar zu machen? Nein, auch diese Geschichtlichkeit soll er respektieren. Er soll Alterung und Schäden unauffällig machen, aber nicht kaschieren. Es ist nicht Aufgabe des Restaurators, ein Kunstwerk wie neu aussehen zu lassen. Das wäre Fälschung. Die Flächen, an denen er die Fehlstelle eines Gemäldes ausgefüllt hat, soll er kenntlich machen, indem er zwar die dahingehörige Farbe verwendet, sie aber so aufträgt, dass es bei näherem Hinsehen erkennbar ist: nämlich schraffierend. Dieses sog. Tratteggio ist das Kenn-, ja, das Markenzeichen der von Cesare Brandi gelehrten Restaurierkunst.
Norma war eine meisterhafte Restauratorin und arbeitete unter Wolfgang Hahn, der ihr die Arbeit weitgehend überließ – denn er hatte sein Interesse an moderner zeitgenössischer Kunst entdeckt, holte die Popkunstsammlung des Aachener Printenbäckers Peter Ludwig und seiner Frau Irene ins Wallraf-Richartz-Museum, während Norma schuftete. Zu ihrer Entlastung nahm sie Schülerinnen an, darunter eine Deutschrussin – der ich im wörtlichsten Sinne des Wortes verfiel. Was sie an mir fand, weiß ich nicht. Ich war doppelt so alt wie sie. Und als Norma an ein anderes Museum ging, folgte ich ihr nicht, sondern folgte Natascha, die nach Bochum zog, um sich zur Puppenspielerin ausbilden zu lassen.