Für lange Haare muss man ein Madonnengesicht haben

Tagebuch

von  tulpenrot

Das war jedes Mal die Antwort meiner Mutter, wenn ich als kleines Mädchen sie bedrängte, weil ich lange Haare haben wollte und Zöpfe. Stattdessen musste ich zum Friseur gehen und bekam eine jungenshafte Kurzhaarfrisur. Ich war todunglücklich darüber. Sollte ich eigentlich ein Junge sein? War ich meiner Mutter, meinen Eltern, als Mädchen nicht recht? Später kam als Steigerung noch eine Brille dazu. Ich fand mich immer potthässlich!

 

Ich hatte also kein Madonnengesicht.
Eigentlich wusste ich nicht, wie eine Madonna und besonders wie ihr Gesicht aussehen musste, bis ich einmal entdeckte, dass meine Mutter vor langer Zeit als junge Kunststudentin eine Madonna als Wachsfigur geformt hatte. Ich habe diese Madonna immer noch: Eine kniende Gestalt, zarte Hände zu einer behutsam beschützenden Geste geformt. Wirklich beeindruckend, obwohl ihr Brokatgewand inzwischen ziemlich mitgenommen aussieht. Hatte sie ein Madonnengesicht? Ich betrachtete sie immer und immer wieder, konnte mich nicht entscheiden und weiß es bis heute nicht, wie sich ihr Madonnengesicht von anderen Gesichtern unterscheidet. Vielleicht durch ein Lächeln? Durch Milde? Aber all die anderen langhaarigen Mädchen, denen ich auf der Straße begegnete, hatten sie ein Madonnengesicht? Das waren doch ganz gewöhnliche Mädchen! Nichts Madonnengleiches war an ihnen zu erkennen, fand ich. Ein mildes Lächeln – wenn das der springende Punkt sein sollte - passte außerdem zu einem kleinen Mädchen sowieso nicht!

 

Meine Großmutter hatte wohl Mitleid mit mir und sorgte für Abhilfe. Sie flocht aus dicker, weißer Wolle kurze Zöpfe, die ich mit einer Schlaufe über die Ohren hängen konnte. So schaukelten sie ganz natürlich um mein Gesicht. Es fühlte sich an, als hätte ich echte Zöpfe. Ich mochte diese zarte Berührung der Wollzöpfe. Eine Schleife hatten die Zöpfe auch. Eine rote. Aus Geschenkband. Ob ich mich damit auf die Straße traute, weiß ich nicht mehr. Aber zuhause waren sie herrlich! Ich war glücklich.

 

Mein ganzes Leben lang hatte ich kurze, volle Haare. Ich hab mich damit abgefunden, dass ich kein Madonnengesicht hatte. Wenn ich meine Kinderfotos heute betrachte, finde ich, dass der superkurze Haarschnitt darauf toll aussieht. Es waren wohl gute Friseure, zu denen meine Eltern mich schickten. Und die Fotografin hatte Geschick, gekonnte Porträtfotos zu machen. Ich bin heute stolz darauf. Aber damals? Ich wollte doch einfach nur lange Haare und Zöpfe haben!

 

Später fand ich leider keinen guten Friseur mehr. Doch im Laufe der Zeit habe ich gelernt, mir meine Haare zu einer einigermaßen flotten Kurzhaarfrisur selbst zu schneiden. Jetzt bin ich weit über 70 Jahre alt und ein wenig unbeholfen. Zum Friseur gehe ich immer noch nicht,  trage aber seit einigen Jahren lange Haare. Der Einfachheit halber. Endlich! Auch ohne Madonnengesicht.



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