Er ist umgezogen

Tagebuch zum Thema Abschied

von  tulpenrot

Er ist umgezogen, könnte man sagen.
Weit weg von hier. Er ist am Ziel. Angekommen.
All seine Bedenken und seine Ängste hat er hinter sich gelassen. Sie sind aufgehoben und umwickelt, eingewickelt wie in ein Geschenkpapier, in Friedenspapier. Er muss sich nicht mehr darum kümmern.
Er hat uns alle zurückgelassen: seine große Familie, seine Frau, seine Kinder und Kindeskinder, die vielen Freunde, die ehemaligen Kollegen, wenn es sie denn noch gibt, die vielen Schüler, die Mitmusikanten, wenn sie noch leben, die Gemeinde. Nichts bleibt, wie es ist. Nur sein Haus bleibt, aber er wohnt nicht mehr darin. Er ist umgezogen. Er ist umgezogen in eine andere Heimat. Wir können ihn nicht mehr besuchen, wir werden keine Musik mehr zusammen machen. Sein Dasein hat jetzt eine andere Qualität und Ausrichtung, vielleicht geht es nun weiter in einer anderen Tonart.
Ich schaue mich in meiner eigenen Wohnung um. Viele Besonderheiten erinnern an ihn. Mit ihnen lebe ich schon seit Jahrzehnten. Sie gehören ganz selbstverständlich zu meinem Leben.
Zuerst einmal der Herrnhuter Stern in meinem Esszimmer mit mehr als 25 Zacken, den er vor einigen Jahren aus Papier mit Sorgfalt und Akribie herstellte.
Und bei mir steht ein Klavier, das ich durch seine Vermittlung bekam, ein Cembalo, dem er neue Kiele „verpasste“. In meinem Schrank stehen viele Noten, aus denen wir mit einander musizierten, die er kopiert und zusammengeklebt hat. Ganz akkurat und sorgfältig. Einen Kerzenleuchter aus Keramik bekam ich von ihm und seiner Frau, bei einer Töpferei erworben.
An meinen Notenständer montierte er ein praktisches Ablagebrett für die verschiedenen Flöten, die während der gemeinsamen Auftritte zum Einsatz kamen. Ich erinnere mich besonders gerne an die vielen Jahre, wo wir immer am Heiligabend ganz frühmorgens im Gottesdienst musizierten und anschließend gemeinsam mit einem Teil der schon angereisten Familie in seinem Haus an einem schön gedeckten und geschmückten Tisch frühstückten.
Er sprach nicht viel, hörte lieber zu, aber interessierte sich für alles. Er und seine Frau waren überaus gastfreundlich. Wie oft durften wir unter der Pergola sitzen und Kaffee trinken oder zu Abend essen. Wie oft wir abends mit ihnen gemeinsam im Dachstübchen ein Video anschauten, was für uns etwas ganz Besonderes war, weil wir damals weder Fernsehgerät noch Videos hatten. Ganz ungezwungen. Jederzeit konnte man vorbeikommen. Wie sehr mir das alles fehlt, seitdem ich weggezogen bin.
Und nun, heute erfuhr ich, dass er am vergangenen Sonntag gestorben ist. Ich kann es mir gar nicht vorstellen.



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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (09.02.22, 18:30)
Deinen Schmerz hast  Du in Worte gefasst, die auch den Leser zutiefst berühren. LG

 tulpenrot meinte dazu am 10.02.22 um 06:54:
Danke. 
Geht es anderen Menschen nicht genauso, dass es einen Lebensabschnitt gibt, in dem man vermehrt Abschied nehmen muss? Früher als junger Mensch hat man  oft "die Alten" belächelt, die anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als von einer Beerdigung zur nächsten zu gehen - als ob es nichts anderes gäbe, als ob sie sich dabei besonders wohl fühlten. Aber so ist es nicht. Es sind ja Wegbegleiter, die man zu Grabe trägt, und ein Stück des eigenen Lebens, von dem man Abschied nimmt.
Was ich aber in diesen Tagen besonders wertschätzen kann, ist, dass es offenbar Menschen gibt, die nachhaltige (auch sichtbare), aber unaufdringliche Spuren in meinem Leben  hinterlassen haben. Sie umgeben mich ganz selbstverständlich. Das ist schön und tut gut, mal darüber nachzudenken.

 AchterZwerg (10.02.22, 08:41)
Ja,
mit zunehmendem Alter ziehen immer mehr Verwandte und Freunde weg. Vielleicht in eine friedlichere Welt ...
Du hast das alles gut in  Worte gekleidet, ohne ins Pathos zu gleiten.

Liebe Grüße
der8.

 tulpenrot antwortete darauf am 10.02.22 um 13:42:
Es würde zu der ganzen Familie passen - sie lieben keine pompösen Worte, aber sie sind gute Begleiter und Weggefährten gewesen.
Liebe Grüße und Danke für deine Empfehlung und den Kommentar.
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