Sich Freund werden: Über das psychosomatische Potential intrinsischer Moral – eine egoistische Ethik (Januar.2025)
Essay
von Hamlet
Inhalt
1. Vitalität, Moral und Sucht
2. Disco-Sucht
3. Psychosomatik und Moral
4. Sich bester Freund werden
5. Implikationen und Konflikt
6. Schluss
1. Vitalität, Moral und Sucht
Meine größten Sorgen haben sich immer auf die Vitalität bezogen. Dieser obsessive Fokus wäre nicht denkbar, falls meine Lebenskraft immer geschwächelt hätte. Denn nur im extremen Kontrast wird die Spannweite zwischen Mangel und Überschuss gefühlt. Wer durch verschiedene Energieniveaus diversen Weltwahrnehmungen ausgeliefert ist, vermeidet die Verabsolutierung einer Perspektive – ähnlich der Erfahrung in der Sauna. Aus der Überhitzung kommend wird die Eiswasser-Tonne zum lustvollen Bedürfnis, wogegen abgekühlt keine Sekunde in dieser kalten Hölle ertragen wird. Die Sauna macht das Bedürfnis nach dem jeweils anderen Extrem sinnfällig und lehrt in ihrer Spannweite viel über Mut, Vitalität und Moral.
Das Sauna-Prinzip lässt sich auf die Moral übertragen. Ich habe oft erlebt, wie die Vitalität das moralische Prinzip verändert. Jedenfalls habe ich Nietzsches Sklaven- und Herrenmoral sofort an mir nachfühlen können. Hohe Energiezustände verdrängen die Angst, die Angst, welche riesig wird, sobald die Energie1 schwächelt. Denn ohne Energie sind wir zur Passivität verurteilt, werden zum Spielball der anderen, werden ihren Launen ausgesetzt. Ohne en-ergos können wir nichts ins Werk setzen. Wer dagegen eine hohe Energie ausstrahlt, wird meistens geschätzt und von manchen gefürchtet oder beneidet. Jedenfalls gilt er ästhetisch gesehen als gut, da er potentiell tüchtig ist. Und falls er mit seiner Energie den Menschen gerne hilft, empfängt er Sympathien und wird auch moralisch als gut erachtet, da in der Moral nicht nur die Absicht, sondern auch der Handlungserfolg zählt. Erst der durch Energie Gesegnete ist fähig zur Größe im Guten und Bösen.
Unausgesprochen scheint zu gelten, dass kränkliche und unglückliche Menschen etwas falsch machen müssen und selber Schuld tragen, falls ihre schlechten Zustände andauern. Denn sie haben die Ursachen ihres Leidens nicht beheben können, was auf Schwäche, Faulheit, Dummheit, oder grundlegende Verderbtheit schließen lässt – d. h. moralisch etwas Schlechtes, wenngleich Bemitleidenswertes. Insofern wir vitale Lebewesen sind, bewerten wir alles am Kriterium der Vitalität (obwohl viele ihre instinktive Bewertung durch die Floskel politischer Korrektheit zu vertuschen suchen). Jedenfalls habe ich instinktiv immer unter Scham- und Schuldgefühlen gelitten, wenn ich selbstverschuldet in schlechter Form gewesen bin. Schamgefühle haben sich auf meine sinnliche Erscheinung sowie psychosomatische Anfälligkeit und Schuldgefühle auf meine (freien) Handlungen bezogen.
Jede Moral setzt eine Handlungsfreiheit voraus, obgleich die Willensfreiheit fraglich bleibt. Wo auch die Handlungsfreiheit widerlegt wird, gibt es streng genommen keine Schuld, und wo es keine Schuld gibt (die sich auf unsere Handlungen bezieht), fällt auch die Scham weg (die sich in erster Linie auf unser ästhetisches Dasein, unsere Erscheinung bezieht). Denn wer in seinen Handlungen unfrei ist, verantwortet sein schlechtes Aussehen, seine Minderbemitteltheit oder seine Charakterfehler nicht. Dennoch kommt es vor, dass sich Leute schämen, obwohl sie von ihrer Unfreiheit überzeugt sind, nämlich wenn sie sich im sozialen Vergleich von Gott oder der Natur als schlecht weggekommen bewerten. Entweder wurde man ungerecht behandelt oder man wurde gerecht behandelt. Wenn Gott oder ein karmisches Gesetz gerecht sind, muss das Problem bei mir gelegen haben, dass ich weniger erfolgreich und glücklich durchs Leben tanze als mein blühender Held. Um von Schuld- und Schamgefühlen gänzlich frei zu werden, müsste man ein überzeugter Nihilist sein, der annimmt, dass die Verteilung der Gaben bloßer Zufall sei und dass es nach dem Tod kein Wiedersein gibt, das von der moralischen Qualität unserer Taten abhinge.
Wer dagegen kein Nihilist sein kann, glaubt am Kompass der Moral seine kosmische Position zu steuern. Er befreit sich nur dann von Schuld- und Schamgefühlen, wenn er seine Moral bestmöglich befolgt. Es kann überall beobachtet werden, freilich auch als Vermessenheit, dass sich jede Partei moralisch verabsolutiert, wobei mancher so pathetisch auftritt, als ob er sich selber noch überzeugen wollte. Sicher glauben viele nicht wirklich an ihre vermeintlich moralischen Grundsätze, spielen aber im Rahmen der gesellschaftlichen Regeln den anderen ihre Empörung vor, um zu ihren (versteckten) Zwecken zu gelangen. Während die Schauspieler unter den Moralisten von ihren Zielen eine Moral ableiten, haben die Pioniere und Anführer irgendeiner Partei aus ihrer Moral Ziele bestimmt, wodurch sie sehr stark geworden sind, indem sie allem Entgegenstehenden entsagt und notfalls den Tod in Kauf genommen haben. Solange der Schauspieler noch weiß, dass er spielt, mangelt es ihm an existentiellen Ernst, wobei sein Vertuschen der wahren Werte und Handlungs-Motive mit einer Krafteinbuße einhergeht. Besonders die früheren Jahrhunderte wussten nicht nur um der Gesellschaftsordnung, sondern auch um der individuellen Kraft willen, dass es keinen echten Mann ohne starke Moral geben könne.
Auf den Inhalt der Moral bin ich noch nicht eingegangen, da es zunächst nur um das Prinzip geht, welches uns schwächt, falls es unser Gewissen bewohnt und wir ihm zuwiderhandeln, oder welches uns stärkt, solange wir uns damit identifizieren und es befolgen. Die Moral ist also schon immer eine geistige Vitalitäts-Quelle gewesen, falls sie nicht auferlegt ist, sondern auf den eigenen Werten beruht, die es zunächst zu erkennen gilt.
Jede Moral2 wird durch einen Sinn geleitet, durch die Frage Wozu? Vom Sinn leiten sich Werte ab, die hierarchisiert werden müssen, insofern sie konfligieren. Aus Werten leiten sich konkrete Normen und Tugenden ab, welche zu befolgen das moralische Handeln meint. Der Kraftgewinn durch Moral kostet den Schweiß der Arbeit und Entsagung, bis die moralischen Handlungen bestenfalls zu lustvollen positiven Gewohnheiten werden, bis es also keinen Kampf mehr zwischen Pflicht und Neigung, sondern eine Harmonie gibt. Das weiß nicht nur der religiöse Mensch, sondern jeder Sportler, jeder Künstler, jeder Bürger, deren Werte sich oft überschneiden, obgleich sie durch einen jeweils anderen Sinn anders geordnet werden.
Wenn z. B. der Sinn eines religiösen Menschen im Frieden liegt, bieten sich humane Werte wie Gerechtigkeit, Liebe und Mitgefühl an, wodurch potentielle Feinde minimiert werden. Werden diese Werte als Normen konkretisiert, lasse ich etwa andere zu Wort kommen, höre zu, bin freundlich, stelle mich an, versuche nicht mehr zu bekommen, als mir zusteht usw. Wenn andererseits der Sinn eines Sportlers Ruhm ist, bieten sich Werte wie Gesundheit, Ernährung, Nüchternheit, aber auch Eifersucht an, wodurch Konkurrenten abgehängt werden sollen. Werden diese Werte konkretisiert, so gehe ich früh schlafen, koche selber und verzehre regelmäßig auch Unschmackhaftes, verzichte auf Alkohol und Drogen, suche den Schwachpunkt meines Konkurrenten usw. Sowohl der Religiöse als auch der Sportler müssen vielem entsagen, um ihren Sinn nicht zu verfehlen. Obwohl sich untergeordnete Werte und Normen überschneiden, dass z. B. beide nüchtern bleiben und das Nachtleben meiden sollten, sind die Werte und Normen anders geordnet, wobei das Ziel sogar gegensätzlich ist. Denn während der Religiöse dem Konkurrenzdenken entsagen muss, um inneren Frieden zu finden, braucht es der Sportler, um sich zu Höchstleistungen anzuspornen und seine Gegner zu besiegen.
Der geborene Fußballer hat immer schon Fußball spielen wollen, bringt die körperlichen Voraussetzungen mit, liebt den Ruhm, stammt aus einer Sportlerfamilie und verträgt vielleicht sowieso keinen Alkohol. So fällt ihm die Entsagung nicht schwer, wobei nicht nur der Ruhm, sondern die meisten Arbeits-Prozesse lustvoll sind. Und selbstverständlich gibt es keinen herausragenden Menschen, der von seiner Kunst nicht schon immer besessen gewesen ist, sodass der Ruhm mehr Folge als Ziel geworden ist. Insofern hat sich der Spitzensportler primär selbst erkannt und sich sekundär einem Lebens-Sinn verschrieben.
Die Beispiele vom Religiösen und vom Sportler implizieren auch, dass Sinn nicht ohne Lust, und Lust nicht ohne Sinn sein darf. Wo zulange lustloser Sinn versucht wird, bricht oftmals das Luststreben plötzlich durch, zumal wir die Tatsache unseres psychologischen Hedonismus’3 nicht weiter begründen können als mit dem Leben selbst. Lustvoll ist es, wenn sich überschüssige Vitalität in einer Tat verbraucht, doch nicht bis zur kränklichen Erschöpfung, sondern bis zum Frieden, also bis dahin, wo die Säfte wieder in Harmonie sind. Wer keinen Vitalitäts-Überschuss hat, ist der Lust nicht fähig, da ihn der Vitalitätsverbrauch nur ins Minus treibt. Beispiele sind Sport, Sex, Masturbation, Trinkgelage, Drogenkonsum, die je nach Gesundheit noch zur Befriedung oder schon zur kränklichen Erschöpfung führen.
Wo die Erschöpfung dominiert, beginnt oftmals die Sucht, wobei sich der Leidende nur noch im Rausch lebendig fühlt, sodass er noch tiefer in die Erschöpfung sinkt. Es ist schwierig, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, da viele Süchtige auch in abstinenten Phasen keine Vitalitäts-Überschüsse für sinnvolle äußere oder innere Projekte haben, was sich z. B. in Depressionen zeigt. Selbst wenn es geschafft wird, sich durch guten Willen und Entsagung zu erholen, bleibt die Vitalität oftmals nur gedeckt, sodass die Lustrutsche nur wieder ins Minus führte, falls wieder eine große lustvolle Intensität gefühlt werden will. Die Erinnerung an hohes Leben durch Liebe, Alkohol oder Drogen lässt ihn seinen Zustand als bloßes Überleben, jedoch nicht als lustvolles Leben erscheinen. Da einige zeitlebens im Mangel bleiben oder höchstens wieder zur Kostendeckung gelangen, werden sie suizidal bis hin zum Junkie, der sowieso immer leiden werde und nur noch durch seine harte Droge wenigstens ab und zu ein Lebenshoch fühlt.
Wenn metaphysische Ideen zum echten Glauben werden, kann sich der Süchtige vom Hedonismus lösen und sich einem lustlosen Sinn verschreiben, wobei allerdings der Lustgewinn auf ein Jenseits verschoben wird, sodass eigentlich nur die Hoffnung mit Lust verbunden bleibt. Bei den meisten ist Entsagung nur Aufschub; bei den wenigsten Erkenntnis und Überdruss am Leben, nachdem sie wie Buddha oder ein Hollywood-Star auch die Höhen des Lebens genossen und erlitten haben.
Je bewusster ich werde, umso klarer wird mir die Sucht danach, was das Leben auszeichnet, nämlich eine möglichst hohe Vitalität, durch welche erstens der häufige Lustvollzug immer noch zum Frieden führt, und durch welche zweitens ein Machtgefühl entsteht, welches uns nicht zur Passivität, nicht zum Leiden zwingt, sondern zur Tat und zu sinnvollen Projekten befähigt, an welchen wir messbar wachsen können. Freilich gibt es verschiedene Wege zur Vitalität. Während einige als Geschäftsmann, Sportler, Künstler und Lebe-Mensch aufblühen, wollen sich die meisten durch die Gründung einer Familie lebendiger fühlen. Und fast alle Intellektuellen müssen auf das verzichten, was der Lebemann verträgt, insofern sie erst in der gesunden Nüchternheit wirklich zuhause sind, weil sie dann viel besser lesen, diskutieren und schreiben können. Hier sind wir beim Ursprung aller individuellen Ethik: Erkenne dich selbst und werde, der du bist. Normalerweise wählt sich jeder ganz unbewusst die Moral, welche seiner vitalen Konstitution am verträglichsten ist. Doch es gibt auch verirrte Zaungäste, die immer wieder bei den Affen einbrechen und verzweifeln, wenn sie vertrieben werden, obgleich jene Affen den Vogel beneideten, falls er nur zufrieden mit seinesgleichen flöge.
Ich fasse zum ersten Kapitel zusammen: Bezieht sich eine Sucht auf die kurzfristige, so bezieht sich eine echte Moral auf die langfristige Optimierung der Vitalität. Je mehr sich die lebensbejahende Kraft verweigert, desto anfälliger werden die meisten für Süchte. Und nur mit einer (auf authentischen Werten beruhenden) Moral kann die Sucht überwunden oder kontrolliert werden. Es siegt jedoch immer das höhere Leben, das kurzfristig eine Sucht, doch längerfristig eine Moral verspricht. Je weniger Sinn gesehen wird, desto kurzfristiger wird die Lebensperspektive. Und Sinn muss individuell gefunden werden, wobei allgemein gesagt werden kann, dass sich ein Individuum harmonisch in ein Ganzes fügt, welches ihm gut erscheint.
2. Disco-Sucht
In der Disco oder im Nachtclub erscheint alles gesteigert, sodass sie meine Sucht geworden ist. Nur dort habe ich mich als Fisch im Wasser gefühlt, wo die Berührung lockt. Nur dort naht sich mein Harem-Traum, wo meine Bestform kurz glänzt, und ich mich gemeint fühle, bis die Magie wieder schwindet und ich vergraut scheinend aus dem Harem verbannt werde. Nur dort ist es mir wie im romantisierten Mutterleib gegangen, ganz aufgelöst im begehrten Weib zum Herzschlag der Musik, die uns Götter träumen lässt. Nur dort habe ich gejauchzt – ein Ausdruck höchsten Glücks im Sinne „Verweile doch, du bist so schön“ (Goethes Faust).
Entgegen jenen, die wissen, was sie wollen, wird dem Verzweifelten die Entsagung schwer, weil er keinen Sinn anpeilen kann, insofern ihm mehrere Möglichkeiten gleichstark aufleuchten, die aber widersprüchlich sind, oder insofern ihm nichts sinn- und lustvoll erscheint, was ihm möglich wäre. Diese Verzweiflung liegt weniger am Mangel des Verstandes, als vielmehr an innerer Widersprüchlichkeit, an verschiedenen Persönlichkeitsanteilen, am Gegengewicht oder an der Widerspenstigkeit des Unbewussten, vielleicht auch am Erbe – als ob Mutter und Vater zu verschieden gewesen wären, ohne sich zu ergänzen, sodass sich der Konflikt im Kind spiegelt. Der Verzweifelte krankt also am schwachen oder am unbeständigen Willen, der ja die Energie zur Tat bringen muss. Ohne Sinn gibt es keinen anderen Willen als den unmittelbar triebhaften, der nur die Lust sucht.
Wer gelegentlich Alkohol und Drogen konsumiert, ist sich des kurzen künstlichen Aufstiegs in sein helleres Dachgeschoss und des Sturzes in sein dunkles Kellergeschoss bewusst. Wer gesund, erholt und mit Erfolgserlebnissen aufgeladen ist, befreit durch Alkohol, Kokain und Ecstasy zuweilen sein Kapital, indem die Botenstoffe Dopamin, Serotonin, Oxytocin im Gehirn ausgeschüttet werden, sodass man viel anstrengungsloser auf seine Kompetenzen zurückgreifen und der (unbewusste) Wille erfolgreicher seine vitalen und erotischen Interessen vertritt. Es wird einem gemütlich, warm, leicht und vital zumute. Es gleicht einer chemischen Reaktion, als ob sich Atome zu Molekülen binden, wodurch eine Emergenz, ein höheres Bewusstsein, entsteht, unter welchem man sich automatisch mit anderen verbindet. Plötzlich wird ihm eine magische Anziehungskraft. Sobald inspiriert, muss nichts mehr bis nur wenig gelernt werden, was das Tanzen, die Kommunikation und manchmal das Küssen angeht. Ja, manchmal steht man neben sich, wobei der Autopilot viel erfolgreicher als der Beobachter zu sein scheint. Man erstaunt darüber, was einem das Unbewusste diktiert, ja darüber, welche tierische Instinktsicherheit hervorgebrochen ist.
Ein Maßstab für die erotische Anziehungskraft liegt im Grad der Anwesenheit, wozu neben dem Vitalitäts-Überschuss auch Sensibilität gehört, durch die sich potentielle Partner besser und tiefer gesehen fühlen. Man selber strahlt mehr Dasein aus, während dem anderen sein Dasein stärker gespiegelt wird. Doch in solcher Bestform lasse ich i. d. R. auch alle Gelegenheiten des besseren Kennenlernens vorüberziehen, da ich es nicht lange auf eine absehe. Im ekstatischen Zustand jauchze ich über die Tanzflächen, während ich eine Attraktion umrundend schon bei der nächsten bin. Da das früher oder später alle Frauen sehen, meinen sie, dass ich nur Spaß will, nichts Ernsteres suche, nicht mal für eine Nacht – bis ich zu vernebelt scheine und keine Frau mich mehr will. Oft habe ich erlebt, dass sich durch den Alkohol oder die Droge die Anwesenheit steigert, bis sie im Autopiloten wieder abnimmt, nämlich durch die Gier nach weiterer Steigerung, wenn manche immer wieder Ecstasy nachlegen, bis sie übertrieben drauf aussehen: verschwitzt, verpixelt und mit dem Kiefer malmend. Irgendwann werden sie nicht mehr ernst genommen, weil sie als ein von der Person abgekoppelter Autopilot wahrgenommen werden. Wenn zu viel nachgelegt und die ganze Nacht noch nebenbei Bier getrunken wird, treten außerdem Bewusstseinslücken auf, sodass vergessen wird, mit wem getanzt, gesprochen oder geküsst worden ist. Wahrscheinlich geschieht dieser Bewusstseinsverlust, sobald die letzte beobachtende Instanz betäubt worden ist, sodass der Autopilot mehr oder weniger instinktsicher sein (Un-)Wesen treibt. Im Extremfall bleibt also auch die schöne Erinnerung aus, wonach jedoch der Kater zur peinlichen Realität wird. Auf die Molekular-Metapher bezogen gleicht das High-Sein der Entstehung eines Moleküls und der Abstieg nicht nur dem Rückfall zum Atom, sondern zu seinen subatomaren Teilen. Zuerst steigt man um eine Stufe, bis man wieder um zwei Stufen fällt, um nach drei Tagen wieder auf seinem normalen Niveau zu sein.
Wer jedes Wochenende einmal hart feiert, verliert vielleicht seine halbe Lebenszeit für seine nüchterne Entwicklung. Wenn ich freitagnachts durchmache, bin ich samstags komatös, kann sonntags noch nicht gut lesen und fühle mich in Gesellschaft unsicher, was manchmal bis in den ersten Arbeitstag reicht. Insofern hätte ich von Dienstag bis Freitagabend dreieinhalb Tage mit normaler Energie. Diese Zeit wird dann für die Verwaltung meines Körpers und Berufes gebraucht. Wenn ich mit meiner Konstitution also jedes Wochenende dergestalt feiere, kann ich mich fast nur noch verwalten und wenig weiterentwickeln. Zudem werde ich häufiger krank und habe seit über einem Jahrzehnt chronische Magenprobleme. Es kommt auch vor, dass ich nach meinen Kater-Tagen nicht in die Normalform zurückkomme, sondern ein grippaler Infekt droht, welcher oftmals weder richtig kommt noch schnell verzieht, sondern auf der Schwelle steht, sodass ich mich nur als halber Mensch fühle, falls der Infekt nicht endlich durchbricht und ich mich krankschreiben muss.
Obwohl mir das Leben meistens nicht depressiv vorüberzieht, wird es mir nüchtern höchstens neutral, und nur im Rausch kurzzeitig lustvoll. Freilich sind es die Frauen, die mich freitagnachts in die Clubs gelockt haben. Es ist der Eros, der Harem-Traum, den ich für einige Stunden mir teuer erkauft habe. Doch in meiner nüchternen Form habe ich nur selten den Kontakt zu Frauen gefunden. Es ist weniger eine Schüchternheit, als dass die überschüssige Energie fehlt, durch welche das Flirten automatisch und lustvoll geschieht. Gewiss geht es den meisten Männern so, dass das Flirten eine Art Arbeit ist. Doch nach der Arbeit wollte ich nicht noch mehr arbeiten, abgesehen davon, dass ich mich selber kaum ausstehen kann, wenn ich zu trocken bin und mit abgehakter Stimme spreche. Im durchschnittlichen Zustand habe ich philosophische Freunde oder Bücher bevorzugt, um mich zu bilden und aufzuladen – doch wofür, wenn nicht im Sinne meiner vitalen Interessen?
Wenn ich mich aber gut fühle, geschieht die Extraversion automatisch. In guter Form flirte ich gerne in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit den Mädchen und Frauen. Dabei bleibe ich aber so in der Sehnsucht, wie Tucholsky in seinem Gedicht „Augen in der Großstadt“ (1930): Zwei fremde Augen, / Ein kurzer Blick / die Braue, Pupillen, die Lider – / Was war das? Vielleicht dein Lebensglück ... / Vorbei, verweht, nie wieder. Dann verliebe ich mich mehrmals am Tag, ohne allerdings eine zu ergreifen, höchstens als Gedicht.
Und nur in charmanter Bestform quillt mir der Mut über zum spielerischen Versuch, der vielleicht alle paar Jahre wenigstens zu einem Date geführt hat. Doch diese Form ist zu selten, als dass etwas darauf aufgebaut werden könnte – diese Form, welche ein Playboy tagtäglich erlebt. Immer habe ich die Stars und Erotiker bewundert, an deren Normalform nur meine seltene Bestform kommt. Ich meine immer noch, dass ich nur im vitalen Überschuss einer Frau etwas sein kann, die auch mir nur im vitalen Überschuss etwas sein kann. Im Überschuss werden i. d. R. Kinder gezeugt, während sie im Mangel wieder bereut werden. Da ich mein Glück immer von meiner Vitalität abhängig gemacht habe, ist es folgerichtig, keine Kinder in die Welt gesetzt zu haben, die ohne überschüssige Lebenskraft nur schlecht aufzuziehen wären.
Ich fasse zum zweiten Kapitel zusammen, dass mir meine Vitalität zeitlebens nicht erlaubt hat, im nüchternen Zustand eine befriedigende Lebenslust zu fühlen. Meine Schuldgefühle kommen insofern ins Spiel, als dass ich unsicher darüber bin, inwieweit der fehlende vitale Überschuss selbstverschuldet ist. Denn seit ich dreizehn bin, kenne ich Suchtprobleme. Und nie habe ich mich überwunden, mehr als drei Monate am Stück auf Alkohol zu verzichten, wenngleich ich wochentags i. d. R. nicht getrunken habe. Da ich andererseits ein wildes Kleinkind war, leider recht asozial, aber geschickt, sportlich, von schneller Auffassungsgabe, in der Grundschule fast nie krank, und meine Eltern ebenfalls vital waren, gehe ich davon aus, dass neben meiner kontrollierten Sucht psychosomatische Probleme auf meine Vitalität gewirkt haben.
3. Psychosomatik und Moral
Gewisser Weise reagieren wir alle mehr oder weniger psychosomatisch, insofern z. B. Ängste innerlich verkrampfen, die Pupillen verkleinern, den Mund austrocknen, sogar zu unangenehmen Geruch führen können, während die Liebe öffnet, die Pupillen vergrößert, den Speichelfluss versüßt und Duftstoffe löst. Mit Psychosomatikern meine ich Menschen, die ihre auch unbewussten seelischen Konflikte in körperliche Symptome übertragen, ohne dass der Arzt einen medizinischen Befund ausmachen könnte und ohne dass es immer akute Stresssituationen zu geben scheint. Zu den Symptomen gehören Migräne, Reizmagen, Reizdarm, Blasenschwäche, Erkältungsanfälligkeit, Erektionsstörungen, übertriebenes Schwitzen, Nervosität, vielleicht auch Blutarmut und vieles mehr. Glücklicherweise habe ich die Migräne fast nie gekannt.
Es scheint aber auch Leute zu geben, die trotz offensichtlicher psychischer Probleme nicht somatisch reagieren, als ob Körper und Seele zwei unabhängige Substanzen wären, welche nicht aufeinander wirkten. Denken wir dabei an einen psychopathischen Verbrecher, der körperlich kerngesund seine Macht missbraucht, wozu nicht nur manche Mafiosi, sondern auch große Politiker und Geschäftsmänner gezählt werden können.
Doch auch Hitler wurde zum Schluss nicht nur paranoider und ein nervöses Wrack, bevor er sich erschossen hatte, sondern auch körperlich schwer gezeichnet. Bis es jedoch dahin gekommen war, dauerte es mindestens ein Jahrzehnt, wogegen viele Psychosomatiker erst gar nicht so weit ins Verbrechen gelangen können, da ihre Körper schon lange vorher streiken. Eigentlich wird jeder durch einen moralischen Gewissenskonflikt gehemmt, der psychosomatisch wirkt, nur dass es eben möglich ist, das Gewissen umzukonditionieren. Der Hitlerjugend wurden die Hemmungen genommen, indem sozialdarwinistische Werte trotz unzähliger Morde zu einem guten Gewissen führen konnten. Vom Militär ist das moralisch-psychosomatische Prinzip immer ausgenutzt worden, damit der Krieger stärker wird, als je böser der vermeintliche Feind dargestellt worden ist. Moral ist zwar etwas Geistig-bewusst-Reflektiertes, dringt aber sehr stark in die unbewusste Psyche ein, welche wiederum somatische Kräfte hemmt oder freisetzt.
Da nun der Psychosomatiker in seiner Vitalität gehemmt ist, scheint er mehr Opfer als Täter zu sein. Es gibt jedoch eine Täter-Opfer-Dialektik, die über meine psychologische Selbstwahrnehmung und meine soziale Beobachtung hinaus in eine Metaphysik führt, wonach der Täter zum Opfer und oftmals das Opfer zum Täter wird. Demnach wird der vitale Verbrecher zeitverschoben zum psychosomatischen Opfer, sobald sich das humane Gewissen als vitale Hemmung verkörpert. Obwohl dieses humane Gewissen unterdrückt und wegrationalisiert werden kann, bahnt es sich früher oder später seinen Weg an die Oberfläche. Und wer es nicht hört, muss es im Körper fühlen. Der Körper spricht mehr Wahrheit als der Intellekt.
Denn der Intellekt ist seiner Natur nach sophistisch, weil die Vernunft alle großen Fragen antinomisch beantwortet (vgl. Kant): von theistischen, über deistische, zu atheistischen, bis hin zu nihilistischen Thesen. Wenn beispielsweise Gott mit der reinen Vernunft sowohl bewiesen als auch widerlegt werden kann, so entsteht eine logische Patt-Situation, woraus uns weder der wissenschaftliche Empirismus noch unser gesunde Menschenverstand führen kann, weil Begriffe wie Gott, Seele und Freiheit auf Unsichtbares, auf Unmessbares, auf Metaphysisches verweisen. Insofern sich die Vernunft nur auf die Welt bezieht, werden also auch nihilistische und nicht humane Moralen plausibel, wo der Einzelne kein Selbstzweck, sondern nur in Bezug auf ein Ganzes oder ein Mächtigeres gebraucht oder missbraucht werden kann.
Dass es dennoch ein universelles humanes Gewissen gebe, versuche ich zu begründen. Der Ansatzpunkt scheint mir im Leiden zu liegen: am meisten in sinnlosen Schmerzen und in der Angst. Wenngleich sich der Nihilist viele körperliche Schmerzen betäuben und viele Ängste wegphilosophieren kann, bleibt doch die Angst, schwächer zu werden; die Angst, ohnmächtiger zu werden; die Angst, ein Opfer zu werden. Es bleibt dem vitalen Verbrecher die Angst vor Leiden, die sich ja gerade dadurch zeigt, dass er das Nullsummenspiel der Täter-Opfer-Dialektik ausnutzt, indem er sich Opfer schafft, wodurch er Täter wird, also vorerst leidlos bleibt. – In der deutschen Grammatik wird auch das Passiv nicht zufällig als Leideform bezeichnet. Man leidet, wenn etwas unfreiwillig mit einem geschieht. Das Opfer wird vom Täter geschlagen. (Passiv) Der Täter schlägt das Opfer. (Aktiv) Da nun jedes Extrem mit seinem Gegenteil verbunden ist, muss auch der Täter immer fürchten, ein Opfer zu werden. Es bleibt in jedem Fall eine latente Angst vorm Leiden. Das ist der Anknüpfpunkt an die Humanität, den der harte Verbrecher aber abzutrennen versucht.
Wenn ich die Vernunft an meinen Schmerzen und Ängsten ansetze, komme ich automatisch zur Goldenen Regel, wobei ich andere so behandele, wie ich behandelt werden will – damit auch sie mich so behandeln, sobald ich zu schwach bin, um es notfalls mit Gewalt einzufordern. Am eigenen Leiden ansetzend kommt die Vernunft zur Gerechtigkeit und Humanität, während davon abgekoppelt das zur Humanität führende Mitgefühl verloren geht.
Zunächst scheint mir der vitale Verbrecher für seine skrupellosen Taten sogar mehr Kraft zu haben. Falls er den Schmerzen und Ängsten dauerhaft entgehen könnte, drängte sich ihm kein Gewissen mit den Anforderungen der Gerechtigkeit und Humanität auf. Davon zeugt der unempfindliche Psychopath, solange er keine Schmerzen und Ängste kennt. Es wird immer eine Gruppe geben, die sich zu den Starken zählt: die zwar auch Angst vor Leiden hat, doch deren Moral gerade darin besteht, keinen Schmerzen und Ängsten, außer eben dem Opfersein, auszuweichen, und die gerade auch nicht psychosomatisch gehemmt wird, weil sie jede Humanität vernichtet hat.
Doch keiner scheint das sehr lange durchzuhalten, weshalb zu ihrer Moral auch gehört, im Kampfe zu sterben, bevor sie schwächer und zum Opfer derer würden, die als Gleichgesinnte nachwachsen wie die Herausforderer im Löwenrudel. Als Opfer müssten sie leiden, wodurch ihnen Mitleid droht, das sie doch noch zu einer humanen Moral zwingen könnte.
Solange aber das Täter-Leben gelingt, ist es ein Leben für die Macht, wobei die Liebe verloren geht (oder mindestens zweitrangig wird), welche doch in den meisten Fällen durch die Macht erstrebt worden war. Der große psychopathische Gangster verkehrt mit seinesgleichen, wo niemandem vertraut wird. Aber Vertrauen ist eine wichtige Bedingung der Liebe. Und ohne Liebe und Freundschaft scheint es kein erfülltes Leben zu geben. In dieser Liga gilt Machiavellis Satz, dass es besser sei, gefürchtet als geliebt zu werden. Wenngleich sich der Gefürchtete auch die Liebe wünscht, bleibt er konsequent in seiner Macht-Ethik, worin er auch groß zugrunde gehen kann.
Freilich haben mafiöse Familien-Clans auch eine Moral, die sich an ihrer Hierarchie ausrichtet, wobei in der Hoffnung auf Aufstieg gewissermaßen mit Liebe gelockt wird. Je gehorsamer, mutiger und erfolgreicher die Befehle ausgeführt worden sind, desto schneller steigt jemand auf, insofern er zur Familie gehört. Neben dem strengen Gehorsam nach oben gibt es den Schweige-Kodex. Die Mafia-Struktur stärkt, insofern der Einzelne jederzeit mit dem Selbstbewusstsein seiner gesamten Familie unterwegs ist. Die Mafia-Struktur bindet aber zeitlebens, insofern der Austritt i. d. R. mit dem Tod bezahlt wird. Dafür braucht sich der mafiöse Greis keine Sorgen machen, wenn er schwächer wird, da ihm die Familie einen anderen Platz sichert, vielleicht sogar an der Spitze, wo er die volle Macht hat. Es wird also deutlich, dass der Mafiosi doch nicht so selbstverständlich zur humanen Moral gezwungen wird, wie es dem einzelgängerischen Verbrecher passieren könnte, sobald er durchs Krank- und Älterwerden dem Leiden zugänglicher wird. Und Leiden ist ja der Anknüpfpunkt zu Gerechtigkeit und Humanität.
Es scheint also ein universelles humanes Gewissen zu geben, das der vitale Verbrecher unterdrückt und wegrationalisiert. Wo es dennoch durchbricht, wird es bis auf den eigenen Tod bekämpft – falls er nicht doch noch zur Humanität konvertiert, was heikel ist, da er sein gesamtes Leben als verfehlt zugeben müsste und statt der Vortrefflichste nun der Schlechteste wäre.
Ich komme zum Psychosomatiker zurück, dessen Leiden uns ungerecht erscheint, insofern er sich entweder nicht an seine früheren Untaten erinnert, die nun als körperliche Symptome auf ihn zurückprallen, oder insofern er selber kein Täter, sondern Opfer eines Machtmissbrauchs gewesen ist (was hier aber kein Thema sein soll). Bei schlimmen Traumata braucht der Psychosomatiker psychologische Hilfe, bevor ihm die Moral helfen könnte, worum es in diesem Versuch eigentlich geht.
Einige Psychosomatiker scheinen unverdient im Leben gehemmt zu werden, indem sie nicht machen können, was sie wollen, da ihnen die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung zieht. Ohne meine Erkältungsanfälligkeit und ohne den Reizmagen wäre ich anders ins Leben gestartet – vielleicht sogar verbrecherisch, da ich schon vor der Pubertät in meiner Pflegefamilie einen Hang dazu fühlte. Nun konnte ich kaum ein Gangster oder Playboy werden, da ich immer wieder aus dem vollen Leben herausgerissen zur Reflexion gezwungen worden bin. Wahrscheinlich hätte ich auch nie einen Aphorismus, einen Essay oder ein Gedicht geschrieben, wenn ich mich reibungslos vital gefühlt hätte.
Doch wonach richtet sich das mysteriöse psychosomatische Prinzip, das tief ins Unbewusste gehende Gewissen? Warum will es gerade mich zum Guten führen, während ein vitaler Verbrecher langfristig ins Verderben stürzt? Und was soll dieses Gute letztlich sein, wenn es nicht doch wieder ins vitale Leben führt? Gibt es überhaupt etwas Gutes, das nicht mit dem Leben verknüpft ist? Ist mein Psychosomatismus so etwas wie eine Emergenz meiner gesamten, auch familiären, Konditionierung? Und soll ich auf meine Bestimmung gelenkt werden, die vielleicht nicht von Gott, sondern durch meine vorherrschenden Möglichkeiten geprägt sind? Aber warum bin ich nicht ohne psychosomatische Hemmungen darauf gekommen, dass ich vielleicht Lehrer, vielleicht ein kleiner Schriftsteller werden sollte, oder dass ich vielleicht einen Fluch beenden sollte? Jedenfalls schreibe ich gerade nur, weil ich wieder erkältet bin, sodass alle anderen vitalen Projekte unmöglich geworden sind wie Arbeiten gehen, Sport treiben, heiße Partys oder Partnersuche. Und würden die psychosomatischen Hemmungen wegfallen, falls ich meine passende Ethik finde? Warum will ich etwas so stark, was ich anscheinend nicht soll? Warum sollen der Verbrecher und Playboy nicht auch etwas anderes, solange sie jedenfalls keine vitalen Hemmungen fühlen?
Ich komme zum vorläufigen Schluss, dass die Schwäche des Psychosomatikers auch seine Stärke werden kann. Denn er wird für eine universelle Moral4 sensibilisiert, wobei ihm sein ganzer Körper sagt, ob er im Recht ist, indem Vitalität gehemmt oder freigesetzt wird. Sein Reizmagen zwingt ihn schon lange, möglichst keinen Alkohol zu trinken, was an Wochenenden nur mit dem Medikament Pantoprazol ignoriert werden konnte, woraus allerdings im Zeitraum von über einem Jahrzehnt andere Nebenwirkungen gedroht haben. Die Ignoranz verstärkt neben den chemisch induzierten Hemmungen die psychosomatischen, während die Alkohol-Monatspausen (in einer solchen bin ich gerade) meinen Zustand verbessern.
Es sucht der Psychosomatiker die Wahrheit, um Heilung zu finden, sodass er auch die Verlogenheit hasst, selbst wenn sie gutgemeint ist, um niemanden zu verletzen. Um Heilung zu finden, ist er sein schlimmster Kritiker. Nur wenige können ihn kritisierend verletzen, weil er immer sein schlimmster Kritiker gewesen ist. Meine moralischen Imperative sind zum Teil nur medizinischer Natur: Was heilt, ist wahr und gut; was hohe Vitalität bringt, ist besser; was sie lange instand hält, ist am besten.
Ob jedoch die Moral in jedem Fall an Humanität und Gerechtigkeit gebunden sein muss, bleibt fraglich, obwohl ich das gerne bejahen würde. Ich fasse meine oben begründete Vermutung zusammen, dass der vitale Verbrecher gerade durch die Entmenschlichung stärker wird, weil ihn das humane Gewissen nicht mehr abbremst. Doch falls er im Streit mit seinen Widersachern nicht schon beizeiten stirbt, holt in das humane Gewissen zeitversetzt ein und hemmt ihn psychosomatisch. Wer aber sein Mitgefühl nicht töten und auch kein Nihilist sein kann, benötigt das universelle Moralprinzip (Gerechtigkeit und Mitgefühl). Erst wenn es nicht mehr nur zum äußeren Schein aufgesetzt wird, sondern intrinsisch die Psyche bewegt, hemmt oder stärkt es, je nachdem ob wir es missachten oder ihm folgen. Das ist das psychosomatische Potential intrinsischer Moral, wovon jedenfalls der Psychosomatiker profitieren kann.
4. Sich bester Freund werden
Da nun so wenig Verlass auf Freunde, Partner und selbst die Familie ist, wird mir die Frage immer dringender, wie ich mein bester Freund werde. Zwar komme ich nicht ganz alleine, sondern mit und durch die Mutter zur Welt, doch gehe ich sicher alleine. Obwohl sich alles verändert, muss ich mich dauernd selber aushalten. Wenn ich mich nicht ertrage, können mich andere erst recht nicht ertragen. Ertragen kann ich mich nicht, wenn ich mein Potential verschwende, wenn ich mich selbst sabotiere: „Das Traurigste ist ein verschwendetes Talent.“ (Film-Zitat aus Robert De Niros In den Straßen der Bronx) Verbessern kann sich mein Selbstverhältnis, wo ich aus Fehlern lerne, Wiederholungsfehler meide oder sie wenigstens minimiere. Wer aus Fehlern nicht lernt, scheint dumm, schwach, süchtig oder unheilbar verderbt zu sein.
Oben wurde schon die Disco-Sucht beschrieben. Falls sie weiterhin fast jedes Wochenende betrieben wird, halte ich mich nur noch instand, ohne mich weiterzuentwickeln, falls ich nicht sogar ernstlich krank werde. Wenn es aber kein Wachstum mehr gibt, lohnt sich mein Leben nicht mehr, wie ich in meinem Versuch „Warum ich noch keinen Mut zum Suizid habe“ (2024) ausgeführt habe. Wie kann ich mir bester Freund werden, der ich neben einem Sinn auch Lust und Wachstum suche.
Mein ganzer Versuch läuft auf eine individuelle Moral hinaus, die intrinsisch ist und mich psychosomatisch heilt, durch welche meine Widersprüche in Harmonie gebracht werden, sodass ich auch nach außen hin heilen kann. Diese Moral muss human5 und in sich konsistent sein, mich dort abholen, wo ich bin und zu einem konkreten Zwischenziel führen. Keinesfalls darf Moral nur jenseitsorientiert sein, da dieser Horizont spekulativ und widersprüchlich ist.
Sinn und Ziel meiner Moral bestehen in einem dauerhaften Frieden, der in der höchsten Freundschaft mit mir selbst konkretisiert wird. Um diese Selbst-Freundschaft zu erlangen, müssen perfektionistische Ansprüche mit der z. T. mangelhaften Realität abgestimmt werden. Ganz instinktiv habe ich immer nur mit mir befreundet sein können, wenn ich in guter Form gewesen bin. Feind bin ich mir gewesen, sobald sich von meinen Möglichkeiten eine schlechte, unangenehme verwirklicht hat. Symptome sind i. d. R. alle vitalen Hemmungen wie Müdigkeit, Erschöpfung, Kränklichkeit (Erkältung, Magen), Depression, Nervosität. In solchen Zuständen verliert sich die Schönheit um mehrere Stufen wie stark verwaschene Marken-Kleidung. Hier konfligieren also die Werte Schönheit und Freundschaft, insofern ich mich nur gemocht habe, wenn ich relativ schön gewesen bin (nicht nur äußerlich, obgleich alles nach außen strahlen muss, worauf später eingegangen wird).
In meinem Bekenntnis „Warum ich noch keinen Mut zum Suizid habe“ wurde das Schöne als mein höchster Wert gesetzt, dem alle anderen Werte untergeordnet worden sind. Die Problematik wird in August von Platens Gedicht „Tristan“ verdeutlicht:
Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,
ist dem Tode schon anheimgegeben,
wird für keinen Dienst auf Erden taugen, […]
Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe,
denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,
zu genügen einem solchen Triebe […].
Je stärker ich am Schönen anhafte, desto mehr leide ich, weil es erstens sehr selten, zweitens für die meisten unerreichbar und drittens vergänglich ist. Um an der Unverfügbarkeit des Schönen weniger zu leiden, hilft nur der Gleichmut gegenüber seinen wechselnden Zuständen. Daher plädieren die großen Moralisten des 18. und 19. Jh.s zum Übergang von einer ästhetischen zur ethischen Lebensweise: beispielsweise vom Heiden- zum Christentum (Kiergegaard) oder auch vom Christentum zum Kategorischen Imperativ (Kant).
Solange ich aber noch ein Ästhet bin, kann ich mir keine Moral überstülpen, welche meine wahren Werte missachtet. Denn dann würde meine Moral nicht intrinsisch sein und statt mich psychosomatisch zu stärken, würde sie mich psychosomatisch hemmen – also zu meinem Ausgangspunkt bringen, von dem ich ja weg will. Darum darf ich mir nichts vormachen, muss die peinliche Lage verorten und mich bei meiner Sehnsucht nach dem Schönen abholen. Meine Moral muss also an die Schönheit geknüpft bleiben, darf aber die Selbst-Freundschaft nicht im unbedingten Sinne von der Schönheit abhängig machen. Vielmehr bin ich mir solange Freund, wie ich meiner Moral folge, die darin besteht, möglichst das Schöne an mir und um mich herum zu kultivieren.
Allerdings wird das Schöne von seiner oberflächlichen Architektur durch höhere Gewalt verdrängt. Um wesentlich gerettet zu werden, muss es zu seiner moralischen Ursache zurückgeführt werden, nämlich zur Gerechtigkeit und zur Liebe.6 So könnte auch ein kränklicher Greis noch zur Ausstrahlung von Anmut (Schönheit in der Bewegung) und Würde (moralischer Verlässlichkeit trotz widriger Umstände) gelangen. Insofern ist mein Schönheits-Begriff an Platon orientiert, den Hegel folgendermaßen zugespitzt hat: Das Schöne ist der sinnliche Schein des Guten.
Die Übung im Schönen beginnt mit banalen Alltagshandlungen: Selbst wenn ich keinen Gast bewirte, richte ich mir meinen Salat sauber und symmetrisch an, wobei die Cherrytomaten nicht den Käse verdrängen und die Walnüsse nicht die Tomaten verschmieren. Jede Zutat verdient meine Achtung als Selbstzweck, sodass der Salat als kleines Kunstwerk schön und appetitlich aussieht. Selbst wenn ich keinen schlafenden Mitbewohner störe, poltere ich bei der Hausarbeit nicht herum, wobei ich alles sauber und ordentlich halte, um keine Zeit zu verlieren, irgendein Ding nächstens wieder zu finden. Jede Form des Vollkommenen erscheint uns als schön. Jeder Meister, der sein Handwerk liebt, schafft Schönes, womit er sich und andere beglückt.7
Man kann aus Erschöpfung heraus dahin gelangen, keine falsche Bewegung zu machen, aber auch aus vitalem Überschuss, wo jedem Schritt, jedem Atemzug eine harmonische Qualität eingehaucht wird. Die Größten Sportler und Künstler zeigen uns diese Schönheit in Bewegung (Anmut), wenn sie statt, zu arbeiten, zu spielen scheinen. Ähnlich ist es mit weisen Meditations-Meistern, die ihr Moralprinzip in Tugenden verkörpern, sodass keine angespannte Pflicht, sondern Harmonie ausgestrahlt wird, während sie gerecht und mitfühlend handeln.
Eine ästhetische Ethik ist voraussetzungsreich, fast etwas für Götter, die im ewigen Flow leben, sodass sie entmutigen könnte, insofern man sich zu weit davon entfernt sieht, etwas Schönes zu schaffen. Dennoch erscheint uns im Schönen ein Bild, dass den Fan motiviert, überhaupt eine Kunst zu beginnen. Dennoch erscheint uns im Schönen ein Bild, sich überhaupt erst für Moral zu interessieren, wenn er sieht, dass sie zur Tugend führen kann, zur Integration ins Wesen, zur Anmut und Würde (zu den Nebenbegriffen der Schönheit). Das Schöne ist der sinnliche Schein des Guten.
Demnach sind Moral und Ästhetik nur zwei Seiten einer Medaille und es spielt keine Rolle, von welcher Seite man sich der anderen nähert. Der Ästhet sollte natürlich an seinem Interesse ansetzen, den Bedingungen des Schönen, weil sonst die Antriebskraft fehlt. Während also der Moralist bestenfalls von seiner (geistigen) Moral zur (sinnlichen) Schönheit kommt, so gelangt der Ästhet vom (sinnlich) Schönen zur (geistigen) Moral.
Nur wenn ich an Schönheit verloren habe, weil ich deren Bedingungen missachtet habe, ist es richtig, mir solange Feind zu sein, bis ich wieder moralisch handele (d. h. die Bedingungen des Schönen kultiviere). Jeder wahre Moralist ist sich solange Freund, wie er seiner Moral treu bleibt und wird sich kurzzeitig Feind, wo er sie verletzt, bis er bereut hat und wieder moralisch ist. Das ist ein psychologisches Gesetz, welches nicht oft genug betont werden kann.
Wer keine Moral ernst nimmt, wird zwar nicht psychosomatisch gehemmt, wenn er gegen sie handelt, doch dafür auch nicht psychosomatisch gestärkt, wenn er ihr treu bleibt. Und versuchte ich auf jede Moral zu verzichten, bliebe ich gesundheitlich gehemmt, weil ich ein Psychosomatiker bin. Und ein Psychosomatiker bin ich, damit ich gezwungen werde, eine Moral zu finden, die mich dergestalt konditioniert, dass ich ganzheitliche Heilung finde. (Meine vorläufige Hoffnung.) Da also die Moral meine einzige Chance ist, statt vital gehemmt zu bleiben, vital gestärkt zu werden, so ist die Suche nach einer individuellen Moral vorerst das wichtigste Anliegen meines Lebens.
Ich fasse zusammen. Um Frieden zu finden, muss ich mir bester Freund werden. Freund kann ich mir nur sein, wo mich meine Taten möglichst schön machen. Und nur im Zustand der Schönheit kann ich etwas Gutes nach außen geben (weil keiner das Hässliche, sondern möglichst das Schöne will). Schön ist neben der angeborenen Gestalt (für die man direkt nichts kann) alles Meisterhafte. Und nur die Übung macht den Meister. Der Konflikt entsteht im Willen zum Rausch, der mir ein hohes Leben gibt, aber langfristig das gesunde Leben raubt, welches ich brauche, um durch nüchterne Übung etwas zu meistern – was möglichst schön macht, wodurch ich mein bester Freund sein kann und Frieden finde. Ich übe mich nach dem moralischen Imperativ: Handle so, dass du dir bester Freund sein kannst, wobei sich alle Handlungen an äußerer und innerer Schönheit orientieren.
5. Implikationen und Konflikte
Konkret heißt das für mich, an meiner Gesundheit anzusetzen, wobei ich meinen Alkohol- und gelegentlichen Drogenkonsum noch konsequenter einschränken muss, d. h. Gelübde (moralische Versprechen) zu nehmen, wann ich wie viel konsumieren und wann ich mich nüchtern zu disziplinieren habe. Ich gelobe also, nur noch einmal monatlich über einen Bierabend8 hinaus und mit maximal zwei Ecstacy-Pillen eine Nacht durchfeiern zu dürfen (was nur in längeren Ferien jeden Freitag erlaubt ist).
Wenn ich im Rahmen meiner Gelübde verkatert bin und an Schönheit verloren habe, kann ich mir trotzdem Freund bleiben und psychischen Frieden finden, weil ich nicht gegen meine moralischen Versprechen gehandelt habe. Wo ich das moralische Gelübde breche, bin ich mir Feind, bis die Verkaterung abgeklungen ist und ich der nächsten Versuchung widerstanden habe.
Wenn der Exzess nur noch einmal monatlich stattfindet, wiegt eine dreitägige Vitalitätseinbuße nicht so schwer, während der wöchentliche Exzess das halbe Leben ruiniert hat. Je nach gesundheitlicher Verfassung werden die Gelübde angepasst, wobei der Exzess von einmal monatlich, über nur noch in den Ferien, bis hin zu keinem Exzess mehr angepasst werden könnte. In der zunehmend nüchternen Zeit soll sich meine Vitalität auf heilsame Aktivitäten konzentrieren, bis ich meine vitalen Interessen (fast) ohne Rauschmittel befrieden kann.
Eine abrupte Entsagung des Rausches funktioniert jedoch nicht, weil ich keinen lustlosen Sinn betreiben will (wie bis zum zweiten Kapitel beschrieben). Erst wenn sich die nüchterne Lebenslust als meine Normalform einstellt, kann ich den chemisch induzierten Rausch aufgeben.
Ich vertrete eine ästhetische und individualistische Ethik. Es handelt sich keineswegs um einen kategorischen, sondern um einen hypothetischen Imperativ, wenn es heißt: Handle so, dass du dir bester Freund sein kannst. Freilich ist dieser Satz nicht verallgemeinerbar wie eine kollektive Ethik, durch welche eine Gesellschaft reibungslos funktionieren soll. Denn jeder ist sich unter anderen Bedingungen Freund, manche sogar bedingungslos, wogegen ich nur mit mir befreundet sein kann, wenn ich die Bedingungen des Schönen in mir und um mich schaffe. Das heißt natürlich nicht, dass ich im sozialen Vergleich danach strebe, ein Adonis zu werden (was auch gar nicht möglich wäre, wenn man es nicht ist und eine Altersgrenze überschritten hat) oder dass ich nur Topmodels verehre. Primär setze ich den Maßstab des Schönen nicht inter-individuell, sondern intra-individuell an, wo es um die mir mögliche Vollkommenheit, um das mir mögliche Schöne geht – was vielleicht manchmal noch fast hässlich sein kann, aber vom Hässlichen in die Richtung des Schönen geht.
Es steht außer Frage, dass der platonische Schönheitsbegriff anfällig für Missbrauch gewesen ist, wogegen sich das Christentum und später Kant gewährt haben, indem das (moralisch) Gute aus dem Zusammenhang mit dem (ästhetisch) Schönen gelöst worden ist. Ein Missbrauch könnte darin bestehen, dass alle Menschen, die den konventionellen Schönheitskriterien keineswegs mehr entsprechen, als tendenziell schlechtere Menschen behandelt werden. Gewiss passiert das auch überall ein wenig automatisch, wogegen eben keine ästhetische, sondern nur eine rigorose Moral helfen könnte. Andererseits könnte die intuitive Bevorteilung alles Schönen auf eine geheimnisvolle Wahrheit deuten: „Es sind Gewalten wie die Schönheit, denen man nicht näher kommen kann, ohne zu empfinden, dass sie höherer Art sind.“9 Doch solche Ahnungen werden wegen ihrer Nebenwirkungen durch eine moralische Kultur zu verdrängen versucht, woraus eine Politische Korrektheit folgt, die allerdings selten über bloße Lippenbekenntnisse hinausgeht.
Die gesellschaftlichen Vor- und Nachteile einer ästhetischen Ethik sollen hier nicht weiter erörtert werden, zumal mein Ansatz individualistisch ist. Mein Ansatz ist deshalb individualistisch, weil ich nach dem Studium ideengeschichtlicher Ethiken eine Lösung suche, die für mich funktioniert. Und funktionieren kann nichts, woran nicht der echte Wille beteiligt ist. Wer sich eben nur vom Schönen dazu bewegen lässt, das moralisch Gute zu tun, damit zum Schönen gelangt werde, muss wohl diesen Weg versuchen. Denn „überhaupt […] lernt man nur von dem, den man liebt.“10
Die folgenden drei Begriffe Schönheit, Freundschaft und Frieden geben das zentrale Bedingungsverhältnis meiner Individual-Ethik ab. Zusätzlich folgen drei implizite Werte: Gesundheit, Vitalität und die erotische Liebe.
1. Gesundheit > 2. Vitalität > 3. Schönheit > 4. erotische Liebe > 5. Selbst-Freundschaft > 6. Frieden
Von links nach rechts führe ich nur die notwendigen, nicht die hinreichenden Bedingungen an.11 Ich meine auch keinen rein logischen Begriffszusammenhang, sondern einen assoziativ logischen, wonach meine persönliche Wertewirklichkeit abgebildet wird (insofern ich mich richtig einschätze). Zu untergeordneten Werten werden alle Werte, die mich zur Freundschaft mit mir selbst führen, deren Folge Frieden sei. Obwohl eigentlich der Friede mein letzter Wert ist, zentriert meine Ethik die Selbst-Freundschaft, die ich mir durch die Kultivierung des Schönen verdiene. Im Selbstbezug bin ich am autonomsten. Denn zur erotischen Liebe gehört ein anderer Mensch und zur Schönheit und Vitalität gehören Gesundheit.
Ein Wertekonflikt besteht darin, dass ich einerseits Frieden suche und andererseits das Gegenteil, wenn ich auf Vitalitäts-Überschuss und die erotische Liebe aus bin. Zwar gibt es ohne die gesteigerte Lebenskraft kein vortreffliches Leben. Doch äußert sich der Überschuss oft destruktiv, falls sich der vitale Mensch nicht darin zügelt, sich zu nehmen, was er will und könnte. Dem Geschwächten ist es selbstverständlich, gerecht zu sein, weil er davon profitiert, seinen Teil zu erhalten, den ihm ein Stärkerer sofort wegnehmen könnte. Zur Tugend wird die Gerechtigkeit erst für den Starken, der sich überall viel nehmen könnte, schon dort, wo das Strafgesetz noch nicht greift. Ist er zudem ein Charmeur, wird er überall bevorzugt: Er muss an der Bar nicht lange warten, wird von attraktiven Frauen umschwärmt, wird in verschiedene Kreise eingeladen, kann hier und da noch ein heimliches kleines Geschäftchen machen, kurz: Er wird überall verführt. Die daraus entstehenden Verstrickungen rauben ihm den Schlaf der Gerechten, also den Frieden. Insofern konfligiert der Frieden mit der hohen Vitalität, aus welcher viele erotische Abenteuer möglich werden, die nicht ohne Nebenwirkungen bleiben können.
Allerdings kann ich nicht im buddhistischen Sinne ein Nirwana (höchster Frieden, Erlöschung von Leid) anpeilen, ohne gelebt zu haben, da ich meine weltlichen Interessen nicht ignorieren kann. Für den höchsten Frieden bin ich noch nicht bereit, solange ich einen vitalen und erotischen Nachholbedarf verspüre. Es scheint mir keinen Frieden vor dem Leben, sondern nur durch und über das Leben hinaus zu geben.
6. Schluss
Ob dieser Versuch nur intellektuelle Masturbation sei, werde ich Ende des Jahres 2025 prüfen, zunächst daran, ob ich meine Versprechen zum Alkoholverhalten an den Wochenenden eingehalten habe, zweitens, ob ich meinen Führerschein in der Tasche habe, für den ich mich diesen Monat angemeldet habe und drittens, ob sich die Gesamtgesundheit verbessert hat, woraus vielleicht schon sinn- und lustvolle Projekte entsprungen sind, vielleicht auch eine Freundin.
Da ich ein Egoist bin, muss ich das Beste draus machen, mir in meiner Einsamkeit bester Freund zu werden. Aber der egoistische Fokus auf meine Selbst-Freundschaft impliziert die Kommunikation mit den anderen. Denn eine selbstverschuldete Unfähigkeit, um mich herum möglichst Schönes zu kultivieren und zu teilen, lässt mich mir Feind sein. Je mehr ich also positiv nach außen wirke, desto befreundeter werde ich mir. Und wir haben verstanden, dass das Schöne nicht nur durch Vitalität, sondern durch die Ausübung von Gerechtigkeit und Liebe vorbereitet wird.
Wie ein indischer Tuk-Tuk-Fahrer will ich mich von niemandem ärgern lassen, der seine Verkehrsregeln missachtet, solange ich nur die meinigen halte und solange mich niemand streift. Sollte mich allerdings jemand böswillig streifen, weiß ich mich aus der Ruhe heraus doppelt so stark zu wehren, da das psychosomatische Prinzip auf meiner Seite ist, solange ich meine Ethik befolge. Statt die ganze Welt mit Leder auslegen zu wollen12, was unmöglich ist, ziehe ich mir gute Leder-Schuhe an, womit vom Zwecke her das Gleiche geleistet wird.
Wer seine Ethik aufrichtig beim Egoismus beginnt, könnte vielleicht sogar zum Altruismus gelangen, insofern erfahren wird, dass die Investition in andere die beste Investition in sich selber ist, gesetzt dass wirkliches Interesse und Liebe im Spiel sind, damit die Schuld nicht umso größer wird. Der umgekehrte Weg gibt sich edel, ist aber meistens verlogen. Wer gleich bei den anderen beginnt und seine wahren Werte, Interessen und Neigungen verleugnet; wer sich altruistisch gibt, ohne es zu sein, verschleiert die wahren Verhältnisse, der baut Labyrinthe, worin er sich und die andere täuscht. Und diese Verlogenheit führt früher oder später wieder zu psychosomatischen Hemmungen, denen ich in diesem Versuch auf die schliche gekommen bin.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich mit der Zeit meinen Fokus vom Ästhetischen (Schönheit) doch noch auf das rein Moralische (Gerechtigkeit, Humanität) verschiebe, nämlich falls ich aus vitalen Gründen kaum noch die Möglichkeit habe, überhaupt etwas Schönes herzustellen. Zwar ist es viel angenehmer, aus dem vitalen Überschuss heraus keine falsche Bewegung zu machen, was gleichbedeutend damit ist, das Schöne zu schaffen, welches das Gute impliziert. Doch sobald wir früher oder später in die Not kommen, ist das Schöne ein Luxus, den sich die wenigsten noch leisten können, sodass unsere letzte Hoffnung in der Ausübung reiner Moral besteht, worin das Schöne nur noch indirekt angegangen wird. Nun ginge es nicht mehr darum, den Salatteller schön anzurichten, sondern nur noch darum, überhaupt etwas auf dem Teller zu haben. Das ist keineswegs erstrebenswert, jedoch als zweitbeste Möglichkeit nicht ausgeschlossen, um sich vor dem Tod mit seinem Gewissen zu versöhnen.
Ich komme zum Schluss, dass mich die Ethik niemals interessiert hat, bis ich geahnt habe, dass sie eine geheimnisvolle Vitalitäts-Quelle birgt, falls sie individuell richtig ermittelt, konsequent befolgt und mit der Zeit angepasst wird. Nicht nur weil die Moral eine ungesunde Lebensweise minimiert, sondern auch wegen ihres psychosomatischen Potential soll sie die Quelle meines nun besseren Lebens werden, auf dass ich vorm Tode nicht bereue, falsch gelebt zu haben.
1Die Begriffe Energie und Vitalität werden synonym gebraucht, nur dass der Fokus leicht verschoben ist: Vitalität ist Lebenskraft, während bei Energie das Definitorische „etwas ins Werk setzen können“ mitgedacht wird.
2Wenngleich es viele Einteilungen gibt, habe ich mir aus meinem Studium noch folgende gemerkt: Dabei stütze ich mich auf Whiteheads allgemeine Definition, dass Ethik die Untersuchung dessen ist, was moralisch gut sei. Ethik ist auch die Lehre von den Werten, während Moral die Lehre von den Normen ist. Der höchste ethische Wert kann auch Sinn genannt werden, insofern er die Frage nach dem WOZU? beantwortet. Während sich eine Ethik im Vergleich mit anderen Ethiken herausbildet, verabsolutiert sich jede Moral, indem etwa die Goldene Regel, der Kategorische Imperativ oder ein Utilitarismus-Prinzip formuliert wird. Unter diese allgemeine moralische Regel werden Handlungsnormen konkretisiert. Tugenden sind seit Aristoteles’ Nikomachischer Ethik durch Reflexion, Vorsatz und Gewohnheit eintrainierte als moralisch gut geltende Handlungen. Ohne die Mitarbeit des eigenen Willens wird keine Moral intrinsisch, sodass sie kraftlos und korrumpierbar ist. Man kann auch mit Kant sagen, dass der Kern jeder Moral im vernunftbestimmten Willen liegt. Denn die Quelle der Kraft liegt nicht in der Vernunft, sondern im vitalen Willen. Während die Vernunft nur lenken kann, treibt der Wille zu Tat.
3Laut dem psychologischen Hedonismus zielen all unsere Handlungen natürlicherweise darauf ab, die Lust zu erhöhen und Schmerzen zu vermeiden.
4Das ist die humane Moral, deren Kern Gerechtigkeit und Mitleid (Mitgefühl, Liebe) ist. Der psychopathische Verbrecher scheint das an sich selbst nicht nachzufühlen. Je stärker und unempfindlicher er ist, desto später werden ihn psychosomatische Beschwerden einholen, welche oftmals nicht kommen, insofern er schon bis zum mittleren Mannesalter im Kampf oder durch Anschläge stirbt. Dagegen werden in guten und realistischen Mafia-Filmen die altgewordenen Oberhäupter oft als psychosomatisch gezeichnet gezeigt. (Vgl. Michael Corleone in Coppolas’ „Der Pate 3“ oder auch Sheeran in Scorseses „The Irishman“)
5Die Forderung nach Humanität und der damit verbundenen Gerechtigkeit gründet sich primär auf meine psychologische Selbsterkenntnis. Meine Lebenserfahrung bestätigt, dass mir nur eine humane Moral den Frieden bringt, unter dem ich mit mir selbst befreundet sein kann. Wer sich verstreitet, schläft z. B. schlechter, sinnt vielleicht auf Rache oder will sich vorbeugend schützen, wodurch negative Emotionen psychosomatisch stören. In dieser Einsicht bin ich ganz Buddhist.
6Die Gerechtigkeit teilt mit dem Schönen das symmetrische Prinzip. Die Liebe ist eine lustvolle und freiwillige Verbindung , wie sie in den Teilen eines schönen Objekts gesehen wird.
7 Es folgt eine Passage aus meiner Rede Über die Bedeutung der Schönheit (2019): Das verstehen wir am Harmonieprinzip: Harmonie heißt Eintracht, insofern kein Teil auf Kosten eines anderen Teils leidet. Moralisch gesehen ist diese Harmonie das Gute, dessen Kern Gerechtigkeit ist. Denkt euch einen platonischen Idealstaat, worin jeder das tut, was er am besten kann, worin jeder blüht wie die Blätter einer Rose. Aber ästhetisch zeigt sich die Harmonie in einer gewissen Symmetrie als Schönheit, insofern alle Glieder eines Organismus‘ so erscheinen, als ob sie freiwillig zusammengehen. Denkt euch einen persischen Teppich mit ineinander geschachtelten Mustern. Wenn jedes Teil im Ganzen genügend Raum hat zu blühen, seine Eigentümlichkeit zu entfalten, scheint es glücklich. Ich veranschauliche nun die Anmut mit einem Beispiel von Friedrich Schiller, der einen Lasten-Esel mit einem Rennpferd vergleicht. Obwohl beide muskulös sind, wirken die Muskeln beim Lasten-Esel nicht schön, weil sie unter einem Joch erzwungen werden, während sie bei dem Rennpferd frei und harmonisch entwickelt sind. Anmut ist also eine Schönheit, welche durch unsere harmonischen Bewegungen erzeugt wird.
Anmut zeigt sich im Gang eines Samurai, im Tanz eines Ballettpaares, im Lächeln eines Buddhas, und eigentlich im Werk eines jeden Meisters: sei es ein Handwerker, ein Redner, ein Liebhaber, sei es ein Spitzensportler oder ein Meditationsmeister: – allen ist eine Liebe zu ihrer Tätigkeit gemein, durch welche sie ihr Bestes geben: öffnen, bejahen und alles um sich her verbinden und wie ein idealistischer Maler jedes Teil im Ganzen blühen lassen – allen ist eine ganzkörperliche Achtsamkeit gemeinsam, die dergestalt perfektioniert worden ist, dass es keine falsche Bewegung mehr gibt, weil der Schwerpunkt immer in der Mitte ruht, weil es Ruhe in der Bewegung gibt, weil alles Wissen anverwandelt ist – allen ist eine Selbstdisziplin gemein, durch welche jeder geduldig weiter übt, auch wenn zuweilen der Flow der Liebe verloren geht und durch heiße oder kalte Wüsten nur noch Kants erhabener Begriff der Pflicht am Leben hält, bis die Durststrecke überwunden ist und Anmut wieder blüht. Es scheint also Hinweise zu geben, dass es eine Schönheit gibt, die wir herstellen können […].
8Ein großer Bierabend berechnet sich umgerechnet auf etwa 2,5 Liter Bier, während der kleine Bierabend bei 1,5 Liter Bier enden muss. Der kleine Bierabend erlaubt mir i. d. R. noch einen vitalen nächsten Tag, wogegen der große mit einer Vitalitätseinbuße einhergeht. Doch ab dem großen Bierabend beginnt oft erst der Spaß, während die Gefahr droht, sich so zu betrinken, dass der nächste Tag kaputt ist.
9Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hg: Fritz Bergmann. Insel Verlag 1987, S. 475.
10Ebenda. S. 148.
11Oben wurde das sinnlich Schöne als Ergebnis des moralisch Guten erklärt. Die hinreichende Bedingung zum Schönen ist der Vollzug von Gerechtigkeit und Liebe, während die notwendige Bedingung die Gesundheit (oder Vitalität) ist. Die eigentliche Moral meiner ästhetischen Ethik ist also der Schönheit implizit.
12Sprichwort des indischen Meditationsmeisters Shantideva aus „Bodhicharyavatara“.