Geld, Sex, Macht, Liebe in Zeiten der Finanzkrise
Erzählung
von uwesch
Vorwort
Der Banker Mike muss beruflich zwischen Frankfurt, London und New York hin und her jetten. Er hat eine Freundin in London und eine in New York. Dann der große Crash, eine Finanzkrise bricht aus und alles läuft aus dem Ruder - die Spekulationen und seine Beziehungen.
Inhaltsverzeichnis
1. New York Mai 2006 - Tage mit Sally
2. London August 2008 – Abschied von Mabel
und Flug nach New York
3. New York August 2008 – Landung und Be- grüßung von Sally
4. Heißes Meeting in Sallys Appartement
5. Diskussion mit Sally über Finanzstrategien
6. Sally rasiert und verführt mich
7. New York September 2008 – Der Crash
8. London November 2008 – Die Kreditkrise
9. New York März bis Mai 2009 – Die Verhaftung
10. New York 2009 – Im Gefängnis
11. Der Unfall
12. Der Gefängnisalltag
13. New York Januar 2010 – Der Prozess
14. New York/London/Frankfurt April 2010 - Verluste
15. New York August 2010 – im Gefängnis
16. Besuch von Sally im Gefängnis und ihre Pläne
17. New York September 2010 – Die Trennung
1. New York 2006 - Tage mit Sally
Sally arbeitet bei JP Morgan in der Derivateentwicklung. Sie stammt aus einer sehr wohlhabenden deutschen Bankiersfamilie, die wegen der Naziherrschaft rechtzeitig in die Vereinigten Staaten emigrierte. Ihre inzwischen verstorbene Mutter war Jüdin. Mit Sally spreche ich deutsch, denn sie will die Sprache ihrer Eltern nicht verlernen. Wir lernten uns bei meinen Dienstreisen nach New York sehr schätzen und treffen uns gelegentlich auch privat zum Essen in einem Restaurant oder auf einen Drink in einer Bar.
Durch ihre Vermittlung bekomme ich viele gute Kontakte zu wichtigen Männern und einigen wenigen Frauen großer US-Firmen wie IBM, Google, McKinsey und Goldman Sachs.
Heute sitzen wir nach Feierabend beim Dinner im Moran´s, einem Irischen Restaurant in der Washington Street, nahe dem Financial District und diskutieren über Kapitalanlagestrategien. Am Ende des Abends trinken wir noch einen Caipirinha und Sally fährt mich mit ihrem giftgrünen BMW Z3 Cabrio zu meinem Hotel in der Wall Street. Beim Abschied fragt sie mich:
„Was hältst du davon, wenn wir am Sonntag etwas zusammen unternehmen? Wir könnten einen Ausflug ans Meer machen. Ich würde dich gern etwas privater kennenlernen und nicht dauernd nur über Finanzen reden“.
Ich bin erstaunt über ihre Initiative. Aber mir gefällt es, denn ich stelle wieder einmal fest, dass ich gern mal an die Hand genommen werde. Das hat wahrscheinlich immer noch mit meiner frühen Kindheit zu tun.
Ich antworte:
„Ja super“, und werfe ihr einen dankbaren Blick in die grünschimmernden Augen.
Mit Küsschen auf die Wangen verabschieden wir uns. Im Hotel muss ich noch länger über die Einladung nachdenken. Ich mag Sally gern und finde sie sehr sexy und wollte sie schon vom ersten Augenblick an privat näher kennenlernen, wagte aber keinen intensiveren Vorstoß. Ich weiß allerdings, dass sie zur Zeit keine engere Beziehung zu einem Mann hat.
Am Sonntag holt Sally mich um 10.00 Uhr mit ihrem Cabrio ab. Sie will zum Brighton Beach im Stadtviertel Brooklyn auf Coney Island. Zum Baden ist es zwar noch zu kalt, doch die Sonne strahlt Ende Mai schon etwas Wärme aus. Sie fragt mich:
„Was meinst du, sollen wir das Verdeck aufklappen und offen fahren?“
„Ist das nicht noch etwas zu kalt?“
„Ich habe noch einen Schal und eine Baseballkappe hier im Wagen für dich. Und ich werde nicht so schnell fahren“.
„Gut, ich bin einverstanden“.
Wir brausen los. Routiniert wechselt Sally von einer Spur auf die andere und manövriert ihren BMW zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch. Sie hasst es, wenn Autos vor ihr zu langsam fahren oder Lastwagen die Sicht versperren. So muss sie zügig hin und her schalten und merkt gar nicht, dass sie immer schneller wird.
Nach kurzer Zeit fragt sie:
„Stört es dich, wenn ich Musik anmache?“
Ich sage „nein“, obwohl ich finde, dass bei den Fahrgeräuschen im offenen Wagen Musik eher kein Genuss ist.
Sie schaltet den CD-Player ein und dreht die Lautstärke hoch. Mir kommt der Sänger bekannt vor und ich frage:
„Ist das nicht Neil Young?“
„Ja, das ist das Album ´Freedom` von 1969 aus der Hippiezeit.“
Ich erinnere mich jetzt. Meine Eltern hassten die Zeit der in Deutschland revoltierenden jungen Leute, die sogenannte 68er-Generation.
„Oh ja, ich habe als sechszehnjähriger Junge die Musik oft heimlich gehört. Besonders gefiel mit der Titel >Rockin in the free World<. Ich sehnte mich nach Freiheit, raus aus der Enge meines Elternhauses, in dem viel gestritten wurde“.
Sally verlangsamt das Tempo, wählt den Titel am Ende der CD an und singt das Stück laut mit. Ich wusste gar nicht, dass sie so schön singen kann und genieße es.
Am Ziel angekommen setzen wir uns warm angezogen nebeneinander an den Sandstrand und schauen lange schweigend auf die Wasserfläche des Atlantischen Ozeans. Es weht nur eine leichte Brise vom Meer her, nur wenige Menschen sind um diese Zeit zu sehen. Das Wasser hebt und senkt sich sanft wie ein Laken und die Wellen brechen sich mit einem leisen Plätschern.
„Ich liebe das Meer“, sage ich und schaue sie liebevoll von der Seite an.
„Ich auch“, flüstert sie, „und wenn ich es so ansehe, wird mir ganz friedlich zumute“.
Sie greift nach meiner rechten Hand und drückt sie ganz leicht. Ich fühle mich geborgen und staune, dass diese attraktive und erfolgreiche Businessfrau so viel Sinn für ruhige Momente entwickeln kann. Aber vielleicht ist das der Grund ihres Gespürs und Erfolges.
Wir machen einen sehr langen Spaziergang am Wasser und gehen dann in ein Restaurant Scampis essen, reden nicht viel und genießen das stille Beieinandersein.
Auf der Rückfahrt am Nachmittag sagt sie unvermittelt:
„Wenn du Lust hast, würde ich dich gern mit zu mir nach Hause nehmen und dich verführen“.
Es verschlägt mir für einen langen Moment die Sprache, bis ich entgegne:
„Ja, das finde ich ausgezeichnet“.
„Ich möchte wie das sanft wogende Meer mit dir sein“.
Ich bin schon wieder überrascht.
„Ja, das ist schön“.
Wir steigen aus dem BMW und sie schiebt mich sanft in den Fahrstuhl ihres luxuriösen Appartements in der Upper Eastside, eine Gegend, wo die meisten Milliardäre der Staaten leben. Ihr Druck auf den Fahrstuhlknopf ist absolut bestimmt, so dass ich darin mehr als den Keim normaler Begierde zu erkennen glaube. Mir ist diese Frau in einer außergewöhnlichen Fügung begegnet, ohne selbst aktiv werden zu müssen. Der Fahrstuhl hat einen direkten Zugang zu ihrer Wohnung. Ich besinne mich jetzt meiner männlichen Fähigkeiten und nehme Sally galant den Mantel ab, nachdem wir den Fahrstuhl eng umschlungen verlassen haben. Sie sagt „komm“, und geht dann langsam vor mir her, geradezu in das Schlafzimmer.
Wir entkleiden uns behutsam ohne Worte und gleiten sanft in totaler Nacktheit auf ihr seidig glänzendes, großes Bett mit Blick auf den Central-Park. Doch plötzlich hält sie unentschlossen inne. Ich lege meine Arme sitzend von hinten sanft um sie, ziehe ihr behutsam die Decke über den Unterkörper und küsse sie zärtlich auf die linke Schulter. Wir haben immer noch kein Wort miteinander gesprochen. Ich berühre ihren Mund mit meinem linken Zeigefinger, noch hinter ihr, und halte sie im Arm. Diesen Berührungen kann sie nicht wiederstehen. Wir füllen das Bett mit solch einer körperlichen Präsenz, dass wir uns geborgen und allmächtig fühlen. Der Sinnentaumel steht kurz bevor und wir gleiten langsam immer mehr in eine Offenbarung hinüber. Bei unendlich ausgedehnten Streicheleinheiten mit einer unbeschreiblichen Zartheit in den gegenseitigen Fingern betasten wir uns auf allen Körperregionen, die ich teilweise noch nie bewusst wahrgenommen habe. Unsere Zartheit, unsere Sinnlichkeit und körperliche Offenheit sind dabei, uns zu überwältigen. Irgendwann, viel später, liege ich vollkommen still in ihr und wir lauschten auf die feinen Regungen unserer Schleimhäute.
Am späten Abend schauen wir noch in die Nachrichten, in denen die Meldung durchgegeben wird, dass die Rating-Agenturen die Bonität von General Motors heruntergestuft haben. Wir wissen sofort, was das zur Folge haben wird. Die festverzinslichen Anleihen des Konzerns, wesentliche Stützen seiner Finanzierung, würden rapide an Wert verlieren.
2. London August 2008 – Abschied von Mabel und Flug nach New York
Am Montag letzter Woche bekam Mike Order, direkt von London nach New York zu fliegen. Mabel brachte ihn mit ihrem Audi zum Flughafen Heathrow. Es war ein heißer Abend. Dichter Nieselregen ließ die Lichter der Startbahn diffus erscheinen. Das Wasser traf auf die noch erhitzte Piste und verwandelte sich sofort in dampfenden Nebel. Der Start des Fluges nach New York wurde verschoben. Die Fluggäste wurden in die VIP-Lounge gebeten. Er stellte sein Handgepäck neben den Tisch in der Lounge und ließ sich in den Sessel fallen.
„Was wollen was wir trinken?", fragte er Mabel.
„Schön, dass wir noch etwas Zeit für uns haben", sagte sie und setzte sich neben ihn.
Ich bin müde, möchte eine Cola Light."
Er holte eine Cola Light und einen großen Martini rot von der kleinen Bar.
„Wie lange wirst du in New York bleiben?", fragte sie und schien erregt und nervös.
„Ich weiß es noch nicht. Was ist denn los, du bist so unruhig?"
„Nichts, nichts ist los."
„Doch, ich sehe es dir an."
„Nein, wirklich nichts."
„Ich weiß, es ist was. Sag's mir Süße. Du kannst es mir doch sagen."
„Es ist nichts."
„Sag's mir."
„Ich will nicht. Ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst."
„Nein, sicher nicht", antwortete Mike.
„Bist du sicher? Ich sorg' mich gar nicht. Aber vielleicht du."
„Nicht, wenn du es nicht willst."
Langsam war er genervt, denn er kannte Mabel nicht so unsicher. Ihre Augen flackerten unruhig.
„Ich möchte nicht", sagte sie.
„Sag' es!"
„Muss ich?"
„Ja!"
„Ich bekomme ein Baby und bin im dritten Monat. Bitte sorge dich nicht. Du musst dich nicht sorgen."
„Ist in Ordnung", sagte er. Scheiße dachte er.
„Ist es das wirklich?"
„Natürlich ist es das."
„Ich habe alles Mögliche versucht, aber es hat nicht geholfen."
„Ich mache mir keine Sorgen", log er erneut.
„Soll ich nicht lieber abtreiben? Denk an deine Karriere!"
„Lass uns später darüber reden."
„Ich hab mir Mühe gegeben, kein Baby zu bekommen. Und du darfst dich nicht unglücklich fühlen. Ich sorge mich um dich."
„Das brauchst du nicht. Mir wird schon etwas einfallen."
„Aber du sollst dich einfach nicht sorgen! Ich werde das schon schaffen und dir keine Unannehmlichkeiten machen. Ich weiß, dass du jetzt erschrocken bist. Ich sehe das in deinen Augen."
„Wir werden immer zusammen bleiben", log er ein drittes Mal, „nur dass ich jetzt für ein paar Wochen fort muss."
Der Flug nach New York wurde aufgerufen.
Er küsste Mabel auf die Wangen und sagte:
„Ich muss jetzt los. Ich ruf' dich an, wenn ich in New York bin."
Mabel weinte.
„Du musst dich nicht sorgen. Ich schaff das."
Ihr ganzes Gesicht ging in die Brüche.
Mike stand auf und eilte zum Check-In. Beim Warten davor sah er noch, wie sie ihr Gesicht puderte, Lidstrich und Lippen nachzog, aufstand und die VIP-Lounge mit eiligen Schritten verließ. Ihre Pumps verhallten auf dem Marmorboden.
Im Flugzeug ließ er sich in den Sessel der Businessclass fallen und atmete tiefdurch. Scheiße, ein Baby kann ich überhaupt nicht gebrauchen, dachte er mit Schrecken. Mabel war eine attraktive Frau und immer sehr sexy. Sie hatten viele heiße Stunden, wenn er in London weilte. Doch sie wusste nichts von seiner rasanten Freundin Sally in New York.
Als der Airbus Flughöhe erreicht hatte, ließ er sich einen Scotch bringen und schlug erst einmal die Financial Times auf, um sich abzulenken. Es stand viel über die Finanzkrise, die die Welt erschütterte, in der Zeitung. Vor allem die USA und Europa waren besonders betroffen. Neugierig machte ihn ein kurzer Beitrag über die Ergebnisse einer Studie
9. New York März bis Mai 2009 – Die Verhaftung
Die Finanz- und Aktienmärkte erholten sich dank der Rettungsmaßnahmen der Industriestaaten, und die Wirtschaft fing an wieder zu boomen - vor allem in Deutschland. Doch die Verschuldung vieler Industrieländer, insbesondere der USA und in Europa Griechenland, Spanien und Italien, stieg immer mehr an.
Ich hatte für drei Monate in New York zu tun. Sally hatte sich inzwischen selbständig gemacht und einen eigenen Hedgefond namens SilverSax gegründet. Sie wollte noch mehr Geld scheffeln. Mich faszinierte das.
Anfang Mai brachte sie mich nach einer wunderbaren Nacht mit ihrem Porsche zum Flughafen. Ich musste zurück nach London. Beim Einchecken kamen plötzlich zwei Polizisten des FBI auf mich zu und sagten „Sie sind verhaftet, bitte kommen Sie ohne Aufsehen zu erregen mit uns."
Ich fragte: „Warum denn das?"
„Das erklären wir ihnen draußen im Wagen."
Ich bekam Handschellen angelegt und musste mich schnell von Sally verabschieden. Sie folgte uns in einem kleinen Abstand mit vor Schreck geweiteten Augen bis zum Polizeiwagen.
Mir blieb nichts anderes übrig als ihr mit Tränen in den Augen zuzuwinken. Bevor die Tür des Wagens sich schloss, rief sie mir noch zu: „Ich werde dir einen guten Anwalt besorgen."
Der eine, kleinere Polizist, sagte zu mir im Auto: „Sie sind festgenommen wegen illegalen Aktien-Insiderhandels. Wir fahren sie jetzt zum Gefängnis auf Rikers Island."
Ich war entsetzt. Wie hatte die Staatsanwaltschaft das herausbekommen?
Verzweifelt starrte ich auf die einfache Pritsche in meiner Zelle. Nach diesem Stress wurde ich plötzlich todmüde. Das Tempo meines Denkens kam allmählich zum Stillstand, wie eine Straßenbahn, die nachts nach Dienstschluss in ihr Depot fährt. Ich hatte keine Kraft mehr mich auszuziehen, warf mich taumelnd auf die Pritsche und schlief sofort ein.
Als ich in der Nacht aufwachte, überlegte ich wo ich bin. Ich schaltete eine kleine Nachttischlampe an, deren Schalter ich durch wirres Herumtasten endlich fand. Stück für Stück kehrte die Erinnerung zurück. Tiefenschärfe stellte sich langsam wieder ein, wie bei dem Okular einer Kamera. Ich lag in einer Zelle mit mir völlig unbekannter Umgebung.
10. New York 2009 – Im Gefängnis
Ich sitze den dritten Monat im Gefängnis und warte auf meinen Prozess. Er soll in der nächsten Woche am Dienstag im Bezirksgericht Manhattan-Süd stattfinden. Dort wird ein grundsätzliches Urteil gefällt. Wahrscheinlich erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich für schuldig befunden werde, muss ich dann noch einmal vor Gericht erscheinen. Dann wird gegebenenfalls das Strafmaß verkündet. In den USA wird das meistens vom Schuldspruch getrennt verhandelt.
Die Haftanstalt gilt als eine der sichersten Gefängnisanlagen in den Vereinigten Staaten. Zwischen den Stadtteilen Bronx und Queens liegt mitten im East River die Gefängnis-Insel, deren Name im allgemeinen Sprachgebrauch gern mit dem Zusatz >berüchtigt< verwendet wird. Vom Festland, nur über eine knapp 1300 Meter lange und streng kontrollierte Brücke erreichbar, beherbergt die Insel insgesamt zehn verschiedene Gefängnisanlagen. Meterhohe Mauern, Stacheldrahtsperren, das ununterbrochene Dröhnen des Flugverkehrs vom benachbarten La Guardia-Airport und das ständige Scheppern der schweren Metalltüren muss man hier wohl als Teil der Strafe verstehen. Die maximal 14.000 Insassen haben ohnehin keine Wahl und können sich höchstens damit trösten, dass ihr Aufenthalt nicht unbedingt von Dauer sein muss. Von etwa 12.000 Insassen sind circa 10.000 Untersuchungshäftlinge, die hier auf ihren Prozess warten.
Ich spüre, dass meine etwa dreieinhalb mal vier Meter große Einzelzelle der Ort ist, den ich immer vermeiden wollte. In meiner Fantasie existiert er schon seit ich mit Finanzen auf der Basis von Insidertipps jongliere. Genau diesen Platz, diesen vor der Welt versteckten Ort, habe ich nie sehen wollen. Ich kann es kaum fassen, dass es ihn tatsächlich gibt - fern meiner Heimat Deutschland.
Es ist früher Morgen und ich schließe noch einmal die Augen, bevor wieder einer dieser unendlich langen Tage beginnt. Mit einem Bleistift notiere ich in allen Einzelheiten, was mir widerfahren ist. Ich rufe mir alles zum zigsten Mal in das Gedächtnis, um es möglichst genau niederzuschreiben und eine Strategie mit meinem Anwalt zu entwerfen.
Am nächsten Morgen in aller Frühe, es ist noch dunkel und ich habe schlecht geträumt. Plötzlich steigt eine unbändige Wut in mir auf. Auf meinen Arbeitgeber, auf meine Mutter, auf meinen Vater und auch auf Frauen. Meine Kinderfreundin Anne kommt mir wieder in den Sinn. Ich sehe sie vor mir, atme auf, fühle ihre Hand und beruhige mich ein wenig. Bei geschlossenen Augen sehe ich meine beiden aktuellen Freundinnen, Sally und Mabel, vor mir, die von ihrer jeweiligen Existenz nichts wissen. Nach einer Weile verschwimmt die Grenze zwischen beiden langsam, kann die Form nicht wahren. Das verwirrt mich und ich suche nach einer Richtung in meinen Gefühlen. Ist es nur Sex, der mich antreibt, immer wieder neue Beziehungen anzufangen? Bin ich doch so ein Psychopath, der sich nur für Sex, Geld und Macht interessiert?
Das Licht des neuen Sommermorgens, ja es ist inzwischen Sommer geworden, fällt durch das lukenähnliche Zellenfenster. Ein blendendes und irgendwie beängstigendes Licht, strahlend, aber doch gefangen wie ich in meiner engen nach Osten ausgerichteten Zelle. Ich strecke mich auf meiner Pritsche, gähne und stehe auf, um meine volle Blase auf dem primitiven WC abzuschlagen.
Plötzlich höre ich wie jeden Morgen die kräftigen Schritte des Wärters immer lauter sich meiner Zelle nähern. Wieso so früh? Es ist noch gar nicht Frühstückszeit. Die Schritte bleiben plötzlich stehen und die kleine Sichtklappe wird angehoben. Der Wärter begrüßt mich mit sonorer Stimme und schiebt mir eine ausgedruckte E-Mail durch die Klappe. „For you from Germany", murmelt er und verschwindet gleich wieder.
11. Der Unfall
Ich setze mich auf die Pritsche und beginne zu lesen. Die Mail ist eigenartigerweise von der Mutter meiner Freundin Mabel. Sie schreibt auf Deutsch. Ihr Mann war vor drei Jahren gestorben und sie lebt seitdem wieder in Hamburg. Seit einem Monat weilt sie allerdings bei ihrer Tochter in London um sie in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaft zu unterstützen.
Lieber Michael,
ich muss dir leider mitteilen, dass Mabel vor zwei Wochen einen schweren Autounfall hatte. Sie wurde sofort mit einem Notarztwagen in die Klinik gefahren. Doch es war nichts mehr zu machen. Kurz nach der Einlieferung ist sie gestorben. Doch das Baby konnte gerettet werden. Dem kleinen Mädchen geht es soweit ganz gut. Es muss für einige Zeit noch im Brutkasten bleiben. Ich bin untröstlich und verzweifelt über den Tod meiner Tochter.
Ich habe mir aber überlegt, dass ich die Kleine, wenn sie aus der Klinik entlassen wird und ich mit Mabels Wohnung alles geregelt habe, solange zu mir nach Hamburg nehmen kann bis du aus dem Gefängnis frei bist. Meine Tochter hat mir gesagt, dass euer Mädchen Anne heißen soll. Ist das mit dir abgestimmt und bist du damit einverstanden?
Liebe Grüße Erika
Ich bin völlig fertig und heule vor mich hin, so als wenn ein Staubecken bricht, weil der Damm dem Druck nicht mehr standhält. Ich kann vom Frühstück, das der Wärter mir inzwischen gebracht hat, nichts hinunterwürgen. Nur die Kaffeplörre stürze ich in meine Kehle. Abends schlafe ich völlig erschöpft ein und träume wildes Zeug, kann mich am nächsten Morgen aber an nichts mehr erinnern. Den Tag über läuft mein ganzes Leben wie der Film einer Mischung aus Tennis, Zocken und Sex in mir ab. Ich liege auf der Pritsche und überlege, was ich tun soll. Mein Anwalt meinte, dass ich bei einer sehr wahrscheinlichen Verurteilung wegen Insiderhandels eine Freiheitsstrafe zwischen ein und drei Jahren und eine beträchtliche Geldstrafe zu erwarten habe. Sarkastisch denke ich: Ein Unglück kommt selten allein.
Der Gefängnisalltag
12. Der Gefängnisalltag
Der Gefängnisalltag läuft sehr geregelt ab. Frühstück um 8.00 Uhr: Blechteller, ein Brötchen, Margarine, Marmelade, ein Becher ungenießbarer Kaffee. Mittags 13.00 Uhr: Meistens Eintopf. Sonntags: Etwas Fleisch, meistens Schweinegulasch. Abends um 18.00 Uhr: Brote mit billigem Aufschnitt und Wasser oder Milch.
Oft masturbiere ich vor dem Einschlafen und denke dabei an Sally.
Es ist Sonntagnachmittag und keiner besucht mich. Sally war erst letzte Woche da und ich kann nicht dauernd lesen. Ich langweile mich mal wieder besonders zu Tode in meiner Zelle. Jetzt pule ich gerade einen ziemlich flüssigen Popel aus der Nase und lasse ihn auf meinem linken Daumen trocknen, bevor ich ihn zur Kugel forme, um ihn dann in die Gegend zu schnipsen, überlege wie schwer der aktuelle Popel wohl ist und wie weit er sich dann schnipsen lässt. Diese Frage hat insofern seine Wichtigkeit, weil diese öden Tage sich oft unendlich in die Länge ziehen. Zwei Jahre Gefängnis ohne konkrete Aufgabe sind schwerer zu ertragen als zehn Jahre intensive Stress-Arbeit. So, nun ist der Popel halbfest und ich kann erstmalig versuchen ihn weg zu schnipsen. Er bleibt am Finger kleben. Also noch etwas trocknen lassen! Ist er schwer genug, um bis ins Waschbecken zu fliegen? Ja es hat geklappt! Er landet im Becken. Ich habe inzwischen große Routine im Popelschnipsen. Die Nase ist jetzt leider popelfrei, also muss ich mir etwas anderes überlegen.
Mir fällt George Soros ein. Er war und ist einer der ganz großen Spekulanten und mir ein Vorbild. Seine Spekulationsstrategien sind plausibel und transparent, da er sie in Büchern und Vorträgen dargestellt hat. Er warnte auch immer vor den Gefahren. Seine Spekulationen polarisieren Bewunderer und Gegner. Bekannt wurde er unter anderem am 16. September 1992, dem Black Wednesday. Er war der Überzeugung, dass das Pfund Sterling überbewertet sei und wettete massiv gegen die englische Währung. Dazu tauschte er geliehene Pfund in andere europäische Währungen, hauptsächlich Deutsche Mark und Französische Franc. Und drückte damit den Pfundkurs, so dass er billiger zurückkaufen konnte, sozusagen der Leerverkauf einer Währung.
Im Juni 1993 spekulierte Soros gegen die Deutsche Mark. Er verkündete seine Absicht in großen Mengen Wertpapiere Deutschlands zugunsten französischer Papiere abzustoßen. In einem Interview forderte er: >Down with the D-Mark!<
Angesichts der sich anbahnenden Finanzkrise, die er frühzeitig als Vorbote einer Rezession in den Vereinigten Staaten ansah, kehrte er 2007 ins spekulative Geschäft zurück und erzielte mit seinem >Quantum Endowment Fund< im selben Jahr eine Rendite von 32%, was ihm 2,9 Milliarden Dollar einbrachte.
2008 war Soros mit einem Einkommen von 1,1 Milliarden Dollar der bestbezahlte Hedgefonds-Manager. In den zwölf Monaten bis Juli 2009 stieg die Gesamtsumme des durch seine Investmentfirma Soros Fund Management verwalteten Vermögens um 40 Prozent auf 24 Milliarden Dollar.
13. New York Januar 2010 – Der Prozess
Heute um 10.00 Uhr findet endlich mein Prozess statt. Ein Polizist betritt um 9.15 Uhr meine Zelle und legt mir Handschellen an. Er führt mich zusammen mit einem Kollegen, der an der Zellentür wartet, nach draußen zu einem Polizeiwagen. Wir steigen ein und fahren zum Gericht.
Die Verhandlung findet im Gerichtssaal 17B des 17. Stocks statt. Ich schaue aus den Fenstern und kann ich die Türme der Macht förmlich spüren. Ganz vorne das alte Zuckerbäcker-Hochhaus der Stadtverwaltung, dahinter der Luxustower des Star-Architekten Frank Gehry, und schließlich die Wolkenkratzer der Wall Street, in denen früher die Investmentbanken logierten und jetzt die Krisen-Millionäre wohnen. Für mich ist es ein fast nostalgischer Blick über Lower Manhattan. Ich werde dort nie mehr mitmischen können. Bezirksrichter Richard Howe wird den Prozess leiten.
Die Gerichtsdiener sorgen für absolute Stille in dem mahagonigetäfelten Saal. Der Staatsanwalt verbeugt sich und mein Verteidiger Alan Stivell erweist dem Richter seine Ehrerbietung. Sally sitzt mit ernstem Gesicht im Zuschauerraum und ist mit einem grünen Businesskostüm bekleidet. Es geht sehr gesittet und ruhig zur Sache. Mir wird vorgeworfen, dass ich durch vertrauliche Tipps und lancierte Konzern-Interna, die normalen Investoren nicht zugänglich waren, mir 2,7 Millionen Dollar erschwindelt hätte.
Der Staatsanwalt fordert drei Jahre Gefängnis, plus 2,5 Millionen Dollar Strafgeld. Mein Verteidiger plädiert auf ein Jahr Strafe, da der Angeklagte im Mai letzten Jahres Vater einer kleinen Tochter geworden ist. Die Mutter sei tragischer Weise bei einem Verkehrsunfall in London gestorben. Die Großmutter kümmert sich zwar jetzt vorübergehend um das Baby, doch das braucht den Vater.
Richter Howe, der vor einem Sternenbanner sitzt, spricht:
„Die Tat des Angeklagten spiegelt eine Krankheit in unserer Gesellschaft wider, die endlich ausgemerzt werden muss. Insider-Handel ist ein Angriff auf die freien Märkte und stellt ihre Funktionsweise in Frage. Aber wir müssen auch die persönlichen Umstände des Angeklagten berücksichtigen. Ein Baby braucht seine Eltern und in diesem Fall den Vater."
Ein Raunen geht durch den Gerichtssaal. Howe fügt hinzu:
„Ich plädiere auf schuldig und möchte schon heute ein Strafmaß fällen, da mir in diesem Fall von Vaterschaft schnelle Klarheit wichtig erscheint. Mein Urteil lautet deshalb: Zwei Jahre Gefängnis und zwei Millionen Dollar Strafe."
Mit erhobenem Haupt, als hätte ich nichts Unrechtes getan, lasse ich mich aus dem Gerichtssaal führen. Mein Verteidiger empfiehlt mir, das Urteil anzunehmen, was ich dann auch tue. Seit dem letzten Jahr erhebt die New Yorker Staatanwaltschaft in Zusammenarbeit mit der Börsenaufsicht immer mehr Anklagen wegen Insider-Handels. Ein Mann namens Rajaratnam gilt als Mittelpunkt des größten Insider-Netzes. Es wurden hunderte Telefonate abgehört, um zu beweisen, wie ihm illegale Aktientipps aus großen Konzernen zugespielt wurden. Er muss elf Jahre ins Gefängnis. Allerdings werden ihm 64 Millionen Dollar erschwindeltes Geld vorgeworfen. Einige Angeklagte aus seinem Umkreis wurden schon in separaten Prozessen verurteilt – im Schnitt für drei Jahre, was spürbar mehr war als in früheren Jahren.
14. New York / London / Frankfurt April 2010 – Die Verluste
Die Finanznachrichten in allen Medien werden immer bedrohlicher. Es sieht so aus, dass sich eine erneute Immobilienkrise abzeichnet. Morgan Stanley hat mit seinem Immobilienfonds >Real Estate Funds VI International< Schiffbruch erlitten. Es drohe ein Verlust von 5,4 Mrd. Dollar, teilte die Bank seinen Anlegern laut übereinstimmenden Berichten von Wall Street Journal und Bloomberg mit. Der Fonds würde damit nicht nur knapp zwei Drittel seines Vermögens verlieren, es wäre zugleich der größte Wertverlust, den ein Immobilienfonds jemals erlitten hat. Morgan Stanley war in den vergangenen Jahren einer der führenden Investoren auf dem Immobilienmarkt. Zahlen des Wall Street Journals zufolge investierte der Fond seit 1991 rund 174 Mrd. Dollar. Das Geld stammte unter anderem von Pensionsfonds, College-Stiftungen und auch von ausländischen Investoren. 20 % sollen zudem Morgan Stanley und die Mitarbeiter der Bank in den Fonds eingeschossen haben.
Die Bank hatte Investoren einst eine Rendite von 22,1% pro Jahr in Aussicht gestellt. Zu Beginn liefen die Geschäfte auch blendend und brachten hohe Erträge ein. Doch mit dem Einbruch der Immobilienmärkte im Jahr 2008 wurden nicht nur diese Traumrenditen zu einer Illusion, sondern ein Engagement entwickelte sich vielmehr schnell zu einem Ärgernis, das jetzt in einen Alptraum zu münden droht.
Zum Verhängnis wurden dem Fonds laut Wall Street Journal unter anderem Investitionen in den Frankfurter EZB-Tower, ein großes Immobilienprojekt in Tokio sowie Hotels der Intercontinental-Kette in Europa. Ein Minus von 350 Millionen Dollar habe allein ein Geschäftsgebäude in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul eingespielt.
Nach diesen dramatischen Verlusten muss nun auch Goldman Sachs gestehen, dass es mit einem seiner Immobilienfonds nicht eben zum Besten steht. Nach Fehlinvestitionen in den USA, Deutschland und Japan hat ein weiterer internationaler Fonds nahezu sein gesamtes Vermögen versenkt und Verluste von 1,8 Milliarden Dollar eingefahren. Ende des Jahres habe der >Whitehall Street International< nur noch einen Wert von 30 Millionen Dollar gehabt, berichtete die Financial Times. Goldman als größter Anteilseigner hatte laut dem Bericht 436 Millionen Dollar investiert.
Besonders problematisch sieht es bei Fonds aus, deren Manager viele Immobilien auf Pump gekauft haben. Sobald die Immobilienmärkte wieder anziehen, ist zwar eine Erholung möglich. Doch ob und wann das geschieht, steht in den Sternen.
15. New York August 2010 – Langeweile im Gefängnis
Gut fünfzehn Monate meiner Strafe habe ich jetzt abgesessen. Nach dem Mittagessen lege ich mich auf meine Pritsche und schlage den Thriller >Illuminati< von Dan Brown auf. Obwohl das ein sehr spannendes Buch ist, erreichen die Sätze mein Gehirn heute nicht. Meine Augen können zwar den sich aneinanderreihenden Buchstaben und Satzzeichen folgen, als würde eine Kolonne Autos an mir vorbeifahren, aber mein Geist gaukelt in anderen Regionen herum. Ich lege das Buch beiseite. Die Zeiger meines relativ großen Analogweckers, dem Design einer Bahnhofsuhr nachgebildet, stehen auf 10.10 Uhr am Morgen und wirken kalt und distanziert. Sie bewegen sich unparteiisch zwar, aber kriechend langsam. Sie sind nicht auf meiner Seite, denn ich bin noch neun Monate gefangen in dieser kargen Zelle.
Nach dem Mittagessen, das wieder mal schrecklich schmeckt, und einem Nickerchen lese ich in der Financial Times, die ich abonniert habe und mir ins Gefängnis geliefert wird, dass Derivate in immer größerem Ausmaß an den Börsen vorbei durch Hedgefonds und andere Finanzinstitutionen auf dem grauen Markt gehandelt werden, so dass sich das Finanzvolumen stark aufgebläht hat und zur Zeitbombe wird. Das weltweite Nominalvolumen außerbörslich gehandelter Derivate liegt inzwischen bei ca. 601 Billionen Dollar, und das Volumen der Devisengeschäfte bei ca. 955 Billionen Dollar. Der weltweite Wert aller produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen dagegen bei lediglich etwa 63 Billionen Dollar, der aktuelle Wert aller Aktien und verzinslichen Wertpapiere (Bonds) bei ca. 87 Billionen Dollar. Hieran wird das krasse Missverhältnis deutlich, dass weltweit Gehandeltes im Wesentlichen spekulativer Natur ist. Verwerflich finde ich den Trend, mit Lebensmitteln zu spekulieren, da das die Preise treibt und die Menschen in armen Ländern sich die Nahrungsmittel wie Mais oder Reis nicht mehr leisten können.
16. Besuch von Sally im Gefängnis und ihre Pläne
Heute gegen 16.00 Uhr wird Sally kommen. Von meiner Tochter in London und ihrer verstorbenen Mutter hatte ich ihr bis zum Prozess nichts erzählt. Sie war lange sehr sauer, dass ich nicht gleich von meiner Vaterschaft berichtet habe und boykottierte mich zunächst für längere Zeit. Doch seit einem Monat besucht sie mich wieder und verspricht das jeden ersten Sonntag im Monat weiterhin zu tun. Mehr Zeit will sie nicht in diesem schrecklichen Gefängnis verbringen, aber ich bin froh, dass ich überhaupt Besuch bekomme.
Der wachhabende Wärter führt mich pünktlich zum Treffen ins Besucherzimmer. Sie kommt auf mich zu. Als wir uns gesetzt haben und durch eine Scheibe getrennt anschauen, verschiebt sich ihr anfängliches Lächeln ein bisschen, um dann gleich wieder zurückzukehren. Ihre roten kugelförmigen Ohrringe schaukeln wie reife Kirschen und korrespondieren mit ihren durchdringenden grünen Augen, die mich immer so faszinieren. Wir begrüßen uns distanziert freundlich mit einem „Hallo".
Sie berichtet mir, was sie an neuen Strategien plant. Ihrem Hedgefond haben Anleger, vor allem amerikanische Pensionsfonds, inzwischen die beträchtliche Summe von über 18 Milliarden Dollar anvertraut. In der Finanzkrise machte sie ein kleines Vermögen, da die Immobilienblase in den USA tatsächlich, wie von ihr vorhergesehen, platzte und ein gewaltiger Crash die Welt erschütterte. Ihr Glück war, dass ihre Anleger-Banken die fälligen CDS-Papiere auch auszahlen konnten, denn Lehmann Brothers ging in die Pleite und andere Investoren in der ganzen Welt verloren viel Geld mit deren Papieren.
Die Gier nach immer mehr Geld kennt bei Sally keine Grenzen. Sie erzählt von neuen Plänen:
„Ich werde im Rahmen der europäischen Finanzkrise um den Euro auf die Pleite Griechenlands und Italiens, den am höchsten verschuldeten Ländern der EU, zocken. Ich kaufe wie gehabt CDS-Papiere, die ich über möglichst viele Banken streue, um das Risiko von Pleiten zu verteilen."
Ich frage:
„Was tust du, wenn Griechenland von den Euroländern gerettet wird und nicht in die Pleite geht?"
„Daran glaube ich nicht. Die exorbitanten Schuldenprobleme dieses Landes lassen sich nicht durch immer neue Schulden lösen und Italien hat eine völlig unfähige Regierung."
„Ja", sage ich, „da hast du wohl recht. Heutzutage kann man viel mehr Geld machen mit Zockerei gegen ganze Staaten."
Sie meint zum Schluss noch:
„Ich habe schon einen Teil meines freien Kapitals in entsprechende CDS-Papiere investiert. Die Börsenkurse haben sich inzwischen schon verdoppelt. Und trotzdem glaube ich, dass sie weiter steigen werden."
„Doch wie willst du bei deinen hohen Summen, die du investierst, erreichen, dass die Schuldverschreibungen der Banken, die die CDSs herausgeben, auch einlösen können? Denn ein Crash Griechenlands wird viele Banken vor allem in Europa, aber auch mit ihren Verflechtungen weltweit in den Abgrund reißen. Das kann eine Weltwirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes werden."
Sally meint lapidar: „Ohne Risiko keine Chance! Aber ich werde natürlich nicht das ganze Hedgefond-Kapital riskieren"
Die Besuchszeit ist um und wir verabschieden uns. Ich schaue ihr nachdenklich hinterher und werde dann in meine Zelle abgeführt.
Aus der Distanz hier im Gefängnis erscheinen mir die Aktienhändler der Komplexität des Geldmarktes auch nicht mehr gewachsen zu sein. Sally kommt mir immer mehr wie ein weiblicher Odysseus vor, der in Gefahren cool immer den rechten Dreh findet. Die meisten Händler agieren wie hektische, verspielte Wiesel, die dorthin rennen, wo Beute lockt. Viele folgen auch allzu leichtgläubig wie Lemminge jedem neuen Trend. In derselben Ausgabe einer Wirtschaftszeitung oder am selben Tag im Internet kann man Ratschläge, Empfehlungen und Warnungen von Finanzexperten lesen, die sich diametral widersprechen. Es gibt nur wenige Ausnahmeinvestoren, die den richtigen Riecher zum richtigen Zeitpunkt haben. Zu dieser Kategorie gehört wohl auch Sally. Das kann aber auch eines Tages voll in die Hose gehen. Ich wünsche ihr das nicht.
Abends lege ich mich früh auf meine Pritsche. Vor dem Einschlafen habe ich auf einmal eine heftige Erektion. Mir fehlt der schöne Sex mit Sally sehr. Sie sah heute wieder hinreißend aus. Aber ich masturbiere nicht, denn ich habe beschlossen, mir die schönen Erinnerungen auf ihrem mit Seide bespannten Bett zu bewahren, indem ich mich immer eine Weile nicht berühre.
Ich balle meine Finger zu Fäusten und schlafe endlich unruhig ein. In der Nacht träume ich, oder ist es gar kein Traum, denn alles wirkt irgendwie real und nichts ist verschwommen.
Sally liegt nackt in Löffelstellung, mit dem Rücken zu mir, auf meiner Pritsche. Ich streiche mit meiner linken Hand sanft über ihr Haar, die Nase, die Lippen und ihren sinnlichen Hals. Meine Hand gleitet weiter, die Körperlandschaft hinunter und streichelt weich und sanft über ihre Haut, und hält ein bei der Innenseite ihres linken etwas abgespreizten Schenkels.
Der Duft ihres teuren Parfums, den ich sogar im Traum zu riechen glaube, pulsiert um und über diesem einzigartigen Körper, wie sich sanft hebender Frühnebel an einem sonnigen Spätsommermorgen. Meine Geilheit steigt rapide an und ich explodiere.
Sally dreht sich zu mir um und ich stelle mit Entsetzen fest, es ist Mabel, mit der ich gefickt habe. Ich will etwas sagen, aber in ihrer Gegenwart ist mir, als hätten alle Worte ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Ich erwache, habe von der verstorbenen Mabel geträumt und bin zutiefst erschrocken. Mehr als ein Jahr nach ihrem tragischen Unfall sehe ich vor mir, wie ihr ein Baby aus dem Leib geschnitten wird.
Ich ziehe meine feucht-klebrige Boxershorts aus und wasche sie im Spülbecken. Je länger ich über den eingebildeten Sex mit Sally nachdenke, desto deutlicher nimmt der Wunsch Gestalt an, mit ihr zu schlafen. Die Entbehrungen sind übermächtig geworden. Doch ich weiß, dass das nicht mehr möglich werden wird. Sally vertritt die Ansicht, dass Liebe die Freiheit zu lieben ist, weshalb sie nie verheiratet war und auch nicht heiraten wollte. Ich vermute, dass sie längst einen neuen Liebhaber hat, obwohl sie davon nie erzählt hat. Heftige Erschütterungen im tiefsten Innern machen mir deutlich, dass meine Welt sich grundlegend wandeln wird.
Im Verlauf des Tages wird mir immer klarer, dass keine Wahl bleibt. Ich werde mein Leben ändern müssen. Ich muss die Angst, als junger Vater für meine kleine Tochter Verantwortung zu übernehmen, überwinden. Und die Wut auf Mabel ebenso, denn ich habe sie ja sehr gemocht. Sie war gegen unsere Abmachung, kein Kind in die Welt zu setzen, schwanger geworden. Doch ich habe mich um Verhütung nie gekümmert. Ich werde mich nach meiner Haft sterilisieren lassen.
Am nächsten Morgen beschließe ich, wieder nach Hamburg zu ziehen und mein Restvermögen möglichst sicher anzulegen – soweit das in diesen Zeiten überhaupt noch möglich ist. Ich will versuchen meiner kleinen Tochter ein guter Vater zu sein. Wenn ich aus dem Gefängnis frei bin, möchte ich ihre Hand halten und Zuversicht vermitteln. Ich habe nach dieser Entscheidung ein wenig das Gefühl von Demut im Herzen und fühle ein kleines bisschen Eis darin schmelzen.
Ich denke an meine schönen Zeiten als Doktorand am Hamburger Institut für Informatik. In meiner Freizeit war ich oft Tennisspielen mit meinem Freund Hannes. Vielleicht kann ich daran anknüpfen und mir einen sinnvollen Halbtagsjob suchen, wenn Anne in den Kindergarten und danach in die Schule kommt.
17. New York September 2010 – Die Trennung
Meine Bank, die mich wegen meiner Strafe inzwischen gekündigt hatte, machte mit den synthetischen ETFs einen grandiosen Verlust von fast einer Milliarde Euro, da die zugrunde gelegten Aktien und Derivate sich wesentlich schlechter entwickelt hatten als angenommen. Die Anleger mussten natürlich entsprechend dem echten, besser gelaufenen MSCI, ausgezahlt werden. Ich fühlte eine gewisse Genugtuung.
Sally erscheint pünktlich und wir setzen uns im Besucherraum einander gegenüber.
„Hallo", sagt sie.
„Hallo", sage ich.
Sie kommt gleich zur Sache und erzählt: „Ich habe jetzt entsprechend meinen neuesten Anlageplänen, die ich dir beim letzten Besuch erläutert habe, für 500 Millionen Dollar CDS-Papiere auf Griechenlandanleihen gekauft. Die sind seitdem schon wieder im Kurs gestiegen."
„Glückwunsch!", sage ich.
Sie erläutert:
„Ich glaube, dass Griechenland im Verlauf der nächsten Jahre in die Pleite gehen wird. Die immense Rekord-Verschuldung im Euroraum wird das Land niemals abbauen können. Diese wird weiter ansteigen, selbst wenn das Land durch Hilfskredite der Eurogruppe oder des Internationalen Währungsfonds (IWF) unterstützt wird. Die Volkswirtschaft ist strukturell völlig hinter dem Mond und der Staatsdienst total überteuert und noch dazu ineffizient, da die jeweiligen Regierungsparteien extensive Vetternwirtschaft betrieben haben und viel zu viele Menschen beschäftigen, denen sie auch noch zu hohe Gehälter zahlen. Es gibt kaum eine wettbewerbsfähige Industrie und viel Steuerhinterziehung, vor allem der Vermögenden, die ihr Geld im Ausland bunkern."
Ich frage in Anbetracht ihres Wortschwalls etwas lustlos:
„Was willst du tun?"
„Ich werde jetzt entsprechende CDS-Papiere für weitere 2,5 Mrd Dollar kaufen und diese dann, bevor das ganze Weltwirtschaftssystem wegen einer Eurokrise zusammenbricht, wieder verkaufen. Allerdings ist ein totaler Crash unwahrscheinlich, denn in der letzten Krise hatten unzählige Regierungen auf der ganzen Welt durch staatliche Garantien oder sogar direkte Hilfen das Schlimmste verhindert. Das werden sie wieder tun. Griechenland kommt mittelfristig meines Erachtens um einen Kapitalschnitt seiner Schulden nicht herum. Wir als Einzelpersonen können das sowieso nicht verhindern, doch mit unserem Know-How das herausholen, was uns zusteht. Wenn du magst kannst du dich mit deinem Restvermögen daran beteiligen."
Ich staune über die Selbstverständlichkeit und Coolness, mit der Sally vorgehen will und denke, dass ihr Plan wahrscheinlich aufgehen wird. Aber inzwischen habe ich Skrupel, da unsere Gewinne viel Verlust und auch Leid an anderer Stelle erzeugen.
„Sorry, Sally, ich will nicht mehr zocken. Ich habe eine Aufgabe in Europa nach meiner Entlassung, die mir sehr wichtig ist. Meine Tochter Anne, die jetzt im zweiten Lebensjahr ist und noch bei ihrer Oma in Hamburg wohnt, braucht mich und ich will mich um sie kümmern. Mein Restvermögen von zweieinhalb Millionen Dollar reicht mir, und ich will mit der Zockerei Schluss machen."
Sally schaut mich mit ihren grünen geweiteten Augen fassungslos an. Ihr Gesicht wird zur Maske, und ihr Mund bleibt offen stehen. Nach einem unendlich langen Moment erhebt sie ihre Stimme und kreischt:
„Du wirst ein ewiger Looser bleiben!"
Sie steht wütend auf und ruft mir noch zu:
„Du wirst mich nie wiedersehen!"
Sie verlässt den Besucherraum mit eiligen Schritten. Mein Körper sackt in sich zusammen und fühlt sich schlaff wie Gummi an, der in der Hitze weich geworden ist. Ich lasse mich vom Wärter wieder in meine Zelle bringen. Für den Rest meiner Haft kann ich keinen Besucher mehr erwarten.