Familienaufstellung

Erzählung zum Thema Familie

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  PHASEN DES LEBENS (Prosa)

Es war einmal ein Fötus, der neugierig war auf die Welt. Doch seine Mutter wollte ihn nicht. Sie ritt wie der Teufel auf ihrem Lieblingspferd, doch scheiterte mit ihrem Anliegen. Der Junge setzte sich durch. Er wurde aus dem Bauch der mit Lachgas beatmeten Mutter geschnitten und schrie laut auf das umherstehende Krankenhauspersonal ein. Das, obwohl oder vielleicht auch weswegen er blau angelaufen war. Seine Nabelschnur war zweimal um den Hals gewickelt und bewirkte Atemnot.
Viel später, als er 43 Jahre alt war, erfuhr er, dass sein zwei Jahre später geborener Bruder gar nicht sein ganzer Bruder war. Die gerade verstorbene Mutter hatte damals einen Liebhaber in den ersten Ehe- und gleichzeitig den letzten Kriegsjahren. Währenddessen flickte sein Vater als frischgebackener Arzt verwundete deutsche Soldaten gleich hinter der russischen Front notdürftig zusammen oder amputierte zerstörte Gliedmaßen. Dem sexuellen Notstand unterliegend fickte er mit einem männlichen Kameraden, der einzige Mann, dem er auch nach dem Krieg ein zuverlässiger Freund blieb. Gegenüber seiner Ehefrau war er von autoritär-tyrannischer Art.
Mutters Liebhaber, ein Wehrmachtsoffizier, setzte noch während des Krieges seinem Leben selbst ein Ende – simuliert als Tod beim Reinigen der Waffe. Die Beziehung war zu der Zeit nicht lebbar. Doch dessen Sohn lebte als Kuckuckskind in der vom Krieg gezeichneten Familie. Er kam gleich nach der Kapitulation zur Welt, kurz bevor der eheliche Bruder zwei Jahre alt wurde. Auf alten Fotos kann man gut sehen, wie dieser sein bis dahin fröhliches Wesen entscheidend verändert hatte. Eine beleidigte Miene bis hin zur Finsternis durchzog alle weiteren Bilder seiner Kindheit. Mutter zog das Kuckucksbrüderchen vor. Wahrscheinlich lag es an dem mehr geliebten echten Vater oder auch an den Würmern und der Magerkeit des Kindes zu Beginn seines Lebens, was alle Aufmerksamkeit erforderte.
Vater glänzte auch nach dem Krieg durch weitgehende Abwesenheit infolge beruflicher Einspannung. Sein eigener Sohn war der mangelnden Beachtung durch die Mutter ganz ausgesetzt. Vater hat nicht mehr an den jüngeren eigenen Sohn geglaubt, als ihm gesteckt wurde, dass Mutter ein Verhältnis hatte. Alle seine strengen Erziehungsversuche am Halbbruder scheiterten. Bezeichnenderweise wurde dieser später Lehrer, wollte wohl besser erziehen, warf sich dann aber früh auf das Handtuch vorzeitiger Pensionierung. Es hat ihn wohl überfordert.
Vaters Sohn passte sich diesem weitgehend an, denn was blieb ihm für eine Wahl. Im 30. Lebensjahr, nach der Geburt seiner eigenen Tochter, kam es zum Bruch der Meinungen. Gefühle waren sowieso spürbar nicht vorhanden. Vater, inzwischen 60, ging als hochdotierter Bundeswehrchefarzt in Fortführung seiner erzwungenen Karriere im Krieg in Pension, heiratete dann später eine andere Frau nach eigenem Infarkt und dem Suizid seiner inzwischen getrennt lebenden Erstfrau. Irgendwie konnte sein Sohn das Gefühl nicht loswerden, dass beides mit der Unfähigkeit des Vaters zu tun hatte, Gefühle zu leben – eine fatale Folge der durch den Krieg geprägten Männer. Er starb dann einsam mit 83 Jahren. Die zweite, wesentlich jüngere Frau, hatte es nicht geschafft ihm einen anständigen Tod zu bereiten. Sie wurde zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen und vegetierte danach, weitgehend ihrer Menschenrechte beraubt, in einem christlichen Altersheim dahin. Die Söhne hatten Vater einfach sterben lassen, ohne sich zu kümmern, denn sie wurden nur noch beschimpft in den letzten Jahren.
Der Anteil des Vaters und die Schuld des Krieges an dieser Entwicklung lässt sich nicht exakt bestimmen, denn es gibt zu wenig authentische Informationen. Doch Vermutungen können mit mehr oder weniger Plausibilität durchaus angestellt werden.
Zumindest der eheliche Sohn konnte verzeihen und Frieden mit sich schließen, zumal er dachte, dass viele Verhaltensweisen aus den durch die Kriegs- und Beziehungswirren ausgelösten Tatsachen und Vermutungen folgten. Ganze Leben wurden Entwicklungen unterworfen, die unter normalen Umständen vermutlich anders verlaufen wären. Aber wer weiß das schon so genau. Neuerdings wird wieder mehr an die Zwangsläufigkeit vorhandener Gene geglaubt. Doch der Streit um die Dominanz der Gene bzw. der Sozialisationsprozesse währt schon ewig und ist vergleichbar mit Ebbe und Flut, nur mit verlängerter Zeit zwischen den Tiden.



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