Zinar

Erzählung

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  PHASEN DES LEBENS (Prosa)

Hanna, meine Tochter, macht mir Sorgen. Ihr erster Facebook-Eintrag ist jetzt fast fünf Jahre alt. Solange verbrennt sie ihre Freizeit schon mit Menschen, von denen sie die meisten gar nicht kennt – sogenannte Freunde. Ich lese heimlich in ihrem Account. Es sind aber keine Einträge zu finden, für Zinar, ihren Freund. Der war ihr immer heilig.
Ich schlage dann ihr Tagebuch auf, was ich natürlich nicht sollte, aber ich verstehe sie einfach nicht mehr. Ich wusste, wo sie es immer versteckt, und lese mit schlechtem Gewissen.

Vor acht Tagen ist Zinars Mutter gestorben. Sie hat es selbst getan. Er hat mir gestern das Fensterkreuz gezeigt und gesagt: „Wenn ich mich einmal umbringen sollte, würde ich es anders tun. Mein Vater hätte mir eine Tracht Prügel verpasst, wenn er davon wüsste."


Meine Hände beginnen zu zittern. Ich wusste nicht, dass seine Mutter es selber getan hat.
Mein Mädel ist vor drei Wochen sechzehn geworden und wird nächstes Jahr die Mittlere Reife auf dem Gymnasium machen. Ihr Freund hat gerade den Motorradführerschein bestanden und rast mit seiner neuen Yamaha die bergigen Straßen in unserer Umgebung rauf und runter. Sein Vater, Kurde, hatte sie ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. So sind die Jungs in dem Alter. Wollen den absoluten Kick.
Nachdem ich mir die Tränen weggewischt habe, lese ich weiter.

Zinar ist der Mensch, dem ich alles erzähle. All´ das, was ich nie auf Facebook poste. Im Austausch meiner Bekenntnisse erzählt er mir Geheimnisse, von denen ich hier nicht alles berichten will. Doch eines verschweige ich ihm. Ich habe noch nie mit jemandem, auch nicht mit meiner Mutter, darüber gesprochen. Wenn ich gegessen habe, stecke ich anschließend meinen Finger in den Hals und kotze ins Klo. Meine Mutter neigt sehr zum Zunehmen und achtet auf ihr Gewicht. Sie war früher extrem mollig, aber von Schlanksein kann man heute keineswegs reden. Sie hat festgestellt, dass ich auch dazu neige, und achtet deshalb sehr darauf, dass ich nicht zu viel esse. Doch ich gehe nach der Schule immer heimlich zu McDonald´s und ziehe mir mehrere Big Macs rein, und dann kotze ich zuhause ab, wenn meine Mutter noch bei der Arbeit ist. Sie hat es bisher nicht gemerkt, und so dick wie sie will ich auf keinen Fall werden. Meinen Vater kenne ich nicht. Er ist schon die längste Zeit meines Lebens tot. Bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich noch Baby war. Auf einem Bild, das mir Mami einmal gezeigt hat, sieht er ganz schlank aus.


Mein Herz beginnt zu rasen, Schweiß bricht aus allen Poren und mir wird schwindelig. Ich lege mich auf das Bett meiner Tochter, die Beine hoch, und versuche ruhig durchzuatmen. Ich hätte wohl schon früher mit ihr reden müssen. Doch ich weiß nicht wie, denn ich habe schon länger das Gefühl, dass ich sie nicht mehr erreiche. Was soll ich bloß tun? Ich werde auf jeden Fall morgen mit meiner Kollegin darüber reden.

Sie schreibt weiter:

Gestern ist Zinar auf dem Weg zu mir so schnell gefahren, dass wir die Zeit totschlagen mussten - bis zur Beerdigung seiner Mutter, drei Stunden später. Sie wollte direkt von der Arbeit zum Friedhof fahren, denn sie mag Zinar sehr und kannte auch seine Mutter. Ich saß ihm gestern, weil wir noch Zeit hatten, gegenüber auf dem Sofa, er im Sessel. Meine knappen Jeans kamen mir viel zu eng vor und das T-Shirt spannte sich über meinem prallen Bauch. Ich hatte es nicht mehr geschafft, rechtzeitig abzukotzen. Er hatte auch noch eine Portion Pommes mitgebracht.
„Zur Stärkung vor der Beerdigung“, meinte er trocken.
Ich konnte dem nicht widerstehen.
Ich mag Zinar sehr. Er tut auch weibliche Dinge, geht einkaufen, stylt sein Haar, legt Wert auf geile Klamotten. Er schlug vor, noch eine kleine Party vor der Beerdigung hier bei mir zu feiern. So ist er, wollte den Tod seiner Mutter einfach nicht akzeptieren. Ich koppelte meinen MP3-Player mit unserer Stereoanlage und wir tanzten. Frei, ohne uns zu berühren. Es ist das erste Mal, dass wir tanzten. Nach einer Weile war mir sehr warm und ich bewegte mich in seine Arme hinein. Seine Hand, die auf mein T-Shirt glitt, fühlte sich feucht an auf meinem Rücken.
Irgendwann landeten wir auf dem Sofa. Ich stellte den Sound auf LEISE und musste mich anstrengen, um den gerade laufenden Songtext zu verstehen. Aber das war nicht mehr wichtig. Zinar würde mich küssen. Ich bin nur einmal zuvor geküsst worden. Der Kerl aus meiner Klasse hatte mich dabei so feucht vollgesabbert, dass ich ihn sofort von mir stieß. Der Mund ist doch schließlich kein Wasserspender.
Zinar tut es. Es war der erste richtige Kuss meines Lebens, noch besser wie eine wilde Fahrt auf seiner Yamaha, die Arme eng um ihn geschlungen. Trotzdem sagte ich den Satz:
„Lass´ das, nicht noch weiter.“
Dann sagte er den coolen Satz, den er sich aufgespart hatte, oder den er sich, da er ja Zinar, der Fels in meinem Leben ist, gerade ausgedacht hatte:
„Ich gebe meinem Mädchen immer das, was sie will – ob sie es will oder nicht.“
Das war dann der Schluss mit Sätzen. Eigentlich war ich nicht bereit dafür, aber ich dachte:
Er ist jetzt ein Junge ohne Mutter. Wir lassen es raus, nehmen die ganze Länge des Sofas ein und winden uns wie zwei ineinander verschlungene Wesen aus einer anderen Welt.
Zinar meinte, nachdem wir wieder im Diesseits angekommen waren:
„Wenn es stimmt, dass das Leben wie auf meiner Yamaha vorbeirast, bevor ich sterbe, ist es auch wahr, dass unser Leben voranstürmt, wenn wir bereit sind, wirklich zu leben.“
Das fand ich sehr weise und schaute ihm verliebt in seine dunklen Augen.
Die Zeit war inzwischen weit fortgeschritten und wir warfen uns blitzschnell in die Klamotten, schwangen uns auf die Yamaha und rasten zum Friedhof.


Auch das noch, denke ich. ... Aber vielleicht ist das auch eine Chance, denn ihr erster Sex ist wohl ganz gut gelaufen, nicht wie bei mir damals. Zinar scheint ein anständiger Junge zu sein, der meine Tochter versteht. Es wird ihm wohl auf Dauer nicht verborgen bleiben, dass sie zu viel isst und abkotzt. Vielleicht löst sich das Problem auf, wenn die beiden darüber reden. Ich hoffe das sehr. Doch ich werde auf jeden Fall morgen mit meiner Kollegin reden und mich informieren, wo ich Unterstützung bekommen kann.



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (29.01.23, 15:05)
Einfach wahnsinnig gut geschrieben Uwe und nachvollziehbar.

Aber heimlich in fremden Tagebüchern lesen (auch wenn es die eigene Tochter ist) also auch nachvollziehbar aber lieber die Neugier in der Schublade lassen und die Finger vom Tagebuch. 

Liebe Grüße
Alma Marie

 uwesch meinte dazu am 29.01.23 um 15:22:
Die Geschichte ist nicht authentisch, sondern von mir erfunden. Ich nutze gern mal die Ichform, weil Texte dann intensiver aufgenommen werden, denke, dass es ein literarisches Mittel sein darf. Nicht alles muss  persönlich stattgefunden haben.
Tagebücher meiner Tochter oder meines Sohnes habe ich selbstverständlich nie angerührt. Es ist doch klar, dass ein Kind seine eigene Welt haben muss und auch schützen darf.
Danke für Dein Lob und die Empfehlung.
LG Uwe

 AlmaMarieSchneider antwortete darauf am 29.01.23 um 15:27:
Das mit den Tagebuch habe ich auch von Dir nie angenommen. Die ICH-Form benutze ich auch gerne, aber diese Geschichte zieht mich richtig hinein. Da verwischt der Protagonist mit dem Autor. Er ist sehr real.

 uwesch schrieb daraufhin am 29.01.23 um 16:25:
So mag ich es :)  Danke

 EkkehartMittelberg (29.01.23, 17:01)
Übung macht den Meister. Du schreibst viel besser als noch vor einigen Jahren, Uwe.

LG
Ekki

 uwesch äußerte darauf am 29.01.23 um 18:04:
Meinst Du?  Diesen Text habe ich vor ziemlich langer Zeit geschrieben  
Vermutlich habe ich zur Zeit nicht mehr so viel Lust  in die Tiefe des menschlichen Wesens, seiner Seele einzusteigen. Es wird ja leider in diesen Foren überwiegend "leichte" Kost mit gängigen Themen und viel Dünnbrettbohrerei angeboten. Mal sehen wo das Ganze bei mir hinsteuert. Vielleicht jetzt erst mal ein bissel in Tiefergehendes.
Dank Dir auch für Deine Empfehlung und LG Uwe

Antwort geändert am 29.01.2023 um 18:08 Uhr
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