Rolf Cantzen: Deserteure – Die Geschichte von Gewissen, Widerstand und Flucht
Der amtierende Verteidigungsminister ist nicht nur der beliebteste Politiker, sondern fordert, Deutschland müsse „kriegstüchtig“ werden. Die Bundeswehr brauche mehr Soldatinnen und Soldaten und viele neue Waffen, und zwar schnell und zackig. Ob diese Ziele ohne Dienstverpflichtungen erreicht werden, wird sich seiner Meinung nach zeigen. Pascal Beucker schreibt in der Wochentaz vom 14. - 20. Juni 2025 „Vom Unionspolitiker bis zum Sofageneral fordern gerade viele die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht“. (S.3) Die Mehrheit stimmt – ausser den betroffenen Jahrgängen – nach Umfragen dafür. Er meint: „Wehret der Pflicht.“
In dieser Großwetterlage schreibt Rolf Cantzen: „Dieses Buch konzentriert sich auf die Geschichte der Deserteure in Deutschland.“ (S.10) Aber es blickt auch auf die USA, die französische Fremdenlegion und bringt ein Interview mit Nikolai G. , Deserteur aus der Ukraine.
Zu allen Zeiten und in allen Ländern flohen Deserteure vor der Übergriffigkeit des Staats und des Militärs. Meistens nahmen sie große Gefährdungen für Leib und Leben in Kauf. Als Feiglinge und Verräter wurden sie verachtet. Wer erwischt wurde, der hatte nichts zu lachen. Eine hohe Hemmschwelle!
Zur Zeit des 7jährigen Kriegs (1756 – 1763) wird „Desertion“ als Begriff für die Flucht vor dem Militärdienst üblich. (s. S. 21). Soldaten wurden zwangsrekrutiert, schlecht versorgt und selbst bei geringen Vergehen rücksichtslos bestraft.
Das änderte sich auch vor und im 1. Weltkrieg ( 1914 – 1918) nicht.
Besonders brutal war der Umgang mit Deserteuren im Terrorstaat der Nazis ab 1933, speziell nach dem Überfall auf Polen und im 2. Weltkrieg (1939 -1945). Empörend findet Cantzen auch ihre Lage in der Nachkriegszeit ab 1945. Denn während die ehemaligen Täter erneut Karriere machten, blieben die überlebenden Deserteure vorbestraft, beleidigt und ausgegrenzt. Selten wurde ihnen ehrenwerte Motive zugestanden. Vor 1945 gab es keine Wehrdienstverweigerung. Jeder, der als tauglich gemustert wurde, musste zum Militär. Neben der strafbaren Selbstverstümmelung und dem Selbstmord blieb so für diejenigen, die keine Soldaten sein wollten, nur das Gefängnis oder die Desertion. Im 2.Weltkrieg wurde „Fahnenflüchtige“ oft standrechtlich erschossen.
Hans Karl Filbinger, der es als ehemaliger Marinerichter im Naziregime in der späteren BRD bis zum Ministerpräsidenten Baden-Württembergs brachte, musste nach seinem Spruch „Was damals Unrecht war, kann heute nicht Recht sein“ zurücktreten, starb aber hochgeehrt. Sein Bericht über den „Vollzug der Todesstrafe“ am Matrosen Walter Gröger“,an dem er beteiligt war, vom 16.3.45 schildert den Vorgang knapp und sachlich. Bedauern und Mitgefühl sucht man vergebens. Er versicherte lebenslänglich, er sei sich keiner Schuld bewußt, sein Gewissen sei rein und er bereue nichts. (S. 151 – 153)
Wie es bei einer Nazigerichtsverhandlung zuging, schildert die norwegische Freundin Walter Grögers Marie Lindgren. Ihr „Verbrechen“ bestand darin, dass sie Walter gern hatte. (S. 116)
Rolf Cantzen bringt anschauliche Beispiele, die er gut dokumentiert. Sie verdeutlichen, wie andauernd und verbreitet die Diskriminierung der Deserteure ist. Erst 2009 (!) wurden die Naziurteile in Deutschland gegen sie aufgehoben. Auf Vieles an diesem bemerkenswerten Buch kann hier nicht eingegangen werden. Da hilft nur die eigene Lektüre. Die 12seitige Literaturliste zur Desertion regt zum Weiterlesen an.
Momentan geht es darum eine Dienstpflicht zu verhindern. Ein so weit gehendes Recht des Staates wäre ein Rückschritt in die Zeit der Gewissensprüfungen. Diese Bedrohung von innen ist gefährlich . Das gilt auch für die geplante Aufrüstung. Ein dreifach gesteigerter „Wehretat“ fördert die Propagierung von Feindbildern. Dient das der Verteidigungsfähigkeit?
Cantzen schließt sein wichtiges Buch mit den Worten :
„Mir bleibt die Hoffnung, dass Kenntnisse über die Geschichte der Desertion und die Geschichten der Deserteure Menschen davon abhalten, den immer lauter werdenden bellizistischen Kräften auf den Leim zu gehen“. ( S. 202)
Ich erinnere mich an eine Erzählung aus meiner Familie: der Mann meiner Tante versteckte sich am Ende eines Kurzurlaubs bei Frau und Kind auf dem Dachboden. Er fürchtete sich vor der Rückkehr an die Ostfront. Die Feldjäger holten ihn. Er schickte noch ein paar Feldpostbriefe und dann verlor sich seine Spur. Seine Frau und die Schwiegermutter schämten sich für sein Verhalten. Was wohl die Nachbarn dachten über so einen Feigling?
Vielleicht hätte er überlebt, wäre er desertiert...
zu Klampen Verlag, 204 Seiten 28,00 € ISBN 9783987370304