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eins

Kurzgeschichte zum Thema Geister

von  dasAli

Das metallbeschlagene Holztor ihres Verstandes schlug zu. Das Gemäuer erzitterte so stark, dass Putz von den Wänden stob. Durch das Tor drangen schrille Schreie, die ihr ins Hirn schnitten: [Raus! Raus!]

Mama?“ Die Zunge wog schwer in diesem fremden Mund. Das Wort nur ein Hauch.

Eine kurze Stille des Begreifens, in der ein Herz stockte, bis ein beinahe wahnsinniges Gekreische ausbrach: [Raus! Geh weg! Weg!]

Warum? Warum sagst du das?“ Sina drehte sich weg und erblickte durch Sarahs Augen ein Gesicht, dessen Kinn vor Kummer krümmte. Sina weinte zum ersten Mal in ihrem… Dasein.

Sarahs Geschrei glitt in ein jammerndes Klagen fast ein Lied, wortlos aber so voller Elend: [Ich wollte das nicht. Ich wollte dich doch nur halten. Wie konnte das passieren?]

Was passieren, Mama? Ich bin hier. Bei dir. Bitte…“

Sarah verstummte fast, so substanzlos wurde ihre Stimme: [Ja, hier. Aber das hier bin ich. Wir können nicht… Ich will nicht…]

Du willst nicht?“ Sinas Worte waren ein Stöhnen, das sich nur aus Verzweiflung in Sprache auflöste.
Du willst nicht.“ Zu Glas erkaltet.

Du…“ Gerissen.

Zerklungen.

[Sina, nein! Was passiert?]

Sina, so lange nicht gewesen, fühlte sich zum ersten Mal nicht existent. Nicht gewollt. Nicht. Sackte auf die Knie, mit der Stirn an grobes Holz gelehnt. Bereit zu zerfallen, zu zergehen. Nichtsein war besser. Sein tut weh. Sein ist schlimm.

[Sina!]
Panisch. Ein Knarren vibrierte im Gemäuer und tief im Boden, als das Tor sich tonnenschwer bewegte, nur ein Spalt weit, bis Sarahs Hand suchend hindurchgriff und Sinas fand. [Baby…[


Mama…“

]Ich[[

„…hab…“

[[…dich

„…so…“

liEb




Die Erinnerung kam hervor — wie aus einer Muschel, die vor Jahrzehnten in Seide eingeschlagen und vergraben worden war. An Sätze, die er noch hören musste: „Ich suche ihn. Sie alle, aber vor allem ihn.“

Edmund hörte jetzt die Stimme, hörte die Silben, die zuvor in seinen Verstand gedrungen waren, und doch sah er niemanden sprechen. Stattdessen spürte er einen Sog, der ihn nach vorne zog – in den Moment, in dem sie ausgesprochen werden würden. Gerade als er glaubte, verrückt zu werden, schwang die Tür des Ladens auf und sie trat aus der Nacht herein.

Er erkannte sie sofort. Edmund hatte aus der Küche zugeschaut, als Thomas mit ihr... verhandelt hatte. Eine von vielen. Aber jetzt... kalter Schweiß ließ ihn jäh frösteln, als sie vor den Tresen schritt.

Die Realität machte einen Sprung und rastete wieder an ihren Platz ein, während sie den Mund öffnete und die Laute formte, die schon längst ihren Weg in ihn gefunden hatten. Er hörte nichts, er wusste es bereits und doch existierte ihre Botschaft erst ab diesem Moment, als hätte er alles rückwärts erlebt. Edmunds Hände suchten Halt, während er erschüttert schwankte.

Wer... Was bist du? Hat Thomas das gemacht? So etwas kann er nicht. Er ist nur Tür, weiß du?“ Der Begriff quoll ungewollt aus der Vergangenheit, aber sie würde wissen, was er meinte. Sie hatte schon längst begriffen, glaubte er. Das hier ist nur das Echo dessen, was sie wusste.

Etwas surrte wie Fliegen um seine Gedanken, und er zwang sich, nicht die Hand zu heben, um sie zu verscheuchen. „Ich weiß nicht, was ich bin“, tropfte es in seine Erinnerung. „Ich habe mich geboren. Bin mein eigenes Kind. Bin meine Mutter. Tot – und am Leben. Eins mit mir. Das habe ich alles selbst getan. Er hat uns nur zusammengebracht. Er ist Tür, ja. Eine, die nicht schließt.“ Sie lächelte traurig, während die Wirklichkeit wieder ihren Platz fand.

Edmund musste sich zusammenreißen, um sich nicht die Schläfen zu reiben und sich nicht ins Gesicht zu fassen. Er hatte das dringende Bedürfnis, festzustellen, ob da noch alles an seinem Platz war.

Sie betrachtete seine gequälte Miene und legte neugierig den Kopf schief – wie ein Kind, dass etwas Neues entdeckt hatte. Ihr Blick wurde fast entschuldigend und etwas verschob sich. Kam ins Gleichgewicht, als würden sich Stahlklemmen lösen, und Edmund atmete auf. Und in dem Kontrast seiner Wirklichkeit, die sie ihm endlich wieder zurückgegeben hatte, wirkte sie wie... Traum.

Er wollte stark klingen, und beschützend. Stattdessen fragte er fast schüchtern: „Was willst du von ihm? Thomas kann nichts dafür.“

Für das, was er ist? Ich weiß. Er ist kaputt drinnen. Wie ist das passiert?“

Ein... Irrer hat ihn missbraucht. Für irgendwas. Hat ihm etwas angetan. War alles auf der Kassette. Thomas hat es aufgenommen.“

Aufgenommen?“ Sie hielt den Kopf schräg.

Ja. Alles, was er mit ihm gemacht hat. Es macht einen fertig, sich das anzuhören.“ Ihm wurde schwindelig, als er den Inhalt im Kopf durchging. „Oh, mein Gott. Du warst da. Deine Stimme war drauf.“

Sie schüttelte mit kaum merklich den Kopf. „Nein, Edmund. War ich noch nicht. Erzähl mir davon. Was hat er mit ihm gemacht?“

Ihn zur Tür gemacht. Zur Katze. Das hat er immer gesagt. Wendel, dieses Monster. Sei Katze. Sei Tür. Und als er mit ihm fertig war, hat er Thomas auf einem Haufen Katzenkadaver liegen gelassen. Dachte wohl, dass Thomas es nicht überleben würde. Da habe ich ihn gefunden.“

Er ist bewohnt.“

Was meinst du?“

Viele in ihm. Sie kommen durch ihn hindurch. Immer offen. Immer mehr. Thomas ist versteckt da drin. Tief unten.“

Was kommt durch? Solche wie du?“

Solche wie ich? Nein... Doch...“ Sie sah ihn an „Er ist so allein, da drin.“

Er war immer seltsam. Es wurde schlimmer, nachdem Wendel gestorben ist. Die Polizei hat Wendel erschossen. Er hatte ein Kind entführt, ist auf die Polizisten losgegangen. Da haben sie geschossen. Das ist gut, oder?“ Seine Hände räumten unbewusst den Tresen auf, während er sprach.

Ja, gut für alle. Sogar gut für Wendel, denke ich.“


Sie haben ihn neben seiner Frau und seinem Kind begraben. Was würden sie wohl von ihm halten, wenn sie wüssten, was er geworden ist? Er hat nichts Gutes verdient. Ich hoffe, er schmort in der Hölle.“

Es gibt keine Hölle, außer der, die wir uns erschaffen. Oder jemand anders.“

Woher willst du das wissen? Ich meine... Ist schon gut. Du weißt es. Natürlich, weißt du es.“

Ja. Thomas ist in einer. Er muss da raus.“ Sie sagte es beiläufig, aber mit der Überzeugung – nein, dem Wissen, das es passieren würde.

Du meinst in ihm drin? Was ist da?“

Ich... Ein Teil von mir. Ich war in ihm. Ich habe es gesehen, nur ganz kurz, bevor ich gehen musste. Es ist so schlimm da. So traurig.“ Ein glitzernder Tropfen erschien auf ihrer Wange und kroch in ihr feuchtes Auge. „So viele. Armer Thomas. Wo ist er jetzt?“

Immer woanders. Ich sehe ihn nur, wenn er manchmal hierher zum Essen kommt.“

Ich möchte nicht solange warten.“

Edmund wusste, sie würde Stunden warten, wenn es sein musste. Tage. „Er ist nie lange an einem Ort. Sucht leere verlassene Gebäude. Keine Ahnung, was er da macht.“

Er tut es, weil er es schon immer getan hat, oder? Wenn alle ihn drängen, etwas zu tun, hält er sich an Gewohnheiten. Er sucht sich seine Orte.“

Was nun?“

Ich habe nur noch diese eine Aufgabe. Es wird passieren. Ich drehe es um, und lasse mich zu ihm tragen.“

Was soll das bedeuten?“

Noch bevor eine Antwort erfolgte, fühlte es Edmund wieder. Das Umdrehen, Verschieben und Verschränken. Schimmelzerfressene Kissen. Winzige, von Ratten angenagte Stühle. Bunt bemaltes Papier, dessen Ecken von der Feuchtigkeit schwer herabhingen.

Du. Eddy. Hast jemanden mitgebracht“, klang es aus der dunklen Ecke, erinnerte er sich. „Sarah. Nein? Doch, das ist sie. Oder nicht?“ Thomas würde von diesem Kinderstuhl aufstehen, während das Schaben der Stuhlbeine rückwärts Linien über den Boden ziehen würden.

Edmunds Schädel schien sich zu spannen. Flehentlich sah er sie an – sie im Hier und Jetzt. Sie schaute mitleidig zurück und würde scheinbar gleichgültig Thomas zuhören. Sie würde mit den Fingern über den Staub auf der Kommode streichen und die Körner erfühlen, unbeeindruckt von Thomas aufkeimendem Zorn. „Was wollt ihr hier? Lasst mich alleine. Das ist mein!“

Sie will helfen, Thomas“, er schloss hinter ihr den Laden zu, alle lichter brannten noch. Er würde sich hinter sie stellen, feige Schutz suchen. Ja, feige. Er konnte das Auto kaum geradeaus lenken, so gelähmt war er. Schlimmer als Todesangst. Es gab Schlimmeres, ja. „Sie kann helfen, Thomas. Sie ist besonders. Sie hat dich gesehen. In dir drin.“

Sch... genug, Edmund.“ Sie legte ihm eine beinahe gewichtslose Hand auf die Schulter. „Das ist er nicht. Mach dir nicht die Mühe. Das ist jemand anderes.“ Endlich hob sie den Kopf und sah Thomas an. Etwas blickte zurück, doch nicht er.

Sie stiegen aus dem Auto und gingen im Dunkeln durchs Gestrüpp, kletterten über einen eingerissenen Maschendrahtzaun und fanden eine offene Tür in einem niedrigen, zerfallenden Gebäude. Die Schritte hinein erfolgten wie mit Rückenwind, und so kurz vor dem Ende stemmte sich Edmund dagegen – doch es half nichts. Was geschehen würde, war geschehen.

Thomas Stimme war raubtierhaft – grunzend und zischend. „Du willst helfen? Du willst wem helfen? Uns? Ihm? Er ist eingesperrt und allein. Er hat alles uns überlassen.“

Edmund erinnerte sich und sank erschüttert auf die Knie. Er erinnerte sich an das, was kommen würde. Es brach ihm das Herz. „Tu es nicht. Lass uns gehen. Soll er in seinem Elend existieren, er ist es nicht wert.“

Sie nickte Edmund zu und lächelte. „Natürlich ist es das, Edmund. Ich habe keinen anderen Zweck. Nur das macht Sinn.“

Edmund hob eine Hand, nur eine. Die Geste blieb in der Luft hängen, verloren. Ein Luftzug küsste seine haut, der ihrem Körper vorausging. Sie glitt an ihm vorbei. Der Sog stoppte abrupt und Thomas knurrte: „Noch einen Schritt und du bist tot.“

War ich schon.“

Es sprang sie an.


Ein Aufprall, wie auf Wasser nach langem Fall, erschütterte sie bis ins Innerste. Es war nicht nass – nur klebrig, kalt. Sie zuckte vor der Kälte zurück, nur gab es kein Zurück. Es gab nichts. Das Reich der Toten war leer. Das Reich gehörte niemandem mehr. Sie kannte dieses Nichts. Oder hatte es gekannt. Aber irgendwo hier gab es noch etwas anderes. Ein Auge. Eine Katze. Eine Tür. Es war leicht etwas zu finden, wenn es das einzige war, das existierte.

Wieder einmal gab sie sich dem Sog hin. Er würde sie hören. Er erinnerte sich bereits. Sie sang, und mit jedem Wort näherte sie sich dem Ort, an dem er sie brauchte.

Etwas kroch an ihrem Mundwinkel entlang, sie leckte es auf und kaute darauf. Der Geschmack war faulig, aber der Sog hatte es so vorgesehen, als sie begann, die Melodie in die Finsternis zu schicken.

Losgelöst drehte sie sich im Kreis wie eine Figur auf einer Spieluhr. Eine abgebrochene Figur, die den letzten Schwung der Drehung noch austrug.

Heile, heile Segen...“

Sie trieb dahin, ohne Ende, ohne Anfang, gefangen im Flug.

Es war kein Licht – wenn überhaupt, war es dunkler als die Dunkelheit selbst. Ein Riss, dünner als eine Wimper, aber lang – in dieser Leere fast ein Horizont. Am Rand krochen Gestalten, wollten hinein. Und sie wollte es auch.

...drei Tage Regen...“

Es trug sie hinein, und je näher sie war, desto stärker zog er sie an, dieser Spalt. Ein Fallen und ein Auftauchen, und mit einem Mal konnte sie atmen und der Atem stockte ihr zugleich.

...drei Tage Schnee...“

In einer Richtung ein Rauschen und Wiegen zerfallender, zuckender Leiber. Und in der anderen eine Mauer, stark und mächtig, hoch aufragend, bis sie im Nebel der Ferne verblasste. An ihr brachen die Wellen, die sich im Kampf der Geister auftürmten und hinausgelangen wollten. Sie schüttelte ungläubig den Kopf, als sie sah, was aus Thomas geworden war. Was Thomas hier tatsächlich tat.

...tut schon nicht mehr...“

Er hörte sie bereits und der Sog zerrte sie voran. Mitten hinein und tiefer. Sie verlor jedes Gefühl für Raum, nur die Zeit zeigte ihr den Weg in die Schwärze.

Etwas zupfte an einer Nadel und der Klang erreichte hell und klar ihr Ohr, obwohl auch hier der Lärm der vielen Seelen kaum leiser war. Und zwischen all dem: ein Schluchzen, ein Wimmern.

Ihre Schritte führten sie sicher durch die Blindheit dieser einsamen Leerstelle. Sie fand ihn zusammengekauert, so verloren, wie man in der Finsternis ohne Bezug zu irgendetwas nur sein kann. Sie kniete sich hin und legte die Arme um ihn.

...weh.“

In ihrer Erinnerung hatte er scharf die Luft eingesogen – in seinem eigenen Kerker hatte ihn noch nie jemand gesucht. Er war ängstlich weggekrochen. Hatte sie als etwas erkannt, das seine Mauer einreißen wollte. Erkannt, dass sie anders war. Hatte sie angeschrien. Wollte sich verstecken. Wollte weg, war jedoch zusammengebrochen, weil es keinen Weg dorthin gab. Aber nichts davon tat er. Die Erinnerung reichte, die Realität verzichtete auf das Ereignis. Die Gegenwart brauchte etwas anderes.

Er zitterte in ihrer Umarmung. „Ist das wahr? Du bist meinetwegen hier?“

Ja, Thomas. Deinetwegen. Ich dachte, ich würde dir helfen und dich retten. Aber was du hier tust — ist dir klar, was du da machst?“

Ich habe ihnen den Weg versperrt.“

Das hast du. Du hast sie davon abgehalten, in die Welt zu gelangen. Aber armer Thomas...“

Du bist anders. Warum bist du hier? Willst du die Mauer kaputt machen? Das darfst du nicht.“

Ich wusste nichts von der Mauer — jetzt weiß ich es. Ich bin schon einmal durchgekommen. Und konnte ganz kurz alle hier sehen. Das war so traurig, Thomas. Aber ich durfte hindurch. Du hast mich rausgelassen. Warum?“

Nicht ich.“

Wer dann?“

Sie roch es, bevor sie es hörte – sauer und faulig, wie eine Lache Milch, die vor Tagen in den Teppich gesickert war. Schlurfend wie die toten Tentakel eines verrotteten Traums. Und Thomas wurde klein und rollte sich auf dem Boden zusammen, die Arme um den Kopf gelegt. Wie ein Schutzmantra kamen ihm tonlos die Worte über die Lippen. Heile heile...

Thomasss, mein Lieber… Besuch? Wer ist das? Sag es mir, ja? Sie ist warm wie Blut, ich konnte es bis nach draußen fühlen. Fast wie damals, weißt du noch? Als wir am leben waren.“

Weg von ihm“, sprach sie ruhig aus und stellte sich schützend vor Thomas auf. „Thomas ist am Leben.“

Ja, sicher. Sieh ihn dir doch an. Ich hab ihn zur Tür gemacht. Was ist er jetzt? Ein Nichts von ganz vielen.“

Du! Du bist hier! Bleib weg! Er ist kein nichts. Er ist stark. Er ist unerschütterlich.“

Wendel lachte: „Unerschütterlich? Jämmerlich. Zerbrochen.“

Er hat diese Mauern gebaut. Starke Mauern, die euch daran hindern, über alle herzufallen.“

Soll er seine hübsche Mauern behalten, nicht wahr, Thomasss? Ich habe alles hier, was ich brauche. Und jetzt habe ich auch noch dich.“ Er kicherte fast lüstern.

Sie spürte seine Nähe. Immer näher.

Du bist eine ganz besondere, ja? Nicht ganz wie wir, nicht ganz wie er.“

Thomas' Stimme war kaum zu hören. Er kroch näher, flehend. Bettelnd. „Tu ihr nichts. Bitte, tu ihr nichts.“

Habe ich doch schon getan, mein Lieber. Da draußen. Mit deinen Händen. Vor einem Wimpernschlag. Und jetzt ist sie hier. Ist das nicht lustig?“

Thomas atmete nicht mehr. Dann atmete er ein, und schrie dabei. Atmete aus und schrie Ewigkeiten von Leid hinaus, bis die Decke tief knirschend riss und erste Leiber zu ihnen hinabstürzten und dumpf um sie herum aufklatschten. Wendel lachte.

Nein, Thomas!“ rief sie. „Nein!“

Thomas war blind und taub vor Gram und Zorn, kletterte über die Leiber hinweg und stürzte sich auf Wendel. Beide gingen in der Flut unter und Brocken regneten auf sie nieder.

Sie stand inmitten dessen, was über Thomas hereinbrach, und wurde doch nicht weggeschwemmt. Eine Insel, umspült von einem reißenden Fluss. Thomas konnte Wendel nicht vernichten, das musste er doch wissen. Sie sah, dass es nicht um das Vernichten allein ging. Aber wo sollte das enden? Konnte es enden?

Etwas... jemand berührte sie. Zaghaft. Ein Mann. Zwei Tränenpfade wischten Linien durch den Dreck auf seinen Wangen. Die Hand aus der Masse herausgestreckt, legte er zwei Finger auf ihren Fuß und seufzte. Sarah/Sina sah hinab und weinte mit ihm. „So warm“, sprach der Mann. „Bist du ein Engel?“

Andere Geister wandten sich ihr zu, die Sehnsucht tief in den Augen, ein Staunen, fast ein Lächeln im Gesicht. Als hätte jemand einen Kiesel in diesen Ozean aus Leibern geworfen, drehten sich alle in Wellen um und sahen sie an. Mutter. Tochter. Eine von ihnen und doch ganz anders. Warm von Liebe. Warm vom Leben, obwohl sie nicht lebte.

Wendel stand mitten darin und starrte. „Was? Was machst du?“ Thomas war nirgends zu sehen.

Sie würde sprechen und Thomas begann sich zu erinnern. Sie hatte verstanden, er würde auch verstehen. „Thomas, das Leben hat sie gelockt. Sie konnten nichts dafür. Wo sie herkamen, dort ist nichts. Alles leer und kalt.“ Sie ging langsam auf den Spalt zu, alle machten ihr Platz und folgten ihr dann schweigend. „Sie wollten dir nichts Böses. Glaubst du das? Du warst so stark und so tapfer.“

Wendel brüllte auf und kletterte über die langsam wandernde Masse. „Das kannst du nicht tun! Das ist meins! Alles meins! Ich vernichte dich!“

Köpfe drehten sich zu ihm um, als sie diese Drohung hörten. Einzelne Hände streckten sich nach ihm aus und packten ihn. Wendel ging schreiend unter. Feuchtes Reißen spritze Schwarzes durch die Ritzen zwischen den Körpern hinaus.

Ein Geist schrie voller Pein auf. Eine Frau. Mit einem Kind an der Hand. Ein Weg bildete sich durch den Mob und beide Geister eilten zu dem, was von Wendel übrig war. Sie kniete sich hin, und sah ihn an, und in ihrem Blick lagen Liebe, Schmerz und das Entsetzen über das, was er geworden war. Es drang bis in Wendels letzte Sekunde, bis in seinen Wahn. Um seine geweiteten Augen kräuselten sich seiner Lider wie Pergament, als er in ihren Armen vertrocknete. Aus Scham, aus Abscheu über sich selbst.

Er war nicht immer so“, sagte die Frau. „Mein Mann war gut...“ Sie sprach weiter, jedoch ohne gehört zu werden. Sina/Sarah legte die Arme um sie, nahm schließlich das Kind an die Hand und führte beide aus dem Spalt hinaus.

Erinnerungen an einen Abschied ließ sie da, und irgendwann würde sie es vielleicht aussprechen, vielleicht auch nie. In Stille schritt sie voran und alle folgten ihr, dieser Sonne aus Liebe und Wärme, die allem voranging.

Jetzt, nachdem sie beschlossen hatte, was sie war, hinterließen ihre Füße Spuren aus Gras und Blumen, die sich langsam ausbreiteten. In der Ferne verschwammen ihre Konturen, doch aus der Mitte heraus strahlte sie warm in alle Richtungen. Stimmen und fernes, süßes Lachen füllte langsam die Leere.

Als der letzte Geist hinaustrat, lag Thomas Innerstes in Trümmern und in Totenstille da. Weit, kalt und dunkel. Thomas, besiegt, lag zerschunden auf kargem Fels, fremd in diesem Abgrund, der jetzt ihm allein gehörte.

Er erinnerte sich an ihre Worte und würde sie vielleicht hören. Eines Tages. Wenn sie sich wieder gegenüberstanden. Doch jetzt, in diesem Moment, war er allein und sah, dass warmer Lichtschein hineinfiel.

Er kroch näher zum Spalt und sah staunend, was sich dort zutrug. So etwas Schönes, was sich dort im Licht entfaltete, hatte er im Leben nicht gesehen.

Er streckte die Hand aus, um durch den Riss die Wiese zu berühren — aber sie verlor ihre Festigkeit, wurde licht, und er sah das Grün durch sie hindurch. Nicht das Verschwinden ließ ihn zurückzucken, sondern dass er nichts fühlte. Noch nicht. Jetzt noch nicht. „Bis bald, Thomas. Ich warte hier. Irgendwann.“


Edmund hielt ihren leblosen Körper im Arm. Als Thomas erwachte, zog er sie näher zu sich, als müsse er sie noch beschützen. Thomas weinte, als er sie dort liegen sah.

Sie war ein Engel, oder?“

Wenn nicht, sollten Engel so sein.“ Edmund holte tief Luft, bevor er fragte: „Thomas? Bist du es?“

Ja.“



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