Ein Tödlicher Fahrradunfall mit Konsequenzen
Kurzgeschichte zum Thema Unfall
von Koreapeitsche
(Der Kieler Brückensturz)
Intro
Von der folgenden Kurzgeschichte schaffte ich es nur, den Anfang zu schreiben. Das Thema erwies sich als sehr belastend, zumal ich den Spieler von Trainingsspielen im Verein persönlich kannte und uns allen das Unglück noch in den Knochen steckt. Ich entwickelte eine Schreibblockade, die für mehrere Wochen anhielt, bis ich im Urlaub in Prag in einer Punkrockkneipe am Tresen saß. Da fiel mir die unfertige Kurzgeschichte ein. Ich zückte das Notizbuch und schrieb die Geschichte in einem Rutsch zu Ende. Der erste Teil, der in Kiel geschrieben wurde, ist in einen anderen Schrifttyp gesetzt als der zweite in Prag geschriebene, um die Zäsur erkennbar zu machen.
(Teil 1, geschrieben in Kiel)
Inzwischen hat sich die Story zu einer Art Volksethymologie entwickelt, eine Urban Legend, die fast jeder kennt, die Geschichte vom tötlich verunglückten Fahrradfahrer. Der Unfall wirkte auf viele traumatisierend. In seinem Ablauf wirkte er nahezu fantastisch.
Jeder, der regelmäßig über die Hochbrücke fährt, weiß, dass es unterschiedliche Weisen gibt, die Brücke zu überqueren. Einige fahren aus Angst vor dem über 40 Meter tiefen Abgrund grundsätzlich in der Mitte der Fahrradspur und weichen erst nach rechts aus, wenn ein Fahrrad entgegenkommt oder links überholt. Auch Mofas durften hier fahren. Es galt als waghalsig, freihändig zu fahren oder sich während der Fahrt vom Sattel zu erheben, um höher zu stehen und einen besseren Ausblick über die Landschaft zu ergatern. Im Extremfall blickten einige Hartgesottene während der Fahrt über das Geländer in den Abgrund, speziell wenn große Schiffe unter der Brücke hindurchfuhren. Einige stoppten und genossen den Ausblick, andere waren lebensmüde, selbstmordgefährdet und veranstalteten private Mutproben. Andere spuckten über das Geländer und beobachteten die Flugbahn.
Die Fahradstrecke über die Hochbrücke gehört sicher zu den spektakulärsten in der Region. Es muss erwähnt werden, dass es hier schon eine ganze Reihe von Selbstmorden gab. Auch ein junger Mann aus meinem Stadtteil sprang damals von der Brücke, was eine ganze Reihe von Spekulationen über den Todesfall auslöste bishin zur Mordtheorie, dass ein Auto stoppte und er gewaltsam von der Brücke gestoßen wurde. Das war eine der Horrorgeschichten meiner Jugend, die wir dennoch nicht so recht glauben konnten.
Einmal holten wir hier nachts einen Selbstmörder von der Brücke, als wir zu viert um 3 mit dem Fahrrad aus der Disco zurückfuhren. Der Mann war drauf und dran, in den Abgrund zu springen und stand bereits auf der anderen Seite des Geländers. Als wir die Situation erkannten, redeten wir wohlwollend auf den Mann ein, bis er wieder übers Geländer zurück auf den Radweg kletterte. Er kam ein paar Meter mit uns in Richtung des nächsten Stadtteils, bis wir uns alles Gute wünschten, voneinander verabschiedeten und unseren Weg fortsetzten.
Das ist jetzt die traurige Geschichte: Ein talentierte Abwehrspieler in der ersten Mannschaft unseres Fußballvereins setzte sich zunehmend durch. Bald galt er auf seiner Position als unangegochten gesetzt. Die gesamte Mannschaft war im Aufwind, schaffte es jedoch nie in der Klasse an die Tabellenspitze oder auf einen der Aufstiegsplätze. In der folgenden Saison wurde eine Zweitligamannschaft auf den überragenden Abwehrspieler aufmerksam, und ihm wurde ein Vertrag als Halbprofi angeboten. Den neuen Verein in der Nachbarstadt konnte er gut per Auto innerhalb von 45 Minuten erreichen, sodass er mit seiner Familie am alten Wohnort verbleiben konnte. Insgeheim hatten viele damit gerechnet, dass er sich im neuen Verein durchsetzen würde. Er gehörte zum Kader der Zweitligamannschaft und bekam seine Einsätze, auch wenn er nie Stammspieler wurde. Am Ende der Saison hatte er mit dem Mannschaft die Zweite Bundesliga erfolgreich halten können. Es war sogar noch etwas Luft nach unten. Doch in der folgenden Saison stieg die Mannschaft ab. Der Spieler absolvierte immerhin 7 Zweitligaspiele und ein DFB-Pokalspiel, bekam sowohl gelbe als auch rote Karten. Als es zu dem hier beschriebenen Vorfall kam, hatte er seine Karriere als Fußballer bereits beendet und spielte zuletzt in einer Alte-Herren-Mannschaft.
(Teil 2, geschrieben in Prag)
Wenn er einen Tag zur freien Verfügung hatte, war er gern mit dem Fahrrad unterwegs. Für ihn war es zusätzliches Konditionstraining, auch längere Strecken mit dem Herrenrad zurückzulegen. Das Fahrrad erweckte den Eindruck, als sei der Sattel für den kräftigen 1,90-Typen etwas zu tief eingestellt. Er fuhr gerne runter zum Wasser, genoss dabei eher die Landschaft, als dass er schnell fuhr. Manchmal fuhr er in Richtung Innenstadt, wobei er die Hochbrücke überqueren musste, die eine Doppelbrücke war mit zwei Spuren pro Brücke jeweils in nur eine Fahrtrichtung.
Als er eines Tages über die Hochbrücke in Richtung Innenstadt fuhr, geschah das Unglück. Er war bekannt dafür, dass er ordentlich in die Pedalen treten konnte und fuhr teils mit hoher Geschwindigkeit. Die Brücke hatte zunächst einen steilen Anstieg und nach dem höchsten Punkt ging es kontinuierlich mit relativ starkem Abfall bergab. Als der Radfahrer den Scheitelpunkt der Brücke passiert hatte, trat er kräftig in die Pedalen, um Tempo aufzunehmen. Da der Kanal kurz vor den Schleusen besonders breit ist, hatte er schon eine hohe Geschwindigkeit, als sich immer noch kein Land unter der Brücke befand. Plötzlich blockierten die Pedalarme aus ungeklärten Gründen. Es ging alles sehr schnell. Das Hinterrad hob ab. Der Mann flog über den Lenker, und, wie das Schicksal es wollte, stürzte schräg über das Geländer rechts neben ihm 40 Meter in die Tiefe. Er war sofort tot. Wie konnte das passieren?
Das Brückengeländer war nicht besonders hoch, vielleicht so hoch wie der Tresen in einer Kneipe. Er muss zudem sehr dicht am Geländer gefahren sein. Alle physikalischen Vorraussetzungen trafen aufeinander, die diesen Sturz begünstigten - eine fatale Verkettung der Begleitumstände. Dazu gehörten die Geschwindigkeit des Fahrrades, Gewicht und Größe des Sportlers, die geringe Höhe des Geländers, die Nähe des Radfahrers zum Geländer, die Justierung von Fahrradteilen wie Sattel und Lenker, die momentane Körperhaltung, die Lenkbewegung und schließlich der plötzliche Defekt am Fahrrad, der das Hinterrad abheben ließ. Diese acht Parameter passten in einer Wirkweise zusammen, sodass es unter abweichenden Umständen nahezu unmöglich gewesen wäre, dass es zu diesem Worst Case Scenario hätte kommen konnen. Einige brachten die Selbstmordtheorie auf, doch Zeugen in vorbeifahrenden Autos widerlegten dies. Es war tatsächlich ein Unfall, einzigartig in seiner Form, der Konsequenzen erforderlich machte.
Mehrere Zeugen berichteten, dass ihm unmittelbar vor dem Unfall eine blonde Frau mit dem Fahrrad entgegenkam, die sich nach dem Unfall jedoch nie gemeldet hat. Andere berichteten, dass der langanhaltende Schrei des herabstürzenden Radfahrers sogar von der Kanalfähre aus zu hören gewesen sei. Aufgrund der großen Entfernung zwischen Brücke und Fähre muss dies jedoch bezweifelt werden.
Um weitere Unfälle dieser Größenordnung zu verhindern, und um die Gemüter zu beruhigen, entschied sich die Stadt, das gesamte Brückengeländer auf nunmehr knapp zwei Meter zu erhöhen, sogar mit einem leicht nach innen Richtung Radweg gewölbten Geländerabschluss. Diese bauliche Veränderung wurde auf den Fahrradwegen beider Seiten der Doppelbrücke vorgenommen. Allerdings gibt es am Kanal weitere Hochbrücken, bei denen die Brückengeländer unverändert blieben. Jedoch herrscht dort nicht annähernd so viel Fahrradverkehr. Die Aufstockung des Geländers auf dieser Brücke wirkte versöhnlich auf alle Betroffenen, die Familie, den Fußballverein und auf die Radfahrerszene, sodass sich alle sicher sein konnten, dass dies Desaster sich nicht wiederholen würde. Ergo war dieser begnadete Abwehrspieler nicht umsonst gestorben. R.I.P.