Der Budapester Schürzenlauf

Kurzgeschichte zum Thema Urlaub/ Ferien

von  Koreapeitsche

Kiel - München - Wien - Budapest ‘87. Als ein Teil des 13. Jahrgangs der Gesamtschule sich am Kieler Hauptbahnhof traf, herrschte bereits exzessive Partystimmung. Einige Schüler*nnen hatten Alkohol und Dope dabei. Das Ziel der Klassenfahrt war Budapest, die Hauptstadt der Sozialistischen Volklsrepublik Ungarn. Es sollte Umsteigestopps mit Aufenthalt in München und Wien geben. Schon auf der Fahrt nach München wurde es in den Abteilen feucht-fröhlich. Die Lehrer waren laissez-faire eingestellt und akzeptierten den Alkohol- und Haschkonsum. Die Lehrer ließen im Prinzip alles laufen, auch wenn absehbar war, dass es in die Hauptstadt eines Ostblockstaats ging, in dem andere Regeln galten als bei uns im Westdeutschland. Wir konnten zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass in fast zwei Jahren der Eiserne Vorhang fallen würde. Wir Schüler kannten nichts anderes als die Teilung der Welt in Ost und West, ja sogar Afrika war eingeteilt in Interessensgebiete des kapitalistischen Westens und des sozialistischen Ostens.
      Teile der Lehrerschaft auf Klassenfahrt gehörten K-Gruppen an und hatten Verbindungen nach Budapest. Also wurde Kontakt aufgebaut und eine Klassenfahrt organisiert. Die meisten von uns waren zuvor schon mal im Ostblock - zumeist in der DDR - entweder auf einer früheren Berlin-Klassenfahrt mit Tagesvisum nach Ostberlin oder um Verwandte zu besuchen. In Ungarn waren wohl bisher nur wenigsten, vor allem die Lehrer, die den Kontakt herstellten, die Reise planten und buchten.
      Die Fahrt mit dem ICE ging zunächst einmal durch Deutschland. Das ging fix. Wir konzentrierten uns weniger auf die Fahrt und umso mehr auf die Gespräche. Bald waren wir in München, wo wir in den Zug nach Wien umsteigen sollten. Wir hatten zwar etwas Wartezeit, sollten den Bahnhof jedoch nicht verlassen. Auf dem Münchener Hauptbahnhof tranken wir keinen Alkohol. Einige setzten sich rittlings auf ihre aufrecht stehenden Koffer. Abseits der Reisegruppe wurden vereinzelt Zigaretten durchgezogen. Das war zu der Zeit auf den Bahnsteigen noch erlaubt, sogar im Zug. Die meisten blieben bei ihren Koffern und Reisetaschen, besonders die jungen Frauen. In München wirkten einige zum ersten Mal etwas aufgeregt, da klar wurde, dass es ziemliche Reisestrapazen waren und es dazu in einen Staat ging, der zum Ostblock gehörte. Es wurde weiter fleißig gequasselt. Im Großen und Ganzen blieb die Reisegruppe geschlossen. Plötzlich herrschte Panik. Wir sollten den Bahnsteig verlassen, da der Zug auf einem anderen Gleis fahren sollte. In einem Rutsch änderten wir unsere Position. Es wurde hektisch, und es wurde teils mit Gepäck gelaufen. Das war nicht einfach, zumal wir einen Rollstuhlfahrer in unseren Reihen hatten. Die Zeit wurde knapp. Alle bestiegen rechtzeitig den besagten Zug. Jetzt ging es von München nach Wien. Das war eine wirklich wunderbare Strecke. Die Partylaune intensivierte sich weiter.
      Ich hatte einen kleinen Kassettenrekorder mit auf die Reise genommen, den mir der Bruder meiner damaligen Freundin geliehen hatte. Dazu hatte ich eine Handvoll Tapes dabei, einen Sampler mit internationalen Sachen, eher Postpunk, aber auch Punk. Wir hörten die meiste Zeit Punkrock, etwas Cowpunk, Beasty Boys und Emo-Punk. Ebenso hatte ich einen Brief im Gepäck von meiner inzwischen Ex-Freundin. Ich hatte mit ihr kurz vor der Klassenfahrt Schluss gemacht, da sie mit einem anderen Typen geknutscht hat. Trotzdem bat sie mich, den Brief mitzunehmen und erst in Budapest zu öffnen.
      In Wien hatten wir mehrere Stunden Aufenthalt. Wir stellten das Gepäck in Schließfächern ab und fuhren mit einer kleinen Gruppe mit der Straßenbahn in einen Park, wo wir uns zusammensetzten und etwas tranken. Dort im Park sahen wir eine Gruppe kaputter Gestalten, vermutlich Junkies, die sich im Wiener Schmäh unterhielten und etwas Unbehagen auslösten. Leute in dem Stil konntest du in jeder westdeutschen Großstadt antreffen, ob Frankfurt, Hamburg oder Kiel. Schließlich ging es zurück zum Bahnhof, wo wir den Zug nach Budapest nahmen. Der Zug war ein anderer Bautyp als die zwei Züge, die wir bisher genommen hatten. Wahrscheinlich war es ein ungarischer Zug. Jemand sagte, es sei sogar die Transsibirische Eisenbahn.
      Die folgende Zugfahrt von Wien nach Budapest war spannend. Im Grenzbereich fuhren wir durch die Wildnis. Es war nur grün zu sehen, keine Häuser, keine Zivilisation, keine Berge, keine Grenzanlagen - nur unendlich viele hohe Nadelbäume. Von uns vollkommen unbemerkt fuhren wir mit dem Zug durch den Eisernen Vorhang ins sozialistische Osteuropa. Dieser Vorhang war an dieser Zugstrecke ohnehin nur imaginär und existierte sonst nur in den Köpfen und auf den Landkarten. Die Grenzkontrolle erfolgte während der Fahrt im Zug. Mehrere Uniformierte gingen durch den Zug. Verständigung war kaum möglich und nicht gewollt. Ein Grenzbeamter schob die Tür auf und verlangte die Pässe. Er stand auf dem Gang und lehnte sich kurz ins Abteil, um die Pässe einzeln und bereits aufgeklappt entgegen zu nehmen. Alle zeigten ihre grünen Reisepässe, die kurz und konzentriert überprüft wurden. Es gab keine Komplikationen. Die Uniformen der Grenzbeamten erinnerten an die DDR-Uniformen und waren lediglich etwas grüner. Die Fellmützen wirkten deutlich kleiner, die Abzeichen präsentierten sich im typischen Ostblock-Stil. Während der Kontrollen hielten wir den Alkohol bedeckt. Dennoch schenkte ich einem Grenzsoldaten auf dem Gang den Rest einer Ballentines-Whiskyflasche als Geste der Freundschaft. Nach den Kontrollen ging der Alkoholkonsum unkontrolliert weiter.
      Als wir auf dem Hauptbahnhof in Budapest ankamen, waren einige schon ziemlich kaputt - von der Reise und vom Alkohol. Wir fuhren mit Taxis in die Herberge. Jeder von uns hatte die Adresse auf einem Zettel notiert, den wir im Portmonee aufbewahren sollten.
      Das Wichtigste vorweg: In der Hotel-Lobby gab es stangenweise Camel-Filterzigaretten, auch Rotwein der Marke Pinot Noir. Bloß für den Wodka mussten wir raus aus dem Hostel und rein in eins der nahen Lebensmittelgeschäfte, in denen es stark nach Paprika-Salami roch. Die kleinen Paprika-Salamis hingen en masse an einer Kachelwand von Haken herunter. Wir brauchten sie nur abzunehmen und in den Warenkorb zu legen. Alles war spottbillig und die Zigaretten B-Ware. Die Zimmer waren geräumig mit je vier Betten. In fast allen Zimmern war Party non stop.
      Ich hatte eine kleine Kamera und zwei ganze 36er-Filme dabei. Es war eine MINOX. Das bedeutete, ich könnte 72 Fotos schießen, was mir in den rund zehn Tagen durchaus gelang. Als ich den zweiten Kodak-Film einlegte, war gerade eine ziemlich chaotische Party im Hostel angesagt. Alkohol wurde auch in den Duschräumen konsumiert, teils gemischt und spärlich bekleidet, teils in Sommerkleidung, teils nur in ein langes Handtuch eingehüllt. Die Party fand vor allem auf den Zimmern statt, ebenso mit viel Alkohol, bevorzugt Rotwein Pinot Noir und Wodka. Der Pinot Noir war unser Trendgetränk auf diesem Ostblocktrip. Die Frauen im Zimmer neben uns hatten die ganze Zeit nur ein Tape mit “The Rocky Horror Picture Show“ laufen. Bei uns war meistens Punk und Postpunk angesagt, und immer wieder “Fight for your Right to Party“ von den Beastie Boys. Der Song wirkte ganz anders in einem sozialistischen Staat wie Ungarn. Hier im Osten hatte er eine ganz andere Bedeutung, als im kaputt-kapitalistischen Westen, obwohl es doch immer noch der gleiche Song mit dem gleichen Text war. Deshalb hätte der Song  besser “Fight for your Right to Party in a Socialist Country“ heißen müssen.
    Ich schoss zumeist Party-Fotos und leider nur wenige von der Stadt. Während der Klassenfahrt war mein Alkoholkonsum dermaßen hoch, dass ich den Fotoapparat entweder im Hostel ließ und gar nicht mit ins Stadtzentrum nahm, oder vergaß den Apparat in einem geeigneten Augenblick hervorzuholen. Deshalb sind bestimmt 80 Prozent der Fotos im Hostel aufgenommen. Das ist für mich ein Armutszeugnis.
      Wir gewöhnten uns mit dem „harten Kern“ an, morgens ins türkische Thermalbad im Gellerthotel zu fahren, uns dort im Wasser zu bewegen, zu relaxen, Wechselbäder zu nehmen, kurz ins kalte Abschreckbad zu springen,  hin und wieder Massagen zu bekommen und uns in unterschiedlichen Saunen aufzuhalten mit abgestuften Temperaturen, die sich von Sauna zu Sauna um je 10°C erhöhten. Das Maximum lag bei 95°C. Wir trugen dabei die beigen Thermalbadschürzen, die hinten am Rücken mit zwei Bändern zusammengebunden waren. Das Thermalbad war wie eine Kur für uns. Das Problem bestand allerdings darin, dass wir schon morgens früh mit dem Saufen anfingen, meistens den Rotwein Pinot Noir, allerdings auch den Wodka in 0,5-L-Flaschen. Viele von uns hatten zehn Tage lang 24 Stunden Alkohol im Blut. Viele machten zehn Tage lang Party.
      Im Thermalbad waren vor allem ältere Herren zugegen. An anderen Tagen und zu anderen Uhrzeiten sollen es ausschließlich Frauen gewesen sein. Wir mussten jedes Mal durch das riesige Hotelfoyer, wenn wir ins Thermalbad wollten. Einmal sahen wir den weltberühmten Schauspieler Klaus-Maria Brandauer in einem weißen Bademantel und Flip-Flops durch das Foyer in Richtung Bad laufen.
      Ein paar Leute aus der Klasse kamen auf die irrsinnige Idee, nur in den Thermalbadschürzen bekleidet über die Gellertbrücke zu laufen, also von Buda nach Pest. Es war zunächst eine Vierergruppe. Als ich Interesse bekundete, wurde ich eingeladen teilzunehmen. Also trafen wir uns mit der halben Reisegruppe in einem Park gegenüber des Gellerthotels, wo wir uns mit den Wodkaflaschen einstimmten, die wir teils mit O-Saft zu Wodka-O mischten. Den Orangensaft hatten wir in gelben 0,5-L-Plastikflaschen eingekauft. Die fünf Läufer hatten jeweils eine beige Schürze aus dem Thermalbad dabei, die wir beim letzten Thermalbadbesuch nicht abgegeben, also stibitzt hatten. Wir schossen zunächst ein paar Fotos, als wir noch bekleidet im Park standen, alle mit Sonnenbrille. Schließlich zogen wir uns aus und banden uns die Schürzen um. Das sah sehr gewagt aus, zumal die Gesäßmuskulatur komplett blank war. Jetzt wurden erneut Fotos von unserer Fünfergruppe geschossen, erneut mit Sonnenbrillen. Ich fühlte mich wie in Woodstock 1969. Wir warfen uns wie Rockstars in Posen, lachten und legten uns die Arme gegenseitig auf die Schultern. Andere aus der Reisegruppe nahmen die abgelegte Kleidung mit, und auf ging’s in Richtung Gellertbrücke. Jetzt startete der Budapester Schürzenlauf. Wir liefen teils in Formation über die Schulter eingehakt, alle vorne mit Schürze wie ein Lendenschurz und hinten blank, jeweils eine Flasche Wodka oder Wodka-O aain der Hand, also insgesamt fünf Flaschen mit Wodka. An der ersten Strebe der Brückenaufbauten stoppte ich, lehnte mich mit dem Rücken gegen den Pfeiler, räkelte mich wie auf einer Sonnenbank und trug meine teure Ray Ban Sonnenbrille. Davon wurden sogleich Fotos geschossen. Auch auf meiner Kamera waren später ein paar dieser Fotos, denn ich hatte die MINOX an einen Schulkollegen weitergegeben. Jetzt schloss ich wieder zu den anderen vier Schürzenläufern auf. Hinter uns liefen amüsierte Mitschüler, die sich freuten und pausenlos fotografierten. Es war ein prächtiges Gefühl und nicht im Geringsten ein Gefühl von Betrunkenheit. Doch ich muss genau wie meine Kollegen hackenvoll gewesen sein. Als wir die Mitte der Brücke erreichten, kam uns eine ungarische Grundschulklasse entgegen. Die Lehrerin wies die Kinder an, sich die Hände vor die Augen zu halten. So ging die Schulklasse blind an uns vorbei, ohne uns zu sehen. Einige Kids stibitzten trotzdem an den Händen vorbei und freuten sich wegen des öffentlichen Ärgernisses. Das geschah mitten auf der Donau. Danach ging es für uns weiter über die zweite Hälfte der Brücke. Mehrere Schüler*nnen warteten bereits am Ziel auf Pester Seite mit unserer Kleidung und den Taschen.
Auf den letzten Metern waren wir doch ein wenig verunsichert wegen des Intermezzos mit der Grundschulklasse. Ich fühlte mich wie ein Sittlichkeitsverbrecher. Als wir auf Pester Seite der Gellertbrücke am Ziel bei unseren Klamotten ankamen, zogen wir uns sofort an. Als hätten wir es geahnt, trafen just in dem Moment mehrere Polizeiautos ein. Die Polizisten stiegen zwar aus, blieben jedoch an den Autos stehen. Sie hatten keine Handhabe mehr, da wir bereits wieder angezogen waren. Sonst hätte es wohl eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gegeben oder im Extremfall einen Abbruch der Klassenfahrt und Ausweisung aus einem Ostblockstaat. Glück gehabt! Wir waren etwas verängstigt, als wir die ungarische Polizei noch eine Weile dort herumlungern sahen. Die Cops hielten sich weiter dezent zurück. Also hielten wir uns nicht länger auf dem kleinen Platz neben dem Brückenanfang am Donauufer und suchten das Weite. Wir sahen, wie die Polizei ebenfalls davonfuhr. Wir kamen nicht einmal zu einem gemeinsamen Abschlussfoto. Unsere Schülergruppe wollte stattdessen zurück zum Hostel. Wir nahmen wieder die Straßenbahn. Doch die Kuh war noch nicht vom Eis. Als wir uns schlussendlich vor den Cops in Sicherheit wähnten, ließen wir den Emotionen wieder freien Lauf, und wir feierten den Budapester Schürzenlauf wie den Gewinn einer Meisterschaft. Wir feierten exzessiv im Hostel und ließen es wie gewohnt so richtig krachen. Die getrennten Duschen wurden zu gemischten Duschen. Das Zentrum der Party lokalisierte sich in zwei Mehrbetzimmern unter Ausschluss der Lehrerschaft und Betreuungspersonen. Diese feierten ihrerseits auf ihren 2-Bett-Zimmern, teils mit ungarischem Kartoffelschnapps. Es wurden weiterhin Fotos geschossen, von denen wir wussten, dass wir sie erst daheim in Kiel in Entwicklung geben konnten. Ein Großteil der Fahrtteilnehmer blieb weiterhin nicht einen Tag nüchtern. Teils bekamen die Schüler nichts von der ungarischen Hauptstadt mit, da sie im Hostel blieben und tranken. Einige konsumierten dermaßen viel Alkohol, dass sie nicht in der Lage waren, bleibende Erinnerungen zu entwickeln.
      Der Touri in mir kann sich besonders an die massiven Gebäude in der Innenstadt erinnern, an eine Metro-Linie unter Tage, die zur Fußgängerzone im Stadtzentrum fuhr. Es hieß, das sei die älteste U-Bahn auf dem europäischen Festland. Auch an eine große, alte Galerie kann ich mich erinnern, die wir besuchten. Wir gingen nur einmal kurz in die Fußgängerzone, als ich mit einer Frau aus der Klasse unterwegs war. Im Nachhinein kann ich nicht nachvollziehen, weshalb wir in dieser Fußgängerstraße nur wenige Minuten verbrachten, vielleicht zwei oder drei Minuten, und danach nicht noch einmal während der Budapesttrips in diese autofreie Zone im Stadtzentrum fuhren. Als wir jetzt diese Straße lediglich kurz kreuzten, fanden wir sie zwar interessant, gingen jedoch unseren geplanten Weg weiter. Ich frage mich außerdem, weshalb wir nicht häufiger mit der Metro fuhren und uns keine Reiseziele anhand des Metroplanes suchten.
      Die Fahrten mit dem Taxi gingen meistens sehr schnell und auf direktem Weg, soweit wir das beurteilen konnten. Die ortskundigen Fahrer hatten es eher aufs Geldwechseln von D-Mark in Forinth abgesehen. Die meisten fuhren wie die Henker. Es wurde ferner berichtet, dass ein paar wenige Fahrer eine auffällig verschachtelte Strecke fuhren, was zwar nervte, aber bei den Taxipreisen tragbar war. Wir ließen den Beschiss mit Genugtuung und einem verschämten Lächeln über uns ergehen. Ich ermahnte einmal einen Fahrer, der systematisch verschachtelt fuhr, zumal wir nach ein paar Tagen ein Mindestmaß an Orientierung in Budapest hatten. Wer wollte schon Streit mit Menschen, wenn es obendrein Verständigungsprobleme gab? Doch auch das kam vor, sofern der Beschiss zu dreist war. Abgesehen davon waren die Taxis so klein und beengend, dass es mitunter schwierig war, entspannt aus den Fenstern zu schauen und sich dem Sightseeing hinzugeben. So weit ich weiß tauschten alle aus der Reisegruppe ihr Geld irregulär. Wir tauschten unser Geld zumeist bei Taxifahrern, denn da gab es eine unschlagbare  Umtauschquote. Kaum jemand aus der Klasse ging zur Bank oder in eine Wechselstube, um D-Mark in Forinth zu tauschen. Wenn dem so war, geschah das nur, um sich über die tatsächlichen Wechselkurse zu informieren.
      Wir gaben den Taxifahrern jedes Mal 50 DM und erhielten ein rollmopsgroßes Bündel Forinthscheine zurück, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Das war durchweg die Regel. Es war jedes Mal spannend wie ein Krimi, wenn dieser Umtausch im Taxi zustande kam. Bei Taxifahrern gab es stets einen Fixpreis, was das Geldtauschen betraf, sodass wir immer exakt den gleichen Forinth-Betrag für 50 DM erhielten, als sei das eine Konvention. Doch der Geldumtausch konnte auch schief gehen. Der Staatsmacht war egal, was lief. Mischte sie sogar selbst mit, um Devisen zu beschaffen? War das Taxifahrertum eine Schattenwirtschaft im Sozialismus? Wie groß die Dimension war, ließ sich nicht abschätzen. Es ließ sich weder kontrollieren, noch verhindern. Der illegale Umtauschsatzes blieb über unsere Klassenfahrt hinaus stabil.
      Eines Tages gab ein Klassenkollege, der von der Statur der kräftigste und der größte war, einem Taxifahrer im Tausch gegen Forinth erneut 50 einen DM-Schein. Wie erwartet erhielt er zusammengerollte Scheine zurück und öffnete das Bündel nicht sofort, um den Tausch zu überprüfen. Erst nach dem Aussteigen, als das Taxi aus der Sichtweise war, checkte er die Summe. Er war schockiert. Nur der äußerste Schein war richtiges Geld, der Rest jedoch zurechtgeschnittenes Zeitungspapier. Der Schüler wurde wütend, auf diese subtile Weise betrogen worden zu sein. Es wirkte, als wäre ein „Kapitalistenschwein“ abgezogen worden. Ab jetzt waren wir gewarnt und wurden vorsichtiger beim illegalen Geldumtausch. Es wäre kühn zu behaupten, dass die Taxifahrer untereinander Personenbeschreibungen austauschten, welche Touris das Bündel Scheine nicht sofort kontrollierten.
      Ich öffnete derweil den Brief, den meine Freundin mir mitgegeben hatte. Der Liebesbrief war geschrieben, bevor ich sie beim Knutschen mit einem anderen Typen erwischt hatte. Als ich den Brief las, flippte ich regelrecht aus. Es war pure Heuchelei. Sie tat in dem Brief so, als würde sie mich lieben, obwohl zu dem Zeitpunkt das Verhältnis mit dem anderen Typen bereits voll in Gange war. Ich hatte eine Entschuldigung in dem Brief erwartet. Doch es war nur geheucheltes Liebesgeflüster, das durchtrieben und intrigant wirkte. Ich nahm mein Feuerzeug und verbrannte den Liebesbrief mitten im Mehrbettzimmer auf dem Holzfußboden. Allerdings las ich den Brief zuvor einer Klassenkollegin vor, um Mitleid zu erheucheln. Ich zückte direkt nach dem letzten Satz das Feuerzeug und fackelte das Schriftstück ab. Danach gab ich mir mit Wodka die Kante und war für den Rest der Klassenfahrt nicht mehr zu gebrauchen.
      Es sprach sich in unserer Klasse schnell herum, dass du in Budapest günstig shoppen konntest, unter anderem Musikinstrumente, wie auch in anderen osteuropäischen Großstädten, so auch in Prag. Ich brachte in Erfahrung, dass ein Kontrabass trotz hoher Qualität umgerechnet weniger als 300 DM kosten würde. Noch hatte ich ausreichend Deutschmark, um einen günstigen Kontrabass zu erwerben. Es musste ja nicht der teuerste sein. Doch mein Guthaben schwand, denn wir gaben weiterhin viel für Alkoholismus aus und gingen mehrmals teuer essen. So landete ich mit dem Klassenkollegen, der beim Geldumtausch betrogen wurde, in einem Nobelrestaurant nahe dem Schloss. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass es so teuer werden würde und bekamen einen Schreck, als uns die Rechnung präsentiert wurde. Der Endbetrag war doch ganz schön hoch, als wir die Rechnung präsentiert bekamen. Das waren im Prinzip Westpreise, auch wenn wir berücksichtigten, dass wir schwarz getauscht hatten. Ich malte mir aus, wie ich einen zu kaufenden Kontrabass mit über die Grenze zunächst nach Österreich nahm, überlegte, ob sich die ungarischen Grenzbeamten mit Alkohol bestechen ließen. Auf der Hinfahrt hatte ich noch den Rest einer Flasche Ballentines dabei, den ich an den Grenzpolizisten verschenkte. Auch den übrigen mitgebrachten Schnaps hatten wir größtenteils bereits auf der Hinfahrt verköstigt. Doch ließen sich die Leute auf der Rückfahrt mit dem eigenen ungarischen Schnaps bestechen?
      Bemerkenswert war der Abend, an dem wir wir fast mit der ganzen Klasse in ein Restaurant gingen, in dem ein Violinist während des Essens spielte. Er ging von Tisch zu Tisch und beglückte die Gäste mit einem Stelldichein. Der Musiker trug ein weißes Hemd und eine dunkle Weste mit Westentaschen. Er freute sich die ganze Zeit beim Geigen, dass die Restaurantgäste ihm während des Essens so viel Aufmerksamkeit schenkten und immer wieder freundlich zu ihm rüberblickten. Er wechselte währenddessen ständig die Position und ging um die Tische. Es schienen bekannte ungarische Melodien zu sein. Als zwei oder drei Leute aus unserer Gruppe damit anfingen, dem Violinisten Geldscheine in die Westentaschen zu stopfen, reagierte er verletzt. Die Freude wich aus seinem Gesicht. Er schien sogar beleidigt zu sein und stellte kurze Zeit später das Violinespielen ein. Wir sahen uns verschämt an und waren uns im Klaren, mit dem Violinisten etwas verkehrt gemacht zu haben. Wir hatten die Situation falsch eingeschätzt und  diskutierten noch lange über den gekränkten Musiker.
    Im Hostel gab es bald Streit mit den Lehrern einer anderen Schulklasse. Die hatten ihr Hostelzimmer direkt gegenüber unseres Mehrbettzimmers. Die kamen aus Bayern und wirkten wie das genaue Gegenteil unserer Lehrer, anstatt freundlich und anti-autoritär waren sie unfreundlich und aggressiv-streng. Die Schüler aus Bayern trauten sich nicht zu feiern oder hatten während der Klassenfahrt Feierverbot. Sie waren sehr diszipliniert, fast schon eingeschüchtert und demütig vom Input durch ihre Lehrer. Diese Lehrer ließen ihre Zimmerschlüssel außen stecken, wenn sie sich in ihrem Zimmer befanden. Das war schon sehr verwunderlich und lud zu Streichen ein. Ergo schloss einer unserer Schulfreunde, ein langhaariger Hippie, deren Zimmertür ab, sodass die zwei Lehrer im Zimmer gefangen waren. Sie fingen an rumzuschreien und mit den Fäusten von innen gegen die Tür zu schlagen. Unser Mitschüler war schon sehr besoffen zu dem Zeitpunkt. Der Schüler hatte sogar den Schlüssel abgezogen und irgendwo auf der anderen Seite des Gangs versteckt. Also konnten Leute vom Korridor aus zwar Kontakt zu den Lehrern aufnehmen, jedoch die Tür nicht öffnen. Bald herrschte Tumult auf dem Gang, und niemand wusste, wie die Lehrer befreit werden konnten. Es war auch nicht möglich, aus dem Fenster zu klettern. Dies geschah am frühen Abend und es war nicht möglich, nach einem Zweitschlüssel zu fragen, denn von den Mitarbeitern unten im Empfangsbereich kannte sich niemand mit den Ersatzschlüsseln aus. Schließlich verriet der langhaarige Mitschüler, wo er den Schlüssel versteckt hatte, und wie stille Post wurde die Nachricht an die Schulklasse aus Bayern weitergetragen. Zu guter Letzt konnten die zwei Lehrer befreit werden, nachdem sie gut zwei Stunden eingesperrt waren. Die zwei Männer waren sehr aufgebracht und bestanden darauf, dass ein Schuldiger präsentiert wurde. Das war typisch Deutsch. Doch der Langhaarige weigerte sich, die Tat einzugestehen und sich bei den Lehrern zu entschuldigen. Wir konnten ihn nicht einfach so verpfeifen. Es wurde mit einer Beschwerde beim Kieler Schulministerium gedroht und einer Sanktion der verantwortlichen Lehrer. Es musste also etwas geschehen. Da hatte ich die Schnauze voll, sagte dem Langhaarigen, dass ich die Verantwortung für sein Handeln auf mich nehme, um die Sache aus der Welt zu schaffen, und ging zu einem der bayerischen Lehrer. Der Schlichter in mir reichte ihm die Hand und entschuldigte sich im Namen der Klasse. Der Lehrer akzeptierte das widerwillig, fluchte zwar noch ein paar Mal, doch die Sache war damit aus der Welt. Es kehrte wieder Ruhe ein.
      Für eine Millionenstadt wirkte Budapest auf mich absolut entschleunigt, anders als die Millionenstädte, in denen ich bisher war, Westberlin, Hamburg, München, Wien, Ostberlin und Köln, obwohl Köln in den 80ern knapp unter einer Million lag. Vom Verkehr und den Menschen wirkte Budapest eher wie eine Kleinstadt. Es war richtig entspannt auf den Straßen, ohne den Geschäftsrummel, wie wir ihn aus Deutschland kannten. Vielleicht war das ein Resultat des Sozialismus? Die Korruption war überschaubar und schien sich auf die Devisenbeschaffung durch die Taxifahrer zu beschränken. Außerdem war der Polizei- und Militärstaat nicht so allgegenwärtig, wie es in Ostberlin der Fall war, wo viele von uns schon einmal waren, ich zum Bleistift auf Klassenfahrt mit meiner alten Sitzenbleiberschule. Budapest war eine stressfreie Stadt. Und so will ich den „realexistierenden“ Sozialismus in Erinnerung behalten. Nicht so ein Polit- und Überwachungsdreck wie in Ostberlin. Das beurteile ich vorbehaltlich des permanenten Alkoholkonsums während der 10 Tage in Ungarn. Besonders die Morgen und die Nachmittage waren in Hotelnähe und in der Innenstadt  sehr entspannt, fast schon dörflich. Unsere Klasse waren allerdings nicht im Früh- und Feierabendverkehr zu den Stoßzeiten unterwegs. Dagegen wirkten die DDR und die BRD wie zwei Beamtenstaaten, die sich durch die Medien und Leithammel in der Politik gegenseitig aufgestachelt und hochgepusht haben, sodass kein entspanntes Miteinander mehr möglich war - über den Fall des Eisernen Vorhangs hinaus. CDU/CSU sei Dank.
      Jetzt sollte auch noch ein Treffen mit einer ungarischen Schulklasse in unserem Alter stattfinden. Wir waren gespannt.
      Als schließlich das Treffen mit der Party mit der ungarischen Schulklasse bevorstand, nahm ich den Kassettenrecorder mit dem “Blood on the Saddle“-Tape mit auf den Weg. “Blood on the Saddle“ war eine US-Cowpunkband, die ziemlich durchgeknallt klangen, wie punkstyle Rodeo-Musik. Deren LP hatte ich vor der Klassenfahrt auf eine TDK SA 90-Tape aufgenommen. Der kleine Telefunken-Kassettenrecorder war etwa halb so groß wie ein Schuhkarton für Turnschuhe Größe 40. Deshalb ließ er sich am Griff wie ein kleines Täschchen transportieren. 
      Die Party fand in einem mehrstöckigen Mietshaus statt, das eher wirkte wie ein Urlaubshotel auf Mallorca am Abend. Ein Großteil unserer Klasse kam mit zu dem Treffen. Wir fuhren geschlossen mit den Öffis. Eine Schülerin hatte die Adresse aufgeschrieben. Die Party fand im dritten oder vierten Stockwerk statt. Ich schleppte den Kasirekorder mit, ohne dass er lief. Als wir auf der Etage ankamen, standen schon ein Grüppchen ungarischer Schüler auf dem offenen Etagengang vor der Wohnungstür. Wir gingen hinein. Hier saßen überall Schüler und unterhielten sich in kleinen Grüppchen. Es wirkte sehr zivilisiert, und es herrschte Frauenüberschuss.
      Die durchweg attraktiven Ungarinnen waren in intensive Gespräche versunken, sahen sich dabei ins Gesicht und in die Augen. Sie vermittelten den Eindruck, als sei der Sozialismus kommunikativer als der Westen. Viele der Frauen trugen schulterlange Pagenfrisuren. Keine trug wirklich lange Haare, als seien sie vor dem deutsch-ungarischen Treffen extra noch mal zum Friseur gegangen. Die Frauen aus unserer Klasse präsentierten sich mit deutlich längere Haaren, teils im Hippie-Style.
      In der Wohnung standen zwar Getränke bereit, wir brachten jedoch jede Menge eigene Getränke mit, zumeist die 0,7-Liter-Flaschen Pinot Noir Rotwein, die wir während des gesamten Budapest-Aufenthalts abwechselnd zum Wodka zischten. Den Partybesuchern standen mehrere Zimmer zur Verfügung. Wir suchten uns einen freien Platz. Die Stimmung blieb entspannt. Da in der Wohnung bisher keine Musik lief, nahm ich den Kasirecorder mit dem “Blood on the Saddle“-Tape, drückte die Start-Taste, nahm ein Bild von der Wand und hängte den laufenden Kasirekorder an den Haken. Die Gastgeber waren zunächst etwas irritiert, jedoch unterhielten die meisten sich weiter, abwartend, wie sich der Abend weiter entwickeln würde.
      Plötzlich kam ein Typ mit einem langen, schwarzen Ledermantel ins Zimmer, richtete sich zu uns Gästen neben dem Kasirecorder aus, sah uns wütend an und zeigte für bestimmt fünf Sekunden den Hitlergruß. Ich fing an zu fluchen, rief „was soll das?“ und zeigte ihm eine Verp*ss-Dich-Geste. Auch die anderen offenbarten eine angewiderte Reaktion. Daraufhin verschwand der Typ wieder. Die entspannte Stimmung war vorerst hinüber. Was sollte das? Im Extremfall war das der Scherz einer Theater-AG, um unsere Reaktionen zu testen. Doch ehrlich gesagt, kann ich mir das nicht so recht vorstellen.
      Entsprechend genervt waren wir. Unsere Clique blieb nur den halben Abend. Als wir uns entschlossen, aufzubrechen, bekamen wir einen Schreck, dass plötzlich so viele junge Leute in unserem Alter auf dem offenen Flur vor der Wohnung standen und sich unterhielten. Die waren wirklich top gestylt, auch von den Frisuren her - mehrere bildhübsche Frauen mit halblangen Haaren darunter. Wir blieben hier zunächst eine Weile stehen mit Blick zum offenen Hinterhof bei Dunkelheit. Es war abends noch angenehm warm. Kein Lüftchen regte sich. Ich sprach eine attraktive Frau mit schwarzem Pagenschnitt an, die direkt vor mir stand. Sie lächelte nicht, ganz im Gegenteil. Sie sah traurig aus, fast schon depressiv. Ich versuchte es schließlich auf Englisch. Doch sie verstand mich nicht und antwortete wieder auf Ungarisch. Danach war ich mit meinem Latein am Ende. Das war sehr frustrierend, und es kamen Aggressionen auf. Zumindest war es emotional sehr aufgeladen. Schließlich verließen wir mit einer handvoll Leuten das Gebäude und mussten die Eindrücke dieses kurzen Zusammentreffens erst einmal verarbeiten. Der Hauptaufreger war natürlich der Schüler mit dem Hitlergruß. Es wirkte apokalyptisch, wie der junge Ungar in einem langen, dunklen Mantel und den langen, schwarzen Haaren nur für ein paar Sekunden diesen Stress fabrizierte. Ich regte mich den ganzen restlichen Abend darüber auf. Entweder waren die gekränkt oder die Musik gefiel ihnen nicht. Vielleicht mochte er keine Deutschen oder hat uns wegen der Musik vorverurteilt? Vielleicht wirken wir zu arrogant, besonders deshalb, weil wir der Party unsere Musik aufdrängten? Immerhin hatten die Klassen es miteinander versucht. Es war vielleicht auch besser so, den Abend protokollarisch abzuarbeiten, denn Verbrüderungsgesten und ausgelassene Partystimmung hätten zu melodramatischen Zuständen führen können, mit Liebesabenteuern, Gefühlsausbrüchen, Trennungs- und Weltschmerz, Tränen und dem Verfluchen der Europäischen Teilung, der Teilung in Ost und West, Kapitalismus und Sozialismus. Trotz des Alkohols blieb es sachlich nüchtern.
      Auch im Nachhinein wirkte es beklemmend, dass ich draußen am Geländer vor der Wohnung die hübschen Ungarinnen stehen sah und wir keine Verständigung zustande brachten. Obwohl die weder Deutsch noch Englisch sprachen, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich wenig Geduld hatte, es mit Händen und Füßen zu versuchen oder mit Universalien. Nach wenigen Augenblicken gab ich die Kontaktaufnahme auf und ging weiter. Ich war schlichtweg überfordert. Allerdings kamen ein paar wenige aus unserer Klasse mit den Ungar*nnen ins Gespräch und schafften es, längere Unterhaltungen zu führen. Die blieben auch den restlichen Abend auf der deutsch-ungarischen Party. Es war also möglich. Doch wir hatten immer noch ein paar Tage in Budapest zur Verfügung.
      Die Architektur in der Innenstadt war wirklich beeindruckend. Die Häuser waren hoch und massiv, größtenteils Altbauten aus dem österreich-ungarischen Kaiserreich. Da wurde klar, dass Budapest eine wirkliche Weltstadt ist. Immer, wenn wir die Donau überquerten, fragten wir uns, ob wir jetzt im Teil Buda oder im Teil Pest waren. Wir sahen mehrmals aus der Ferne sozialistische Gedenkfiguren und Mahnmale auf eine Anhöhe stehen. Wir nahmen uns immer wieder vor, die Monumentalbauten aufzusuchen und aus der Nähe zu betrachten. Ich schaffte es leider nicht, zu diesen Gedenkorten zu fahren. Wir feierten einfach zu viel. Und das war gut so.
      Den Song “Fight for your Right to Party“ von den Beastie Boys hatte ich direkt am Anfang eines der Tapes aufgenommen. Er befand sich auf einer der Tape-Seiten direkt am Anfang. Wenn wir “Fight for your Right to Party“ hören wollten, brauchten wir das Tape nur zum Anfang von Seite A zurückzuspulen. Wir hörten den Song unzählige Male, gingen mit dem Kasirecorder permanent im Gang des Hostels auf und ab, während der Song lief. Wir bewegten uns in einer Art Hip-Hop-Pogo-Polonaise zum Rhythmus der Beasty Boys. Ähnlich wie auf einem Plattencover der “One Step Beyond“ von Madness. Der Song “Fight for your Right to Party“ brauchte nur zu erschallen, und schon setzten wir uns tanzend in Bewegung. Wir gröhlten den Refrain “You’ve got to fight for your right to pa-a-a-a-rty“, dazu sangen wir bei einigen Zeilen mit, die wir uns gemerkt hatten, “my mom threw away my best porno mag“. Das muss sehr befremdlich auf Zaungäste gewirkt haben, ob im Zug oder im Hostel. Den Song hätte ich mal mit zu der Party bei den Ungarn nehmen sollen anstelle des Cowpunk-Tapes.
      Wir redeten häufig darüber, welche Mitbringsel und Schnäppchen aus Ungarn sich lohnen würden. Ich erwähnte, dass mein Vater mal mit dem Schachclub nach Prag gereist ist, wo er spottbillig ein sehr gutes Schachbrett mit gedrechselten Schachfiguren kaufte, dazu eine große Presswurst die wir später mit der Familie verzehrten.
      Obwohl in Budapest alles ähnlich sozialistisch-spottbillig erschien, mussten wir als Schüler auf unser Geld achten. Noch konnte ich mir einen Kontrabass leisten, denn ich lag mit meinem Guthaben bei etwas mehr als 300 D-Mark. Doch würde ich mir tatsächlich ein solches Instrument kaufen, musste ich die letzten Tage sehr sparsam leben - auch in Bezug auf Zigaretten und Alkohol -, hätte mich von meinen Schulfreunden mit Alkohol und Zigaretten aushalten lassen müssen. Alternativ könnte ich mir statt des Kontrabasses Unmengen an Schnaps und Zigaretten mitnehmen, wie auf einer Butterfahrt, um mein Geld irgendwie auf den Kopf zu hauen. Noch war die Kuh nicht vom Eis, zumal ich in der Schulband spielte und das Musizieren mir Spaß bereitete. Es diskutierten ein paar Leuten darüber, wie ein Kontrabass zu spielen sei, dass das Instrument keine Buntstege besitzt und ein Kontrabassist sich anders orientiere und nach Gefühl greife. Soweit unser Verständnis fürs Kontrabassspielen. Als jemand sagte, ich brauchte auch ein Case oder eine Tasche für den Kontrabass, was auch Geld kostete, schwand bei mir langsam die Hoffnung.
      Am Abend war wieder Party in den Duschen. Viele saßen barfuß im gekachelten Vorraum der Sanitäranlagen, der zugleich Umkleideraum mit Sitzbänken an den Wänden war, jedoch ohne Kleiderhaken darüber. Wir hatten ständig Angst, dass bei dem Rummel eine Weinflasche kaputtgehen könnte. Hier soffen wir stundenlang und diskutierten vor allem über den Sozialismus, Apartheid und unser Paradethema, die Musik-Branche und die Bands, die wir privat am liebsten hörten. Ich machte Werbung für die englische Band The Redskins, die bei diesem Ostblocktrip nicht unerwähnt bleiben durfte. Die Band aus York in Nordengland forderten und förderten mit ihren Songtexten vehement den Sozialismus. Das passte wie die Faust aufs Auge. Ihre LP trug den Titel “Neither Washington Nor Moscow“. Auch das traf den Nerv der Zeit. Allerdings wussten wir zu der Zeit nicht, dass sich die Band The Redskins bereits rund ein Jahr zuvor 1986 aufgelöst hatte.
      An einem weiteren Abend feierten wir auf Wunsch einer Schülerin eine Rocky-Horror-Picture-Show-Party. Sie hatte den gesamten Soundtrack des Musikfilms auf Tape dabei. Auch hier mussten wir immer wieder das Tape zurückspulen, was ein bis zwei Minuten in Anspruch nahm. Auf der Party trugen mehrere Männer Frauenkleidung und hatten Schminke aufgetragen. Mehrere Frauen hatten sich bluntunterlaufene Augen zurechtgeschminkt. Irgendwann zerschlug sich die Party, und es wurde wieder auf den einzelnen Zimmern gefeiert, jedoch zumeist mit offenen Türen. Wir spielten perverse Spiele mit den dünnen Salamis, die Salami vor die Hose haltend und einem anderen vor den Mund hängen, bis dieser von der Salami abbiss. Wir hatten einfach zu viel von den Salamis eingekauft, die wir naschten wie Lakritzstangen. Manchmal wurde die Salami weggezogen, wie bei Anbeißspielen. Auch davon wurden Fotos geschossen. Die Leute hatten permanent entweder eine Flasche Wein in der Hand oder eine Flasche Wodka. Bier wurde fast überhaupt nicht konsumiert. 
      Als Klassenkameradin Anja angeheitert vor mir stand, fing ich an Foto um Foto zu schießen. Ich schoss von ihr innerhalb weniger Minuten bestimmt 15 bis 20 Fotos. Sie freute sich fortwährend, in ihrem dünnen schwarzen Sommerkleid fotografiert zu werden, warf sich sogar leicht in Pose und hielt sich ihr langes, schwarzes Haar nach oben über den Kopf und ließ es Strähne für Strähne herunterfallen - wie in einer Werbung für Haarspray.
      Der Rollstuhlfahrer in unserem Jahrgang war in vielen Situationen auf unsere Hilfe angewiesen. Am Abend der Rocky-Horror-Picture-Show-Party vergaßen wir ihn auf der Toilette. Die Feierlaune und der Alkohol waren stärker als das Verantwortungsgefühl. Der Rollifahrer saß dort fast eine Stunde fest, bis er sich lautstark bemerkbar machte und aus der Situation befreit werden konnte.
      Als die Klassenfahrt sich dem Ende zuneigte, war mir klar, dass das Geld nicht mehr für einen Kontrabass reichen würde. Es war auch besser so, denn wir befürchtete, dass ein solches Instrument gegen die Ausfuhrbestimmungen der sozialistischen Volksrepublik Ungarn verstoßen könnte, und ich an der Grenze zur Kasse gebeten würde. Oder sie würden den Standbass ersatzlos konfiszieren.     
      Als wir schlussendlich mit ein paar Schülern durch Budapest liefen, sah ich plötzlich drei ungarische Punks an einem Denkmal sitzen und saufen. Ich zückte meinen Fotoapparat und schoss aus einem Abstand von circa zehn  Metern ein oder zwei Fotos. Da kam einer der Punks fluchend auf mich zu und beschwerte sich - natürlich auf Ungarisch. Er wollte nicht fotografiert werden. Ich hatte Angst, dass er den Film einfordern könnte. Doch ich checkte schnell, dass er für das Foto lediglich finanziell entschädigt werden wollte, wahrscheinlich um sich den nächsten Umtrunk kaufen zu können. Ich ließ mir das gefallen, zückte gönnerhaft das Portemonnaie und gab ihm einen geringeren Betrag, mit dem er sich zufrieden gab. Es gab keinen weiteren Streit. Der Punk ging zurück zum Denkmal, und wir setzen unseren Weg fort. Das war mir natürlich peinlich. An dem Tag war ich vom Styling zu weit entfernt von Punk, dachte auch gar nicht daran, mich mit den ungarischen Punks zu verbrüdern und mit ihnen zu feiern. Dafür bewegten wir uns zu sehr unter der eigenen Käseglocke. Das mit dem Foto war mir einfach zu peinlich und ich legte das Intermezzo so etwas feindselig aus. Als ich später das Foto entwickelt in der Hand hielt, waren die drei Punks darauf nur sehr klein zu erkennen. Vom Style hätten wir sie mit unseren westdeutschen Standards und Punkverständnis als Pseudo-Punks kategorisiert, was natürlich eine Frechheit ist. Aber so ticken viele aus dem kapitalistischen Westen, selbst ich, der mit Punk schon Erfahrung hatte. Es wirkte arrogant, wie wir uns aufführten. Und so wurden wir auch behandelt, wie arrogante Westeuropäer. Der Ausverkauf aller Werte hatte bereits eingesetzt.
      Vor der Abreise nahm ich mir noch zwei Stangen Camel mit Filter mit. Die schmeckten und rochen eher nach Cabinet als nach Camel. Auch Alkohol wurde als Vorrat für die Fahrt mitgenommen und ein paar von den kleinen Paprikasalamis, die so geil schmeckten, dass ich sie selbst heute als Vegetarier noch einmal essen würde.
      Auf der Rückfahrt waren wir mit der bayerischen Schulklasse in einem Waggon, auch wenn in separaten 6er-Abteilen. Als die Bayern in München den Zug verließen, zog ich das Fenster runter und wollte noch einen Spruch bringen. Einer unserer Lehrer ermahnte mich, die bayerischen Lehrer wegen des Streits zuvor im Hotel nicht erneut anzupöbeln. Ich hielt die Klappe und blieb ruhig, als der betreffende Lehrer seinen Rollkoffer am runtergelassenen  Abteilfenster vorbeischob.
      Während der Rückfahrt schmiedeten einige Schüler bereits erste Pläne, nach dem anstehenden Abi erneut nach Ungarn zu fahren, weil sie entweder an den Plattensee wollten, der auf Ungarisch Balaton heißt, oder um gewonnene Freundschaften der Budapester Partnerklasse zu besuchen. Es sollte jedoch knapp anderthalb Jahre dauern, bis der Eiserne Vorhang endgültig fallen sollte. Als Schüler wurde uns klar das nicht immer die DDR als Vergleichswert herangezogen werden sollte, wenn es um die Beurteilung des Sozialismus ging. Ungarn war bei Weitem nicht so krass wie die DDR. Es war jedenfalls eine angenehme Erfahrung in Budapest, zumal wir nichts mit der Obrigkeit zu tun bekamen. Wir hatten nicht von vornherein Angst, wie es bei  DDR-Besuchen der Fall war, sobald du die Grenzanlagen oder Abfertigungshallen sahst. Deshalb sagten so viele, sie wollten baldmöglichst wieder nach Ungarn reisen. Ein Mitschüler hatte schon kurz nach der Klassenfahrt einen Urlaub am Plattensee in Angriff genommen.
      Wer Fotos geschossen hatte brachte sie später mit zur Schule, und wir schauten sie uns gemeinsam auf dem Pausenhof an. Als Mitschüler Majid meine Fotos sah, sagte er „das sind mit Abstand die besten Fotos der Budapest-Fahrt“. Dabei hatten fast alle einen eigenen Fotoapparat dabei. Da war ich ganz stolz drauf.
      Das Blood on The Saddle Tape war übrigens später verschwunden. Ich bin mir jedoch sicher, dass ich es wieder heil mit nach Kiel gebracht habe.





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