Blei

Kurzgeschichte zum Thema Umwelt/Ökologie

von  Koreapeitsche

      „Sag mal, weißt du, weshalb am kleinen Strand Badeverbot ist?“
      „Da ist kein Badeverbot. Ich gehe da nach wie vor schwimmen."
      „Doch! Da steht ein Schild 'Baden Verboten'. Das hat die Stadt aufgestellt.“
      „Da muss ich nächstes Mal drauf achten, wenn ich wieder schwimmen gehe. Ich bin mir aber sicher, dass da kein Schild steht.“
      „Die meisten übersehen das, weil es mit Graffiti übergeschmiert ist."
      „Das Schild ist bestimmt nicht mehr aktuell. Die haben einfach vergessen, das Schild wegzunehmen.“
      „Nein, das gilt immer noch!“
So ging es schon eine ganze Zeit. Viele Anwohner fragten sich, weshalb dort Badeverbot sei. Einige ignorierten das Schild. Die Stadt gab nur zögerlich und widersprüchlich Auskunft. Auf dem Schild stand:

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Wegen Gesundheitsgefährdung
B A D EN  V E R B O T E N

Landeshauptstadt Kiel
Der Oberbürgermeister
Ordnungsamt
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Zuletzt hieß es, dort würde wegen Straßenbauarbeiten temporär das Wasser aus der Kanalisation eingeleitet. Das ließe sich nicht anders händeln. Wenn die Arbeiten fertig seien, würde auch das Regenwasser aus der Kanalisation nicht mehr eingeleitet. Eingeweihte sagten, dass Badeverbot gelte wegen der Umweltsituation auf der angrenzenden Werft. Greenpeace hatte bereits vor ein paar Jahren das Trockendock besetzt und ein Banner aufgespannt, das ein weltweites Verbot der bleihaltigen Schiffsfarbe forderte.

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„STOPPT DIE VERWENDUNG VON TBT-HALTIGER FARBE WELTWEIT!“
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Die Werftarbeiter waren wütend, denn solche Protestaktionen schafften ein schlechtes Medienecho und gefährdeten die positive Auftragslage. Zu der Zeit rutschte ein neugebauter Doppelhüllentanker nach dem anderen die Helling hinab ins Wasser, frisch getauft und von Schaulustigen beklatscht, die nichts von der fatalen Umweltsituation wussten. Zwischendurch wurden wieder und wieder alte, aber betriebsfähige Schiffe auf Helling und im Trockendock von der Bleifarbe befreit und frische wurde aufgetragen. Und das war der Knackpunkt, denn die abgestrahlte Farbe wurde ins Meer gespült.
      Auch auf der rechten Seite des kleinen Strandes befand sich ein Industriebetrieb, der sogar ein ganzes Stück größer war als die Werft. Im Wasser vor diesem Betrieb sollen Munitionsreste versenkt worden sein. Regelmäßig käme der Räumdienst in Form eines kleinen Marineschiffs, um Teile davon aus dem Wasser zu bergen, was einer Sisyphosarbeit gleicht. Von den Munitionsresten unter Wasser gehe derzeit jedoch keine Gefahr aus, so ein freundlicher Mitarbeiter der Firma. Auch das Umweltministerium argumentierte so, als hätten sie sich mit der Leitung des Industriebetriebs abgesprochen.
      „Du Mamma, da schwimmt ein toter Fisch.“
      „Der hat wohl etwas Giftiges gegessen.“
      „Oder ist der eines natürlichen Todes gestorben?“
      „Das weiß ich nicht. Wir müssen auch langsam nach Hause.“
      Schließlich kam die Hiobsbotschaft: Analysen im Wasser um die Werft herum haben ergeben, dass die Muschelbänke größtenteils abgestorben sind. Filtrierer, wie Muscheln, Schwämme, Korallen und weitere Tiere klassifiziert werden, können sich aufgrund von hoher Bleikonzentration nicht mehr fortpflanzen.
      „Also, ich habe seit frühester Kindheit Hautprobleme, Neurodermitis vor allem!“
      „Warst Du mal damit beim Hautarzt?“
      „Ja, über viele Jahre.“
      „Schmierst Du mit Kortison?“
      „Ja. Viel zu lange schon.“
      „Ich kenne so viele im Stadtteil, die Hautkrankheiten haben. Einige haben eine richtig weiß-gecheckte Haut, wie Milchkühe. Alles Leute, die am kleinen Strand baden waren. Auch einige, die unten am kleinen Strand wohnen.“
      Blei ist ein schädliches Schwermetall, das ab einer bestimmten Konzentration tödlich sein kann und sich im Verlauf der Nahrungskette nicht abbauen lässt. Auch der Chemielehrer gab seinen Senf zu dem Thema dazu.
      „Zum einen heißt es, die lethale Dosis Blei liegt bei oberhalb 10 Gramm. Zum anderen heißt es, bei Erwachsenen liegt die tödliche Dosis Blei bei 1200 mμg pro Liter."
      Ich blätterte extra in ein Lexikon, um herauszufinden was sich hinter der Maßeinheit mμg verbirgt. mμ steht für Mikro und ist der millionste Teil. Das heißt gemäß dieser Definition 1200 millionstel Gramm Blei pro Liter wären für einen erwachsenen Menschen sicher tödlich. Ich verstand nicht, weshalb diese Definitionen so widersprüchlich klangen. Weshalb konnten die nicht ganz altbacken sagen, eine Messerspitze Blei ist in jedem Fall tödlich? Oder eine Prise Blei?
      „Verbieten, verbieten, Du kannst nicht alles verbieten!"
      „Ja, das ist richtig, jedes Segelschiff, das nicht aus Holz oder Plastik ist, verwendet diese TBT-Farbe."
Doch was sollte das Blei auf den Schiffsaußenwänden?
      „An den Schiffsaußenwenden setzten sich Sedimente fest, Algen, Dreck, Muscheln und vieles mehr. Das macht das Schiff nicht nur schwerer, es bremst auch die Geschwindigkeit und kostet Energie. Deshalb müssen die Schiffe alle paar Jahre in die Werft, um die Sedimente entfernen zu lassen. Das geschieht mittels Hochdruckwasserstrahlen, bis die bleihaltige Antifoulingfarbe komplett abgetragen ist. Das ist eine ziemliche Drecksarbeit. Es muss danach neu grundiert und neue Deckfarbe aufgetragen werden. Also kommt die alte Bleifarbe mit den organischen Sedimenten runter, frische Farbe wird aufgetragen. Die blaugraue Farbe nennt sich auch Industriefarbe und wird auch außerhalb der Werften verwendet."
      „Danke, das ist aber schön das mal von einem Insider zu erfahren."
Ein Fernsehteam kam zum Tag der offenen Tür, als ein Schiffsneubau auf der Helling lag. Die waren vom WDR und hatten ein weite Anreise hinter sich. Der Reporter unterhielt sich mit Mitarbeitern und Anwohnern, machte auch Aufnahmen auf der Brücke des Doppelhüllentankers, der für die Seychellen gebaut wurde.
      „Die Reportage läuft nur in NRW."
      „Ok, wann wird die Sendung denn ausgestrahlt?"
      „Das wird wohl erst im Spätherbst sein."
      Die Werftarbeiter erzählten manchmal in der Kneipe oder im Fußballverein von der aktuellen Situation auf der Werft, auch von erwähnenswerten und komischen Zwischenfällen, Arbeitsunfällen und betrieblichen Veränderungen. Nur die Ingenieure hielten sich mit Internas zurück, begrüßten allerdings die offenen Gespräche und waren erfreut. Es hieß, nicht nur den großen Pötten muss alle paar Jahre ein neuer Anstrich verpasst werden. Deshalb liegen manchmal ältere Schiffe auf Helling oder im Trockendock, auch Marineschiffe, Zwei- und sogar Dreimaster. Dabei wird die alte Farbe und die festgesetzten Sedimente wie Muscheln und Algen mit Hochdruckstrahlern abgestrahlt. Am Ende wird das Trockendock geflutet oder die Helling abgespült, und die bleihaltige Farbe, die Antifoulingfarbe, gelangt ins Wasser.
      „Warum wird die abgestrahlte Farbe nicht als Sondermüll behandelt und separat entsorgt?“
fragte ein junger Mann.
      „Dann wäre die Werft schon längst pleite“
sagte der Werftarbeiter Hannis.
      „Alles klar!“
      „Wenn jemand alles klar sagt, dann ist meistens nicht alles klar.“
      „Ok!“



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (16.10.24, 23:49)
Das ist ein interessante Geschichte, ein gar nicht so kleines, aber kaum bekanntes Problem.

 Koreapeitsche meinte dazu am 17.10.24 um 10:33:
Küstenbewohnern ist das Problem durchaus bekannt. Häufig berufen sich Insider darauf, dass Alleingänge nichts bringen und die TBT-Farbe nur über die EU aus dem Verkehr gezogen werden kann.

 Gabyi antwortete darauf am 17.10.24 um 11:03:
Hatte in meiner Familie Personen mit Bleivergiftungen gehabt (Bleifarbe, Bleilettern). Habe auch mehrere Texte über Blei verfasst. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts war bei uns das Benzin noch verbleit. In USA nicht mehr.
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