Wir bauen uns eine Lambrusco-Bombe
Kurzgeschichte
von Koreapeitsche
Sommer, Sonne, Hitze, Zucker, Lambrusco und hochrote Köpfe – das war unser Motto in diesem Sommer. So konnten wir stundenlang am Strand dösen und unseren Sonnenbrand erst nachträglich verarzten. Da war es angenehmer, am Strand die Punk-T-Shirts und die Hosen anzubehalten und nur die Boots beiseitezustellen, wenn überhaupt. Die Empörung der anderen Strandbesucher war indes groß. Sobald die Leute sahen, dass bei uns die 2-Liter-Pulle Lambrusco rumgereicht wurde, galten wir als asozial.
Wir waren zwar keine Noli-Brüder, jedoch waren Hecker und ich Lambrusco-Brüder, ja sogar Lambruscokomasaufbrüder. Lambrusco mit Zucker war eins der großen Trendgetränke unserer Teenage Punk Zeit. Diese Mischung knallte mega, und war für uns der Schlüssel zum Komasaufen. Komasaufen gehörte für uns zur Mann-Werdung dazu. Auch wenn ich in meinem Leben nur vielleicht zehn Zweiliterflaschen Lambrusco trank, es reichte, dass ich einfüralleMal die Lust daran verlor. Ein ähnliches Übersättigungsgefühl erreichten wir mit Berentzen Appelkorn und schlussendlich mit Muscato-Schaumwein.
Bei Lambrusco mit Zucker gab es jedes Mal eine Sauerei, und die Gesundheit wurde temporär in Mitleidenschaft gezogen, vielleicht sogar langfristig, denn der Zuckerkick war unberechenbar. Schon das Anmischen der Lambrusco-Zucker-Lösung war eine klebrige Angelegenheit. Wir tranken erst einen kleinen Schluck aus der Lambrusco-Flasche ab. Aufgrund der Größe und des Gewichts konnten wir die Pulle nur schwer festhalten. Das Kilo Zucker wurde geöffnet und aus der Verpackung eine kleine Einfüllrinne zurechtgefalzt. Im Idealfall lief der Zucker wie an einem Faden in den Flaschenhals, bis die Flasche wieder voll war. Dies erforderte höchste Konzentration. Daraufhin wurde die Verschlusskappe zugedreht und die Buttel mehrmals auf den Kopf gedreht, bis der Zucker nach unten rieselte und sich besser auflöste. Die Flasche wurde erneut geö ffnet und wieder nur wenige Schlucke abgetrunken, bis weiterer Zucker nachgefüllt werden konnte. So ging es immer weiter. Allerdings verklebte bald die Öffnung des Flaschenhalses. Wir formten mit der halboffenen Faust der linken Hand einen Trichter, um den Zucker besser einfüllen zu können. Mit dem rechten Zeigefinger wurde der Zucker vom „Brunnen“ aus Daumen und Zeigefinger ins „Loch“ gestupst.
Wir waren meist schon voll, bevor der gesamte Zucker eingefüllt, geschweige denn aufgelöst war. Manchmal warfen wir den restlichen Zucker einfach weg oder leerten ihn in den Strandsand. Inzwischen klebte alles, unsere Finger, Mund, Kinn und Wangen, Unterarme, die Flasche, Kleidung, Boden, die Boots, Haare, einfach alles.
Der Lambrusco war inzwischen dermaßen mit Zucker versetzt, dass der Strandsand sofort verklumpte, wenn etwas Lambrusco daneben kleckerte. Und das soll schon was heißen.
Auf dem Grund der Flasche befand sich immer noch eine fast 10 cm Schicht halbaufgelöster Zucker. Bei der Hitze wirkte das wie eine Mischung aus Feuerzangenbowle und übersüßter Fruchtbohle, aus der die Früchte rausgesammelt waren. Spätestens zum Ende hin kamen die ersten Beschwerden.
„Das kannst du ja langsam nicht mehr trinken.“
„Äh, ist das süß!“
„Alles klebt!“
„Kipp den Rest weg! Das gibt nur Karies.“
„Nix!“
Seltsamerweise kamen wir fast ausschließlich im Hochsommer bei knallender Sonne auf die Idee, eine Lambrusco-Bombe zu trinken. Die Entscheidung für Lambrusco fiel teilweise erst auf dem Weg zum Supermarkt oder sogar erst in der Getränkeabteilung.
„Oh, geil. Lambrusco!“
„Sind das 1,5 oder 2 Liter?“
„Das sind 2 Liter.“
„Geil. Eine nehmen wir mit.“
Der Preis der 2-Liter-Flaschen war rekordverdächtig. Problematisch war, dass die Flasche nur schwer zu halten war und gerne mal umkippte. Deshalb lief sie eher als Bierflaschen Gefahr zersmasht zu werden. Tranken wir ab, ohne zu schütteln, hatten wir knirschenden Zucker in der Fresse. Also das Schütteln nicht vergessen.
Bald konnten wir Zucker- und Sandkörner nicht mehr unterscheiden. Gerade in der knallenden Sonne fing der Kopf schnell an zu glühen und die Haut juckte. Wenn der Lambrusco warm war, löste sich der Zucker nicht nur besser auf. Koma-Effekte wurden multipliziert – für Jugendliche mit wenig Geld die ideale Mischung.
An einem Nachmittag knallten Hecker und ich uns direkt nach der Schule oben am Penny-Markt eine 2-Literflasche Lambrusco mit Zucker rein. Oben an der Kreuzung direkt vor der Fußgängerampel stand eine Bank unter einer hochgewachsenen Kastanie. Wir gingen vom Penny-Eingang rund zwanzig Meter zu der Parkbank und ließen uns dort nieder. Hier mischten wir unter den Augen der Öffentlichkeit und der vorbeifahrenden Schulbusse unsere Lambrusco-Bombe, was ein erschreckendes Bild abgegeben haben muss, zumal unsere Schulranzen gesittet neben uns auf der Bank standen.
An diesem exponierten Ort ließen sich Wortgefechte mit Passanten schwer vermeiden. Trotzdem konnten wir hier herrlich abschalten. Wir verließen die „Lambruso-Bank erst, als die zwei Liter Billigwein plus ein Kilogramm Zucker geköpft waren. Wir hatten da längst hochrote Gesichter, als drohte die Birne zu explodieren. Die leere 2-Literflasche blieb einsam auf dem Bürgersteig zurück. Unsere Schultaschen brachten wir später sicher und sorgenfrei nach Hause.
Hatten wir einmal zwei Pullen Lambrusco am Start, konnten wir Brüderschaft trinken, was mit vollen Buddeln ebenfalls krass war. Es war eine Wissenschaft von Gewichtsverlagerung, Schaukeleffekt, Kraftverlagerung, Überschwappen, Überbeineffekt, Balance, Koordination, Antaxierung und Maulsperre. Bei Leptosomen wie uns war dieser Glas-Drahtseilakt fast unmöglich und konnte mit Scherben und einer Weinlache enden, die wie Blut aussah. Den Begriff Leptosom schnappten wir übrigens in der Schule auf. Der Biolehrer hielt ihn für wichtig. Das Wort wurde sogar zum Schimpfwort.