La Lyre Dépravée

Text zum Thema Literatur

von  J.B.W

„La Lyre Dépravée“

von J. B. Weber, 2025


Croix-Rousse, Lyon: Oberhalb lebten noch einige Seidenweber in ihren gutbürgerlichen Ateliers, doch weiter unten ging es wie eh und je ärmer, dreckiger, zugleich aber ungezwungener und turbulenter zu. Er zog den aufgestellten Kragen seines nicht mehr ganz neuen Mantels noch einmal fester ins Gesicht, während er die steilen, schmutzigen Gassen und kleinen Treppchen der Pentes de la Croix-Rousse hinabstieg. Es war elf Uhr abends, die Glocken von Saint-Nizier hatten soeben geschlagen, und in der Dunkelheit spürte er jene ersehnte Freiheit – und zugleich ein wachsendes Gefühl von Verlorenheit. Noch nie war er um diese Stunde so weit von den disziplinierten Mauern seines Internats entfernt gewesen, doch heute trug ihn eine fiebrige Neugier hinaus: Man hatte ihm zugetragen, dass sich hier, in einer Taverne am Rande der Unterstadt, Dichter und Denker zusammenfänden – Männer, die Worte wie Waffen zu führen verständen. Vor einer niedrigen Tür blieb er stehen. „La Lyre Dépravée“ war mit Kreide darauf gekritzelt worden – hier musste es sein. Stimmen und Lachen drangen nach außen. Er drückte die Klinke nieder, und eine Welle aus Rauch, Branntweingeruch und feuchter Wärme schlug ihm entgegen. Drinnen flackerte eine Öllampe über einem Raum, der mehr Schatten als Licht kannte. Männer mit rissigen Händen stießen Krüge zusammen, Frauen in bunten Kleidern, behangen mit billigem Geschmeide lehnten an den Wänden, die Wangen rosig, ihre Gesichter müde, doch mit hellwachen Augen. Pochenden Herzens trat der Junge hastig ein.

Ein dichter, süßlicher Geruch von Haschisch und Opium hing in einer Ecke, wo zwei Gestalten über Pfeifen zusammengesunken waren. Ein Arbeiter sang laut ein Spottlied gegen Gendarmerie und Obrigkeit, worauf Beifall und Gelächter durch den Raum hallten. Der Junge zog die Schultern ein, senkte den Kopf und bewegte sich so unauffällig wie möglich, doch zielsicher auf die Tür am anderen Ende des Raumes zu – dorthin, wo sich im Hinterzimmer der „Verderbten Lyra“ die Dichtertreffen abspielen sollten. Er mied die Blicke der Frauen, Arbeiter, Vaganten und Halsabschneider, die ihn sofort als Fremden erkannt zu haben schienen. Seine Stiefel knirschten auf den schmutzigen Sägespänen, und er spürte, wie ihm Schweiß den Rücken hinunterlief. Dort, im Hinterzimmer, etwa halb so groß wie der Gastraum, fand er sie schließlich: mehrere Männer, manche bärtig und mit wildem Haar, andere etwas zu gepflegt, sitzend über Weingläsern und zerfledderten Manuskriptseiten, einige halb ausgestreckt auf improvisierten Lagern aus Decken und Strohsäcken liegend. Einer stand mittig, las mit glühender Stimme Verse, die von Freiheit und von seiner Verachtung für die Pfaffen sprachen. Sie alle nahmen den Jungen kaum wahr – oder sie taten so, als sei sein Eindringen selbstverständlich. Vielleicht waren sie es gewohnt, dass Unruhige, Neugierige, Suchende zu ihnen fanden – oder es kümmerte sie schlicht nicht. Er huschte durch die Tür, suchte die dunkelste Stelle im Raum, wählte einen der schütter gefüllten Säcke, setzte sich nieder und lehnte den Rücken an die nackte, kühle Wand. Der Junge hatte gerade die ersten Momente seit seinem Betreten der Taverne verarbeitet, den Raum erfasst, sich kurz umgesehen und war wieder einigermaßen Herr seiner Aufmerksamkeit, als der Poet, der eben noch voller Inbrunst seine Verse vorgetragen hatte, mit einer Flasche Rum in der einen und beschriebenen Seiten in der anderen Hand in seine Richtung schwankte. Er ließ sich auf einen Schemel nieder, kaum zwei Meter entfernt. Als der Blick des Jungen dem stimmgewaltigen, doch von der Statur eher kleinen, fast schmächtigen Mann folgte – dessen ausgemergeltes Gesicht und hagerer, von Krankheit gezeichneter Körper ihn älter wirken ließen, dessen wache, blitzende Augen jedoch noch immer von Feuer zeugten –, bemerkte er überrascht, dass zwischen ihnen auf einer Wolldecke ein weiterer, jüngerer Mann lag.

Der Ältere um die Vierzig nahm gut gelaunt einen tiefen Schluck aus der Flasche, stopfte die Manuskriptseiten hastig in die halb geöffnete Weste und wandte sich mit lebhafter Geste an den jungen Mann neben sich: „He!“ Er stieß ihn mit dem Flaschenboden an der Schulter an. Dieser hob nur langsam den Kopf – er lag seitlich, dem Jungen abgewandt. „He, Arthur, hast du überhaupt etwas von meinen neuesten Versen mitbekommen? … Monsieur Rimbaud!“ Der so Angesprochene setzte sich mit Mühe auf, und während dieses langsamen Vorgangs fiel eine noch glimmende Haschischglut aus einem kleinen Messingpfeifchen und kullerte samt diesem und einem kleinen Fläschchen über seine Brust zu Boden. Als Rimbaud schließlich eine halbwegs aufrechte Position erreicht hatte, erwiderte er: „Mon cher Villon, ich gestehe: Der Abend hat mich wohl zu früh und zu heftig gepackt. Ich fürchte, ich habe mich in letzter Zeit mehr der Zerstreuung als den Versen verschrieben. Dein Leben ist im Übermaß reich an echten Abenteuern – nicht immer angenehmer Natur –, und doch, ich habe das Gefühl, die Dichtung hat mir bereits alles gegeben, was sie mir zu geben vermochte.“ Villon, vom Alkohol schon etwas angeheitert, blickte ihn scharf an – aber mit einer Freundlichkeit, die der Junge nach den eben gehörten groben Versen nicht erwartet hätte. „Ach, Arthur … kaum bist du nach Ewigkeiten wieder hier, schon hat dich die Schwermut wieder und du jammerst mir die Ohren voll… “ Villon brach ab, ließ den Blick suchend durch die schummrige Dunkelheit hinter Rimbaud schweifen. Dort, wo der Junge regungslos saß, fand ihn dieser – und er begann zu lachen. „Macht euch die Mühe, euch einmal umzudrehen, mein Monsieur Rimbaud... Dreh dich um, Tagträumer, vielleicht heitert dich der Bengel dort auf. Ich geh pissen – lasst den Jungen so lange was trinken.“ Mit diesen Worten zog Villon einen spröden Korken aus seiner stark abgetragenen Hose, stopfte ihn auf die Flasche, warf sie zwischen Rimbaud und den Jungen und verschwand durch eine kaum zwei Bretter breite Spalte in der hinteren Wand nach draußen. Der Junge folgte ihm kurz mit den Augen, dann wandte er sich wieder Rimbaud zu. Dieser musterte ihn bereits aufmerksam. Die ungewöhnlich hellblauen Augen des Dichters waren so durchdringend, dass der Junge unwillkürlich das Heft in seiner Innentasche festhielt, in dem er seine Skizzen und Gedichte notiert hatte, als wollte er es schützend verbergen. Da Rimbaud nichts von diesen Notizen wissen konnte, deutete er die Bewegung vermutlich anders – oder gar nicht. Er sagte nichts, sondern blickte abwechselnd kurz zu ihm, dann wieder ins Dunkel, in Gedanken verloren. Manchmal huschte der Ansatz eines Lächelns über sein Gesicht, wie eine Erinnerung an einen hellen Moment der Unbeschwertheit, doch insgesamt war seine Ausstrahlung eher von ernster Kühle und distanzierter Fremdheit geprägt als von jener unbeschwerten Leichtigkeit oder gar dem dandyhaften Schimmer, den der Junge sich für einen Dichter seines Alters vorgestellt hatte.

Nach einigen Momenten gegenseitigen, stillen Beobachtens fragte Rimbaud, der zusehends wacher wirkte, den Jungen mit einem Hauch von Unverständnis im Gesicht: „Sagt, Bursche, was treibt euch in diese Spelunke? Ihr passt an diesem Ort so wenig her wie ein Ministrant ins Bordell - einigermaßen deplatziert. Gewiss habt ihr euch Mühe gegeben, euch zu tarnen…“ Er lächelte dabei schelmisch, einen Mundwinkel ein wenig höher ziehend als den anderen, und der Junge erkannte, dass dieser Mann vor einigen Jahren wohl außerordentlich attraktiv gewesen sein musste – und immer noch von einiger Ansehnlichkeit war. „Ich sehe euch heute zum ersten Mal und obwohl dies gewiss euer schlichtester Mantel ist, reicht er nicht aus, um eure gutbürgerliche Herkunft zu verbergen. Ihr fallt hier auf.“ Rimbaud zupfte am Kragen des Jungen, strich mit der Hand über dessen Knie und schob dabei eine Mantelhälfte beiseite. „Und lasst François bloß nicht diese hübschen weißen Kniestrümpfchen sehen, er wird sie lieben! … Wie alt seid ihr, und wie heißt ihr, Bursche?“ Der Junge zog das Bein nicht hastig, sondern bestimmt zurück, holte tief Luft, straffe sich und entgegnete selbstbewusst: „Monsieur Rimbaud, mein Name ist Charles. Wenn Sie mich ‚Charlot‘ nennen wollen oder Bursche, bitte sehr – das ist mir gleich. Ja, ich bin fünfzehn – und ich weiß sehr wohl, wo ich hier bin. Ich kam nicht, um verspottet zu werden, sondern um wahre Verse zu hören, aus der Glut großer Geister geschmiedet – nicht um als Schuljunge verlacht zu werden.“ Rimbaud musterte Charlot mit einem Gesichtsausdruck, den dieser nicht recht deuten konnte. „Nicht übel. Ein wenig steif und etwas gezwungen, aber nicht ohne Feuer und mit Charakter vorgetragen. Gut, Charlot also. Ihr liebt das Wort – oder schreibt selbst?“ Sein Blick glitt zu jener Stelle an Charlots Brust, wo – unter Stoff verborgen – dessen lyrische Versuche ruhten. „Bis jetzt habe ich noch keine verehrungswürdigen Worte vernommen, die ‚Bühne‘ ist schon seit einiger Zeit sträflich verwaist. Ich selbst schreibe auch ab und zu ein paar Verse, doch würde ich mir nicht anmaßen, sie vor großem Publikum vorzutragen oder mich Poet zu nennen – außer vielleicht im Geiste.“ Charlot sprach diese Worte ehrlich; er fühlte sich in diesem stickigen Hinterzimmer und in der Gesellschaft der Männer zunehmend wohler. „Ihr werdet im Laufe des Abends sicher noch einige lyrische Werke oder Prosa hören, die euren Erwartungen gerecht werden. Doch wie ihr vielleicht mitbekommen habt, als ich mit meinem Freund Villon sprach: Ich habe mich gedanklich schon seit einiger Zeit aus den Sphären der sprachgeformten Traumwelten zurückgezogen. Mich zieht es zu wahrhaftigeren Abenteuern in fremde Länder. In nicht allzu ferner Zeit werde ich nach Marseille aufbrechen und von dort weiter zum schwarzen Kontinent reisen. Bis dahin, warum nicht noch ein bisschen Rausch, ein paar Gespräche … und Begegnungen.“ Während er dies sagte, berührte Rimbaud Charlots Knöchel wie zufällig mit dem Handrücken. Charlot reagierte diesmal nicht zurückhaltend wie zuvor, sondern quittierte die Geste nur mit einem sehr scharfen, missbilligenden Blick. Rimbaud zog seine Hand sofort zurück, als wäre er bei einer zu plumpen Annäherung ertappt worden, und schien sich dafür nicht wenig zu schämen.

In diesem Moment stand unvermittelt Villon wieder neben den beiden, zurück bei seinem Schemel. Er sprach mit einem Tonfall, der vermuten ließ, dass er noch eine ganze Salve an schneidenderen Worten und Bemerkungen auf der Zunge hatte: „Sieh an, fühlt Ihr Euch heute in Eure wilden Jahre zurückversetzt? Ha! Arthur, du siehst aus wie in deinen besten Skandaltagen. Nur mit vertauschten Rollen: diesmal bist du Verlaine, und er da ist der jugendliche Bengel, der eure Hand zurück weist. Heißt du nicht zufällig Paul, Kleiner? Das wär’ die reinste Ironie des Himmels.“ Villon nahm einen tiefen Zug aus der frischen Rumflasche, ließ sich auf den Schemel nieder und wollte gerade fortfahren, als Rimbaud mit einem fast versöhnlichen Einschreiten das Wort ergriff: „Nein, keineswegs, mon cher. Der junge Mann hier ist Charlot…“ Er wies mit einer Handbewegung auf den Jungen, wandte sich dann an diesen und deutete mit einem kurzen, beinahe spöttischen Abwinken auf Villon: „… und dieser ungehobelte, versoffene Vagabund und Meister der Flüche hört auf den Namen François. Ich bin Arthur. Und ja, ich habe einige Zeit mit Paul Verlaine verbracht – einem Dichter – und Villon kann’s nicht lassen, Salz in alte Wunden zu streuen. Villon lachte leise in sich hinein, während in der Mitte des Raumes bereits der nächste Poet auftrat, um seine Wortgewandtheit unter Beweis zu stellen. Für einen Moment kehrte Ruhe ein unter der Dreien, doch nicht für lange. Die Verse des Vortragenden handelten von seiner unerwiderten Liebe zu seiner Base – ein abgenutztes Thema –, und sprachlich fehlte es ihnen an Raffinesse. Zwar blitzten hier und da Momente echter Leidenschaft oder Melancholie auf, doch insgesamt wirkte der Vortrag eher lahm und uninspiriert.

Charlot, Arthur und François schienen in stillschweigender Einigkeit derselben Meinung, bis Villon schließlich laut das Wort ergriff: „Du da – halt’s Maul, du Hanswurst! Ein Harlekin bist du, hässlicher noch als Cyrano, doch leider nicht einmal so begabt wie ein Schluck billigen Weins, den er auf den Boden eines drittklassigen Puffs gespuckt hätte… Ich sagte kein Wort mehr! Oder willst du herausfinden, ob du wenigstens im Kampf etwas mit meinem Geistesbruder gemein hast – jenem, der nicht nur versuchte, die schönsten Worte dafür zu finden, dass er seiner Cousine am liebsten ein Balg in den Bauch gesetzt hätte? Geh heim zu deinem holden Trümmerhaufen und wein ihr ins Mieder du jämmerlicher Hund!“ Das bleiche, leicht zitternde Männchen auf dem Teppich raffte seine Blätter zusammen und verschwand wortlos in Richtung des Schankraums. François drehte sich zurück zu seinen beiden Gefährten, als wäre eben nichts geschehen, und eröffnete mit völlig verändertem Tonfall ein neues Gespräch: „Von dir wissen wir ja, dass du dir gerade eine schöpferische Pause gönnst, Arthur. Aber was ist mit dir, Charlot? Willst du nicht etwas zum Besten geben – etwas Anrüchiges vielleicht? Lies doch was vor, was ein bisschen stinkt!“ Villon lachte. „Damit ich von eurer überaus elaborierten Kritik und der Weisheit profitiere, die euch euer Alter, eure harten Lebensumstände, eure Entbehrungen und Schicksalswendungen gelehrt haben?“ entgegnete Charlot mit scheinbar schlagfertiger Ironie. Villon wurde plötzlich still. Rimbaud verdrehte die Augen, hob sein Pfeifchen vom Boden auf, stopfte es mit etwas aus seiner Jackentasche, lehnte sich dichter an die Wand und stieß kurz darauf dichte Schwaden scharf riechenden Rauchs aus.

„Ich schreibe es dem Überschwang des Augenblicks, eurer Jugend und eurem vermutlich immer behüteten Leben zu. Ihr habt Courage, junger Charlot – keine Haare am Sack, aber Courage. Lasst mich euch zur Belohnung etwas Gutes tun … Denise, Isabell, kommt her! Hattet ihr schon mal zwei Frauen? Oder eine von hinten, während sie die andere leckt?“ Villon blickte kurz zur Tür, dann zurück zu Charlot. Doch der Junge, dem der symbolische Ölzweig, der ihm gereicht wurde, entging, antwortete ungerührt: „In der Tat bin ich jung an Jahren, und habe in manchem Bereich wenig Erfahrung. Ich bin stets fasziniert von der Welt der Dichter und Poeten – auch der der Halunken und Vaganten. Ich danke euch für das Angebot, mich gleich zwei euch bekannten Damen vorzustellen, doch muss ich ablehnen. Ich bin müde, und mir ist nicht nach Grobheiten, vielleicht seid Ihr mir auch grade nur zu derb für meine aktuelle Stimmung. Ich werde …“ Charlot hatte den Satz kaum begonnen, da war Villon bereits mit einem Satz – über Rimbauds Beine hinweg, durch die dichten Rauchschwaden hindurch – vor ihm. In einer fließenden Bewegung packte er den Jungen am Kragen, zog behände sein Messer aus dem Gürtel und im nächsten Augenblick blitzte die Klinge an Charlots Hals. Rimbaud verdrehte nur die Augen und seufzte. „Du wirst vielleicht den nächsten Morgen noch erleben – wenn ich es dir erlaube, Bürschlein. Du kommst wohl aus gutem Hause, mit deinen weißen Strümpfchen, den sauberen Schuhen ohne Löcher, den zarten Händen und deinem Lehrermaul. Aber hier bist du in meiner Hölle. Und wie dein kleiner Samtarsch vielleicht schon spürt, ist er in diesem Etablissement nicht länger willkommen. Also verpiss dich, du vorlautes Bübchen, bevor ich dir erst die Zunge raus schneide, dein blasse Gesichtchen eintreten und dich dann stumm, entstellt und nicht wiederzuerkennen als Lustknaben für ein paar Centimes an irgendeinen sadistischen alten Bock verkaufe, der dich zu Brei reitet, bis der letzte Funke Lebenswille aus deinen Augen gewichen ist.“

Niemand sagte ein Wort. Charlot riss sich los – sichtlich erschüttert, doch auch wachgerüttelt –, bahnte sich energisch seinen Weg durch die Menge und stürmte hinaus in die Nacht. Villon ließ sich zurück auf seinen Schemel fallen, sackte in sich zusammen und nahm einen tiefen Zug aus der Rumflasche. Rimbaud klopfte die Pfeife an seinem Stiefel aus, sah ihn an und schüttelte kaum merklich den Kopf. Villon bot nun ein ungewohntes Bild: seine Augen wurden glasig, nicht vom Alkohol, sondern von Tränen. Ohne Pathos, ohne Maske sprach er mit fast zitternder Stimme, seine Haltung verriet seine körperliche Erschöpfung: „Ich kann nicht anders. Schon immer wurde ich verehrt und angespien, und nie konnten sich die feinen Damen und Herren ausmalen, wie es ist, im Dreck der Gosse zu leben. Wie es ist, der Spielball des Wohlgefallens eines korrupten Richters zu sein, der am Abend zuvor meine Lieblingshure grün und blau geschlagen hat, ihr den Lohn schuldig blieb – und man weiß nicht, ob man wegen eines halben, verschimmelten Brotes im Kerker verfaulen wird, weil der hohe, ehrbare Herr mit den Diensten nicht zufrieden war. Der Junge kann nichts dafür, ich weiß es. Ja, ich weiß, mein Monsieur Rimbaud – sagt nichts. Seit jeher werde ich von dem Feuer der Poesie in meiner Brust nur am Leben gehalten. Ohne Verse … ohne Verse wäre ich nur ein alter Säufer und Gauner. Ich könnte jetzt sterben, und es würd’ keiner merken.“ Er kippte den Rest aus der Flasche hinunter. „Es kümmert sowieso niemanden. Wer verreckt, ist gleichgültig. Bei den Reichen wird nur etwas mehr Theater drum gemacht. Ach Arthur … ich geh pissen.“ Mit diesen Worten verschwand Villon. Rimbaud sollte ihn an diesem Abend nicht mehr sehen – und nie wieder in seinem Leben.

Wenig überrascht vom Ausbruch Villons, sehr wohl aber vom Ausmaß an Selbstreflexion, in Anbetracht des Zustandes seines Freundes, sah Rimbaud ziellos im Raum umher. Inmitten der mit Schweiß, Schnaps und Spucke getränkten Sägespäne, kaum einen Meter entfernt, stach ihm ein in Leder gebundenes Notizheft ins Auge. Er hob es auf, blätterte darin – zugegeben, aus reiner Neugier –, denn es konnte nur Charlot gehören. Er las einige Zeilen, dann einen ganzen Text. Schließlich stieß er auf eine seltsam schraffierte Seite: Charlot hatte einen Vers von einer Holzfläche abgepaust und daneben transkribiert – seinen Vers. Arthur hatte ihn in Paris geschrieben, als er selbst in Charlots Alter gewesen war, und wenig später sollte er – in abgewandelter Form – Teil eines seiner bekanntesten Werke werden: „Wenn es ein Wasser gibt, nach dem ich mich je sehne, dann ist es nicht die Seine, sondern die kleine, unscheinbare Pfütze, auf der ein Kind sein Schiffchen, zart wie Maienfalter, treiben lässt …“ Unterschrieben hatte er ihn damals nur mit „R.“. Als er seine eigenen Worte wieder las, stiegen Erinnerungen und Gefühle in ihm auf – schöne und schmerzliche gleichermaßen. Lange blieb er noch sitzen, sinnierte über den Abend, über sich selbst, über den Jungen. Er blätterte noch etwas weiter und fand schließlich auf der ersten Seite Charlots Namen und Adresse: „Charles Baudelaire, Internat des Collège Royal, 4 - 6, rue d’Auvergne, Lyon.“ Rimbaud fasste einen Entschluss und zog einen Bleistift aus seiner Westentasche. Er schrieb auf die erste freie Seite eine kurze Nachricht an den jungen Poeten: „Du schnupperst noch an den Parfümflakons deiner Vorbilder, Charlot. Deine Verse starren – sie wollen schon Gift sein, sind aber noch Zuckerkügelchen mit Ruß. Ich erkenne schon den Keim der Krankheit: du hast das Auge für den Abgrund. Geh weiter – zerreiß die Metrik, spuck das Latein aus, trink den Dreck der Straße. Dein Spleen ist erst der Anfang! Du, Baudelaire, du wirst die Städte mit Moder füllen, du wirst im Verfall glänzen. Stoße die Engel von der Kanzel, schneide dir die Augen auf, damit du siehst und erkennst. Ich verlasse die Sprache, aber du wirst die Sprache selbst fiebrig machen. Dein Name wird bleiben, meiner wird sich verlieren in Hitze, Staub und Sand.“ Als Rimbaud die Taverne schließlich verließ, war die Sonne bereits aufgegangen. Er lenkte seine Schritte direkt zum Postamt, übergab dem Boten das Notizheft mit der Bitte um Rückgabe und gab ein paar Münzen dazu.

Arthur Rimbaud blieb nur noch wenige Wochen in Lyon. Nachdem er die letzten Vorbereitungen getroffen hatte, packte er seine Habseligkeiten zusammen und machte sich auf den Weg zum Gare de Lyon-Perrache – auf nach Marseille, hinein in ein neues, abenteuerlicheres, vielleicht „echteres“ Leben in Afrika.



- FIN -




Anmerkung von J.B.W:

Musste zwischendurch noch das Bad etwas renovieren, deshalb hat es etwas länger gedauert mit dem Text. Sorry ✌🏻

LG
Janosch

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Kommentare zu diesem Text


 Saudade (13.09.25, 11:15)
Na gut, das hat ja schon schwerste literarische Qualität in englischer/irischer Tradition. Der Anfang erinnerte mich an Julian Green und kaum gedacht, war ich bei Joyce. Obwohl es in Frankreich spielt, wäre es besser in Dublin aufgehoben, die Franzosen schreiben etwas anders, mehr ins Psychologische gehend, während die Engländer das Außen nach innen ziehen. Großartiges Talent haben wir hier, gerne gelesen.

 J.B.W meinte dazu am 13.09.25 um 11:39:
Ja, eh *Hust* vielen Dank 😅
Da ich tatsächlich schon lange keine Franzosen mehr wirklich intensiv gelesen habe, hab ich auch garnicht erst versucht da stilistisch irgendetwas nachzuempfinden (abgesehen von der wörtlichen Rede der jeweiligen Protagonisten in dem gegebenen Lebensabschnitt), sehr treffend erkannt 😅, aber dann auch mit englisch/irischer Tradition  und den Schöpfern von Werken der Weltliteratur wie "Leviathan" oder "Ulysses" um die Ecke zu kommen... 😱🫣😶‍🌫️

... Ich bin etwas überfordert von der Kritik und verunsichert muss ich gestehen, vielen lieben Dank 🙃

 Saudade antwortete darauf am 13.09.25 um 11:44:
Brauchst du nicht, Ehre, wem Ehre gebührt. Du ziehst den Leser in die Umgebung hinein, es ist wie ein Sog, so steht man selbst im Nebel, riecht das Haschisch und den Whiskey, der Geruch ist scharf und regt die Schleimhäute an. Absolut phantastisch. Jedoch, ich gebe dir zu bedenken, zu viel Umgebung lenkt vom Inhalt ab, so hört man auf zu lesen und hat mehr das Interieur im Kopf als das Geschehen. Dies nur als subjektives Leseempfinden. Keine Kritik.
P.S. Bei Julian war ich eher bei "Treibgut", Anfangsszene.

Antwort geändert am 13.09.2025 um 11:46 Uhr

 J.B.W schrieb daraufhin am 13.09.25 um 12:16:
Danke für den Hinweis, auch ruhig als Kritik (Kritik ist ja, entgegen der landläufigen Auffassung, weder negativ noch positiv per se) 🙂.
Ich hab versucht einen Kontrast zwischen intensiver Umgebung (vor allem im Erleben des jungen Baudelaire) und der persönlichen Auseinandersetzung (durch die persönliche Rede und der Eintrag im Heft = Haupthandlung) zu erzeugen. Es sollte der Eindruck von den unterschiedlichen Stadien der Dichter herausgearbeitet werden, auch durch ihr Verhalten innerhalb dieser dichten Umgebung und ihrem Umgang damit. Du hast aber vollkommen Recht, etwas mehr Gewichtung auf die Handlung, z. B. noch zwei Sätze zum inneren Prozess von Baudelaire nach Verlassen der Taverne etc., wären wahrscheinlich nicht schlecht gewesen 🤔 - ich war auch froh endlich fertig zu sein muss ich zugeben 😂😅...

"Treibgut" hab ich spontan nicht im Kopf, werde ich nachlesen, vielen Dank ✌🏻

LG
Janosch

 Saudade äußerte darauf am 13.09.25 um 12:42:
Ja, das kenne ich. Ich bin ein Impulsmensch, für mich ist mein Shakespeare eine Geduldsübung schlechthin. Ich bewundere Menschen, die ganze Bücher schreiben.

 J.B.W ergänzte dazu am 13.09.25 um 12:53:
Absolut bewundernswert ist das, vor allem wenn sie es schaffen nirgends ins Schwafeln zu kommen oder, dass selbst seitenlange Ortsbeschreibungen spannend bleiben und so dann auf ihre 200 oder 450 Seiten kommen 😅😉

 Saudade meinte dazu am 13.09.25 um 13:51:
😂😂😂Ich mag das. Lese es echt gern, aber will so nicht schreiben.

 J.B.W meinte dazu am 13.09.25 um 15:15:
Das ist genau das Problem, ich würde es mir tatsächlich zutrauen ein Buch zu schreiben, also was Story, Figuren, Sprache und die Schreibarbeit angeht, aber Spaß hätte ich daran langfristig wohl nur, wenn ich es mir erlauben könnte mich dafür zwei Jahre lang in eine luxuriös ausgestattete Hütte einzuschließen und ich mir um sonst absolut nichts Gedanken machen müsste. Da das leider utopisch ist bleibt es vorerst bei kleinen Geschichten und Texten kleineren Formats 😅.
Vor allem stell ich mir grade die Phase von der fertigen Rohversion bis zum fertigen Buch vor, gepaart mit ausuferndem Perfektionismus auf Grund der bereits investierten Zeit... Ja, Sorry lieber Verleger, dauert dann nochma ein Jahr 😂😂😂

Antwort geändert am 13.09.2025 um 15:17 Uhr
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