Der Zug der Linie 3 zur Haltestelle „Villiers“, Nähe Boulevard Haussmann

Text zum Thema Literatur

von  J.B.W

Der Zug, Linie 3 zur Haltestelle „Villiers“, Nähe Boulevard Haussmann

von J. B. Weber, 2025



An einem kleinen Bahnhof, etwas außerhalb von Paris, sitzen zwei Bekannte auf einer Bank und warten auf den Zug zurück ins Zentrum.

Eine späte Nachmittagssonne fällt auf die beiden Männer. Marcel Proust und Albert Camus sitzen nebeneinander, jeder mit einem leichten Ausdruck von Ungeduld, während ein schwacher Wind über die Gleise streicht.

Camus schaut auf die große Uhr über dem Bahnsteig, nimmt - nur Momente später - seine Taschenuhr hervor, kontrolliert wieder die Uhrzeit und steckt sie zurück in seine Westentasche. Er seufzt kurz und legt seine Hand von außen auf die andere Tasche; darin ist das Klimpern eines kleinen Schlüsselbundes zu hören. Er tippt, mit seinen Fingern leicht trommelnd, auf eine neben ihm liegende lederne Mappe: „Wenigstens komme ich so oder so noch in die Redaktion.“

Eine ältere Frau mit krausen Haaren geht, etwas atemlos, an der Bank vorbei und wendet sich währenddessen den beiden zu: „Entschuldigen Sie, meine Herren, ich muss Ihnen mitteilen … alle weiteren Züge heute fallen aus. Bestimmt auch der, auf den Sie warten.“

Proust schreckt leicht auf. Seine Hände sind ineinander verschränkt, die Augen weiterhin nachdenklich in die Ferne gerichtet. Dann sagt er: „Aha … also ist selbst der Ablauf der Zeit hier an diesem kleinen Bahnhof, an dieser merkwürdigen Haltestelle der Existenz, unterbrochen, eingefroren wie an jenen seltsamen Sommertagen meiner Kindheit, an die man sich erinnert und die doch nie ganz wirklich waren. Ich frage mich … ob diese Dame die Wahrheit sagt, oder ob ihr Bericht, wie vieles, was uns begegnet, durch den Schleier des subjektiven Gedächtnisses gefiltert ist …“

Camus lächelt ruhig und erwidert: „Marcel, wir können lange über die Wahrheit ihrer Worte spekulieren, aber es ändert nichts daran, dass wir hier auf der Bank sitzen und dass der Zug wohl nicht kommt. Die Frage ist nicht, ob sie lügt – sondern ob wir bereit sind, die Situation zu akzeptieren, ohne uns in Illusionen zu verlieren …“

Er will noch weiter sprechen, doch Proust unterbricht ihn, ganz wie es oft die Art der Juristen ist: „Akzeptieren … ja, vielleicht. Aber ich kann nicht anders, als mir vorzustellen, wie wir die Stunden hier verbringen werden: jede Minute wie ein Tropfen in einem Meer von Zeit, das sich in unserem Innern spiegelt. Ich wäre fast geneigt, den weiteren Verlauf des Tages minutiös zu beobachten: die Menschen, die Geräusche, die Farben – und das alles nehme ich dann mit mir in mein Appartement, sollte ich es vor der Nacht noch wiedersehen.“

Camus legt die Hände auf seine Knie, setzt sich leicht auf und entgegnet, nachdem die alte Frau nicht mehr zu sehen ist: „Ich sehe nur einen leeren Bahnsteig und eine Entscheidung: bleiben oder gehen. Die Details sind … nebensächlich. Das Leben erzählt uns von Zügen, die nicht kommen. Wir können lachen, weinen oder einfach aufstehen. Es ist absurd, und genau das ist zwar interessant, aber in die Redaktion muss ich trotzdem.“

Proust schmunzelt und sagt dann in einem leicht ironischen Ton, so als wollte er die Distanz zur nackten Realität wieder überbrücken: „Interessant … ja, das könnte man sagen. Doch wie soll man da lachen, wenn der Augenblick selbst, in seiner Flüchtigkeit, schon durch die Unwägbarkeiten anderer Menschen oder – schlimmer noch – durch die Interpretation der Zeit selbst verzerrt wird?“

Camus lacht kurz laut auf, etwas lauter, als er es wohl eigentlich vorhatte, und entgegnet dann leicht spöttisch: „Dann lachen wir eben über die Verzerrung, Marcel. Oder wir setzen uns, trinken einen Kaffee oder Tee und schreiben unser eigenes absurdes Stück über einen Bahnhof, eine alte Dame und zwei Männer, die auf Züge warten, die niemals kommen. Einfach. Klar. Wahr.“

Proust nickt kaum merklich, wieder mehr und mehr in Gedanken vertieft, und murmelt in sich hinein, während er die Bewegungen eines Bahnbediensteten in einiger Entfernung verfolgt, der augenscheinlich einen Streckenabschnitt kontrolliert: „Wahr … ja, vielleicht. Doch immer noch gefiltert durch das, was wir erinnern, was wir fühlen … und was wir uns einbilden.“

Camus verdreht kurz die Augen, lehnt sich dann zurück, die Abendsonne im Gesicht: „Dann sitzen wir jetzt also weiter hier, in der vollen Klarheit des Absurden. Und warten … auf nichts, oder warten bewusst nicht?“

Proust antwortet nicht und beobachtet weiter den Bahnangestellten. Als Camus nach zwei oder drei Minuten seine Ledermappe von der Bank aufnimmt, sie sich unter den Arm klemmt und gerade Anstalten macht aufzustehen, spürt er die Hand von Proust, die ihn an seinem Ärmel festhält und daran hindert.

Er schaut seinen Bekannten verwirrt an, der ihn anlächelt und mit einer Kopfbewegung in Richtung Gleise deutet.

Begleitet von einem Pfeifen sieht Camus in einiger Entfernung den verspäteten Zug der Linie 3 Richtung Pariser Innenstadt nahen. Beide lächeln, erheben sich und stellen sich an den Bahnsteig.




Anmerkung von J.B.W:

Hier der angekündigte, bescheidene Versuch: 
Die Schilderung eines fiktiven Treffens von Camus und Proust... 😅✌🏻

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (23.08.25, 14:38)
Das ist fein geschrieben! Ein kleines Meisterwerk mit guter Einfühlung in die beiden unterschiedlichen Geister. Das Ergebnis: absurd, ein lächelnder Proust.

 J.B.W meinte dazu am 23.08.25 um 14:46:
Danke, danke... Ich fand den Gedanken amüsant, dass Proust selbst vielleicht davon überrascht gewesen wäre, Spaß an der Situation und an Camus Umgang mit seiner Art gehabt zu haben.
Ist eventuell etwas frevlerisch, aber im ersten Moment hatte ich die beiden älteren Herren von den Muppets vor Augen - von der Dynamik her 😅.

LG
Janosch

 Saudade (23.08.25, 16:42)
Ich bin, ehrlich gesagt, auf der Suche nach den verlorenen Worten. Bis auf die "große Uhr über dem Gleis" - Uhren sind niemals über einem Gleis- ein minimale Kleinigkeit, gleich behoben, und die Spitzfindigkeit über Juristen - *räusper* - ja, das tun sie tatsächlich, gut beobachtet, ist das ein kleines Meisterwerk. Lass dir gleich gesagt sein, dass viele diese köstliche Madeleine des Fremden auf dem Strand  verspeisen werden, jedoch schweigen werden. Diese Sprachlosigkeit ist jedoch bewundernder, ja, neidvoller Natur.

 J.B.W antwortete darauf am 23.08.25 um 17:46:
Vielen Dank, kleine Änderungen wurden durchgeführt...
Das mit dem Uhren Vergleich habe ich nicht übernommen, da ich nicht ausdrücken wollte, dass er der Bahnhofsuhr misstraut sondern der Tatsache, dass der Zug Verspätung hat, obwohl es im grade so unpassend ist 😌. Warum? Keine Ahnung, ich möchte es eben so 😅...

Danke für deine Kritik 🙂, mit Titeln wie "Meisterwerk" wäre ich vorsichtig, auch wenn mich das sehr ehrt und wenigstens noch ein "kleines" davor gesetzt wurde 🤣😅.
Vielen Dank ✌🏻
Rimbaud-Villon ist in Arbeit 😉

LG
Janosch

Antwort geändert am 23.08.2025 um 17:46 Uhr

 eiskimo (23.08.25, 22:03)
Sehr schön zwei Sichtweisen des Lebens in Kontrast gesetzt. Die zwei Interpreten Proust und Camus müssen sich bzw. ihre Sichtweisen  in einer Alltagssituation beweisen - auch das sehr gelungen. Und die Ortswahl "Bahnhof" ist perfekt, da ebenso zeitlos wie absurd...
Bravo!

 J.B.W schrieb daraufhin am 23.08.25 um 23:02:
Vielen lieben Dank. 

Lg
Janosch

 hehnerdreck (24.08.25, 00:16)
Schöne Idee und erstaunlich gut umgesetzt, finde ich.

LG
Zur Zeit online: