Da ist ein Kalziumatom

Zitat

von  Hannes

Zitat des Tages
Da ist ein Kalziumatom in meinen Knochen, das in einem der ersten Gestirne eine halbe Jahrmilliarde nach dem Urknall entstand und durch die Evolution dieses Sterns äonenlang im Weltraum trieb, bevor es von einer Gaswolke angezogen wurde, die zu einer neuen Sonne zusammenfiel, welche erneut explodierte: Ein Zyklus, der sich mehrmals wiederholte, bis dieses Atom vor fünf Milliarden Jahren von einer glühenden Staubscheibe eingefangen wurde, die sich zur Erde zusammenballte, um darauf Teil des Ozeans, einer Muschelschale, eines Kalkriffs und einer Ackerfurche zu werden, deren Pflanze ich gegessen habe, so dass es sich nun irgendwo in meinem Schlüsselbein oder Knie einlagert, um bald wieder abgebaut zu werden, im Urin ausgeschieden erneut in die Erde überzugehen und mit ihr in weiteren fünf Milliarden Jahren auf die dann nur noch planetengroße, ausgebrannte Sonne zu stürzen
(Raul Schrott. Erste Erde Epos. Hanser München 2016, Seite 22)




Anmerkung von Hannes:

Ich bin beim erstenmal lesen ganz ruhig und andächtig geworden und wünsche das auch allen anderen Lesern.
Mögen auch alle Wichtigtuer, Egozentriker, Schaumschläger, Blender, Prahler und Poser bei
diesen ungewöhnlichen Sätzen von Raul Schrott ins Nachdenken kommen.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (02.10.25, 00:14)
Dazu gibt es eine klassische Variation dieses Themas, die der von Raoul Schrott überlegen sein dürfte:

I.
Immanuel Kant
KRITIK DER PRAKTISCHEN VERNUNFT
(1788)

[...] Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhal-tender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkte im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen. Das zweite erhebt dagegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich, durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart, wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Bestimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, welche nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Lebens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht, abnehmen läßt. [...]

[KpV A 288-290]


II.
Arthur Schopenhauer
DIE WELT ALS WILLE UND VORSTELLUNG (Bd. II)
(1844)

Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: - dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage, auf einer jener zahllosen im gränzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehn, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit: dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkehr der selben, verschiedenen, organischen Formen, mittelst gewisser Wege und Kanäle, die nun ein Mal dasind. Alles was empirische Wissenschaft lehren kann, ist nur die genauere Beschaffenheit und Regel dieser Hergänge.
Da hat nun endlich die Philosophie der neueren Zeit, zumal durch Berkeley und Kant, sich darauf besonnen, daß Jenes alles zunächst doch nur ein Gehirnphänomen und mit so großen, vielen und verschiedenen subjektiven Bedingungen behaftet sei, daß die erwähnte absolute Realität desselben verschwindet und für eine ganz andere Weltordnung Raum läßt, die das jenem Phänomen zum Grunde liegende wäre, d.h. sich dazu verhielte, wie zur bloßen Erscheinung das Ding an sich selbst. [...]

[W II 3 f.]


III.
Friedrich Nietzsche
ÜBER WAHRHEIT UND LÜGE IM AUSSERMORALISCHEN SINN
(1873)

In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. - So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fühlt. Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen. [...]

[KSA I 875 f.]

Kant und Schopenhauer staunen über das Weltall, aus dem wir stammen, sehen jedoch noch eine ganz andere Seite in der Geschichte, die Schrott nicht in Betracht zieht; Nietzsche hingegen
setzt den Menschen noch mehr herab.

 Hannes meinte dazu am 02.10.25 um 17:27:
Χαιρετισμούς, μικρό Ελληνάκι !
Danke für deine ausführlichen Beispiele.
Ich bin jedoch in bildungsfernen Schichten zwischen Arbeitern und Bauern (ja, die gibt's auch in oberbairischen Dörfen) aufgewachsen und hab' nur den mittleren Bildungsabschluss. Schopen und Kantenhauer sind sicherlich sehr schlaue Filosofen (gewesen) , aber deren intellektuellen Sermone sind eher was für das gehobene Bildungsbürgertum.
Nietzsche ist ganz o.k.
Der einzige Philosoph, mit dem wir im Deutschunterricht Kontakt hatten, war Günter Grass (und das war nicht mal einer).
Beeindruckt hat uns im Lesebuch sein Gedicht:
Tour de France
Als die Spitzegruppe
von einem Zitronenfalter 
überholt wurde,
gaben viele Radfahrer das Rennen auf.
Das hat uns lange beschäftigt, nach der Stunde, später im Schwimmbad und ist in unserer Fußballjugend zum geflügelten Wort geworden -z.B. wenn unser kleiner Linksaußen einem größeren Gegenspieler einfach davongerannt ist.-
So stell' ich mir Philosophie für das gemeine Volk vor und deshalb ist mir Raul Schrott auch näher wie  -oder als -
(naja, nur mittlere Reife)  die beiden G'scheidhaferl.
Der
Hannes


 Graeculus antwortete darauf am 03.10.25 um 14:50:
Danke für den Hinweis; ich werde mich bemühen, darauf Rücksicht zu nehmen. Allerdings kann auch ich nur schwer aus meiner Haut heraus.
Raoul Schrott ist übrigens ein bekannter Altphilologe, nämlich Homer-Forscher.

Die Geschichte von Günter Grass ist an sich sehr hübsch; allerdings habe ich mal eine Etappe der Tour de France gesehen (nämlich als sie in Düsseldorf startete) und kann von daher sagen, daß ein Zitronenfalter da keine Chance hätte. Nicht einmal ein Gepard, der ein ausgesprochener Kurzstreckenläufer ist.

 Hannes schrieb daraufhin am 03.10.25 um 21:32:
Danke für deine Bedachtnahme auf meine schlichte Provenienz und Gedankenwelt. Du darfst mich aber ruhig weiter "fordern und fördern" .
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Deine Formulierungen "mal eine Etappe ....gesehen .... in Düsseldorf"  u. "...und kann von daher sagen..." 
beschreibt exakt das stark eingeschränkte Gesichtsfeld auf diese Szene. 
Du hast eine Flachlandetappe gesehen.
Bei der Auffahrt auf den Col du Galibier (17 km Länge bei ⌀ 7% Steigung) schaut die Sache beim letzten Kilometer (10% Steigung) schon ganz anders aus.
Ja, und Zitronenfalter kommen in dieser Höhe (2642 m)
noch vor.
Also
vor dem kommentieren
immer sauber recherchieren.
Der
Hannes
:silly:

 AchterZwerg (02.10.25, 07:32)
Schrott schreibt aus meiner Sicht keineswegs Schrott, sondern so, dass selbst diejenigen, die von den humanistischen Gymnasien vernachlässigt wurden, ansatzweise verstehen, worum es (eigentlich) geht. Oder gehen könnte.  ;)

 Hannes äußerte darauf am 02.10.25 um 17:31:
"Recht so !"
Running-Gag-Zitat von John Cleese in dem Film Clockwise

...und warum "Recht so !" ?
zur Begründung scroll mal rauf zum Graeculus,
dann brauch ich's nicht nochmal schreiben.

Antwort geändert am 02.10.2025 um 18:15 Uhr
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